Im Gespräch mit dem Stadtsoziologen Andrej Holm über Wohnungspolitik in der Pandemie

»Gegen private Gewinninteressen«

In der Pandemie häuften sich die Anträge auf Mietstundung oder Mietaussetzung, dennoch ist die Forderung nach einem Mieterlass für alle, die ihre Miete nicht zahlen können, kaum zu hören. Die Mieten und Kaufpreise für Wohnungen steigen weiter und ob der zu erwartende Leerstand von Bürohäusern durch vermehrtes Homeoffice zu einem gesellschaftlich sinnvolle Umwandlung dieser Immobilien führen wird, steht zu bezweifeln.
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In der Covid-19-Pandemie wurde zum wiederholten Mal das Ende des sogenannten Neoliberalismus ausgerufen. Ist das linkes Wunschdenken oder steckt mehr dahinter? Und wenn ja, was bedeutet das für die Immobilienbranche?

Solche Einschätzungen bezogen sich vor allem auf die Übernahme von ­öffentlicher Verantwortung durch den Staat und das Aussetzen der sogenannten Schuldenbremse zu Beginn der Pandemie. Inzwischen wird klar: Staatliches Handeln hat vorrangig die wirtschaftlichen Interessen im Blick und nimmt mit den jüngsten Lockerungen sogar weitere Gesundheitsrisiken in Kauf. Das Primat des wirtschaftlichen Wachstums ist ungebrochen und Maßnahmen zum Schutz vor steigenden Infektionszahlen werden eher zu Lasten der Bevölkerung als auf Kosten von Wirtschaftsbranchen beschlossen. Die Immobilienwirtschaft ist zumindest mit Blick auf das Vermietungsgeschäft relativ schadlos durch die Krise gekommen. Selbst der zeitweilige Kündigungsschutz wurde durch Zinsansprüche auf die ausgesetzten Mietzahlungen versüßt. Das Ende des Neoliberalismus stelle ich mir anders vor.

Zu Beginn der Pandemie forderten sozialpolitische Initiativen einen Mieterlass für alle, die ihre Miete nicht zahlen können. Warum war davon bislang so wenig zu hören?

Mietrückstände und drohender Wohnungsverlust sind für viele Menschen mit Schamgefühlen verbunden und werden verschleiert sowie verschwiegen. Konkrete Zahlen liegen deshalb nicht vor. Bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin wurden bis Mitte vorigen Jahres über 1 200 Anträge auf Mietstundung beziehungsweise Mietaussetzung gestellt. Hochgerechnet auf alle Mietwohnungen wären das geschätzt über 10 000 Haushalte, die ihre Miete nicht mehr zahlen können. Hinzu kommen etwa 6 000 Haushalte, die in den Monaten seit Beginn der Pandemie soziale Transferleistungen beantragen mussten und nun Kosten der Unterkunft erhalten. Bei zuletzt etwa 6 000 Kündigungen pro Jahr in Berlin sind das erschreckend hohe Zahlen.

Wie sieht es bei den Räumungen aus?

Der zeitweilige Kündigungsschutz in den ersten Monaten der Pandemie hat einen Anstieg von Zwangsräumungen zunächst verhindert. Da die Mietrückstände aber mit Zinsen zurückgezahlt werden sollen, haben wir es hier nur mit einem zeitlichen Aufschub des Problems zu tun. Die Mieterorganisationen fordern völlig zu Recht eine Ausweitung des Kündigungsschutzes und eine Streichung von pandemiebedingten Mietrückständen.

Drohen im Gewerbe und bei Läden durch die Einnahmeausfälle im Lockdown viele Kündigungen und kann das Gewerberecht davor schützen?

Vor allem kleine Läden und Geschäfte, die auf Publikumsverkehr angewiesen sind, geraten durch die Einnahmeverluste in wirtschaftliche Schieflagen. Das Gewerbemietrecht ist da eher gnadenlos: Gewerbetreibende tragen ein sogenanntes Verwendungsrisiko der Mietsache und sind grundsätzlich zur vollen Mietzahlung verpflichtet – unabhängig davon, ob es gerade Einnahmen gibt oder nicht. Nur in Ausnahmefällen gibt es Kulanzangebote von der Vermieterseite; das Gewerbemietrecht selbst bietet keinen Schutz. Wie bei den Wohnungsmieten ist auch im Gewerbebereich mit verzögerten Effekten der Pandemie zu rechnen, weil viele ihre Rücklagen und Angespartes in die laufenden Kosten stecken, um die Läden zu sichern.

Was die Folgen der Pandemie für die Stadtentwicklung angeht, gibt es ­gegensätzliche Erwartungen. Einige schwärmen von neuen radfahrer­gerechten Städten, andere warnen vor der Verödung der Innenstädte. Gibt es dazu Studien?

Ich kenne keine empirisch unterlegten Prognosen. Die Ausnahmen im Insolvenzrecht wurden bis Ende April 2021 verlängert. Wenn diese Regelungen auslaufen, werden wir in den Städten sehen, welche Geschäfte bestehen bleiben. Schon jetzt zeigen Studien, dass es vor allem die Kneipen, Bars, Cafés und kleinen Läden sind, die den Menschen am meisten fehlen, weil sie die Kontaktmöglichkeiten zu anderen sehr stark vermissen.

Könnten der wirtschaftliche Einbruch in der Tourismusbranche und der Trend zur Arbeit im Homeoffice dazu führen, dass Büros, ­Hotels und Airbnb-Apartments bald leer stehen und Geschäftsmodelle der Immobilienwirtschaft in Frage gestellt werden?

Viele Büros, Hotels und Ferienwohnungen stehen ja bereits leer. Ob diese ­Geschäftsbereiche zur alten Normalität zurückkehren werden, ist mehr als fraglich. Schon jetzt gibt es erste Ansätze, die Immobilienverwertung dieser Objekte neu zu ordnen. So hat ein Immobilienkonzern inzwischen angekündigt, Hotels in Berlin in exklusive Wohnapartments umzuwandeln. Das lohnt sich auch, weil die Erstvermietung nach einer solchen Umwandlung nicht unter die Regeln des Mietendeckels fällt.

Auch der Umgang mit leerstehenden Bürobauten zeigt, dass es nur wenig Spielräume für eine gesellschaftlich sinnvolle Umwandlung in leistbare Wohnungen gibt. Neben hohen Umbaukosten verhindern vor allem die bis­herigen Ertragserwartungen eine soziale Nutzung. Eine Umnutzung mit einer Absenkung der Mieterträge wird immobilienwirtschaftlich als Entwertung der Gebäude verbucht und deshalb konsequent vermieden.

Gibt es Anzeichen, dass der Anstieg der Immobilien- und Mietpreise verlangsamt oder sogar umgekehrt werden könnte?

Die Anzahl und der Umsatz beim Verkauf von Grundstücken und Immobilien ist zumindest in Berlin deutlich zurückgegangen. Auf die Kaufpreise hat das bisher keinen Effekt. Auch in anderen Städten und Regionen steigen Miet- und Kaufpreise für Wohnungen weiter. Die Branche selbst rechnet mit einer kurzen Phase der Stagnation und hofft dann auf eine Fortsetzung der bisherigen Preisdynamik.

Einen deutlich größeren Effekt als die Pandemie hatte die Einführung des Mietendeckels in Berlin. Erstmals seit über 15 Jahren waren die durchschnittlichen Angebotsmieten rückläufig. Viele Vermieter verkaufen nun Wohnungen und stellen die Vermietung zurück, so dass die Zahl der Mietangebote auf den Wohnungsportalen deutlich gesunken ist. Ob sich dieser Vermietungsstreik auch fortsetzen wird, wenn die gerichtlichen Entscheidungen zum Mietendeckel gefallen sind, wird sich zeigen.

Am 27. März soll es erneut einen europaweiten Mieteraktionstag geben. Sind in der Pandemie bestimmte Forderungen besonders sinnvoll oder hat sich, was das angeht, durch die Pandemie nichts geändert?

Die Pandemie hat viele Probleme verschärft und die soziale Schieflage deutlich gemacht. Insofern erhalten die Forderungen nach umfassendem Schutz von Mieterinnen und Mietern vor Verdrängung und Mietsteigerungen und die Ausweitung von leistbaren Wohnungen eine größere Dringlichkeit.
Besonders deutlich wird unter den Vorgaben des Lockdowns die Situation von Wohnungslosen. Wenn alle zu Hause bleiben sollen, weil wir dort am besten geschützt sind, ist es skandalös, wenn Wohnungslose auf der Straße oder in überfüllten Unterkünften und Notstellen übernachten müssen. Kurzfristig wäre hier eine Belegung von ­ungenutzten Hotels und langfristig die Vergabe von Wohnungen die beste Lösung.

Könnte das Berliner Volksbegehren »Deutsche Wohnen enteignen« ­einen Aufbruch in der Mietenpolitik darstellen?

Mit dem Mietendeckel wurde erstmals seit Jahrzehnten ein Instrument ein­geführt, das die Gewinne des Vermietungsgeschäfts beschränkt und mit der Kampagne zur Sozialisierung wird sogar die Geschäftsgrundlage der Immobilienspekulation selbst in Frage gestellt. Die Haltung, dass soziale Belange des Wohnens gegen private ­Gewinninteressen durchgesetzt werden müssen, beschränkt sich nicht mehr nur auf politisch besonders Aktive, sondern wird inzwischen von einem ­breiten Bündnis getragen.

 

Andrej Holm arbeitet als Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Herausgeber des sozialwissenschaftlichen Handbuchs »Wohnen zwischen Markt, Staat und Gesellschaft«, das im Januar im VSA-Verlag veröffentlicht wurde.