Halal impfen
Über 33 000 neue Erkrankungen an Covid-19 und über 1 700 Todesfälle pro Tag – das meldeten die indonesischen Behörden in der ersten Augustwoche, nicht zuletzt weil auch dort inzwischen die Delta-Variante des Virus vorherrscht. Der Inselstaat Indonesien ist innerhalb der vergangenen zwei Monate zum neuen Zentrum der globalen Sars-CoV-2-Pandemie geworden. Da die Testkapazitäten unzureichend sind, muss man davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl der Erkrankten weitaus höher liegt.
Seit Beginn des Jahres sind mindestens 102 000 Tote zu beklagen, vor allem in den dichtbesiedelten Teilen der Insel Java. Allerdings ist auch diese Zahl mit Skepsis zu betrachten, da viele Menschen zu Hause sterben, ohne dass ihre Covid-19-Erkrankung offiziell registriert wird. Bestattungsunternehmen berichten von einer enormen Zunahme der Aufträge. Zu Beginn der Pandemie starben vor allem alte Menschen, doch die Zahl der in jungen Jahren an Covid-19 Gestorbenen steigt; mittlerweile sind mehr als ein Zehntel aller Todesopfer von Covid-19 Kinder und Jugendliche.
Umfragen zufolge lehnt ein Fünftel der Bevölkerung Impfungen gegen Covid-19 vorerst ab.
Bilder von überlasteten Krankenhäusern und abgewiesenen Patienten und Patientinnen, wie sie zuvor aus Indien bekannt waren, häufen sich nun auch in Indonesien. Das staatliche Gesundheitssystem ist überlastet und steht vor dem Kollaps. Es fehlt an Ausstattung und medizinischem Personal, nicht zuletzt da aus dessen Reihen viele selbst der Krankheit erlagen. Einige der verstorbenen Ärzte und Ärztinnen waren bereits doppelt geimpft, allerdings mit dem chinesischen Präparat von Sinovac, einem Impfstoff, der offenbar nicht so gut wie andere vor einer Infektion mit der Delta-Variante schützt.
Expertinnen und Experten für Infektionskrankheiten warnen, dass durch die schnelle Ausbreitung des Virus in Indonesien noch aggressivere Varianten entstehen können, da sich Viren ständig verändern, genetisch mutieren. So könnten neue, noch gefährlichere Varianten entstehen. Dem indonesischen Epidemiologen Dicky Budiman zufolge, der an der australischen Griffith University Coronavirus-Mutationen erforscht, treten neue Varianten »immer in den Regionen oder Ländern auf, die Ausbrüche nicht kontrollieren können«.
Während Indonesien seine Grenzen ab April 2020 geschlossen hielt und die Einreise von Nichtstaatsangehörigen unterband, gab es aus Angst vor den wirtschaftlichen Folgen bisher keinen landesweiten Lockdown. Die Regierung ordnete lediglich »großangelegte soziale Beschränkungen« an. Kontaktverbote werden jedoch regelmäßig umgangen und vor allem zu religiösen Feiertagen werden die Beschränkungen weitgehend ignoriert. Trotz der rasant steigenden Fallzahlen hat die Regierung Ende Juli die Restriktionen weiter gelockert, vor allem für kleinere Unternehmen, Einkaufszentren und Moscheen. Einer Studie des internationalen Forschungsinstituts SMERU zufolge hatten 75 Prozent aller Haushalte in Indonesien 2020 geringere Einkommen zu verzeichnen als im Vorjahr, derweil die Lebenshaltungskosten stark gestiegen sind.
Mitte Januar begann die indonesische Regierung mit dem staatlichen Impfprogramm. Zuvor hatte sich der indonesische Präsident Joko Widodo öffentlichkeitswirksam mit dem Impfstoff Coronavac des chinesischen Herstellers Sinovac impfen lassen. Nach Erteilung einer Notfallzulassung des Impfstoffs in Indonesien wird dieser mit Hilfe einer indonesischen Partnerfirma, PT Bio Farma (Persero), verarbeitet und verteilt. Indonesien ist mit 125 Millionen Dosen einer der größten Abnehmer von Coronavac. Bisher wurden rund 70 Millionen Dosen verschiedener Vakzine landesweit verabreicht. Auf die Gesamtbevölkerung von über 270 Millionen Menschen umgerechnet bedeutet das, dass bisher 16 Prozent aller Indonesierinnen und Indonesier eine erste Impfdosis erhalten haben; nur sechs Prozent gelten als vollständig geimpft.
An der niedrigen Impfrate ist jedoch nicht nur der Mangel an Impfstoffen schuld, sondern auch die skeptische bis stark ablehnende Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung. Umfragen zufolge lehnt ein Fünftel der Bevölkerung Impfungen gegen Covid-19 vorerst ab. Zu den auch in Europa gängigen Verschwörungstheorien und den Vorbehalten gegen die Pharmaindustrie und private Stiftungen kommen in Indonesien religiöse, politische und rassistische Vorurteile hinzu. Laut einer gemeinsamen Umfrage von WHO, Unicef und dem indonesischen Gesundheitsministerium äußerten die Befragten Bedenken gegen die Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen, misstrauten den Institutionen oder stellten die religiöse Zulässigkeit der Vakzine in Frage. Einige befürchten, dass die Impfstoffe bestimmte tierische Inhaltsstoffe enthalten könnten, die als haram, also im Islam unzulässig gelten. Der Indonesische Ulema-Rat (MUI), die führende islamische Gelehrtenorganisation des Landes, stellte zwar in einer Fatwa fest, dass der von Sinovac hergestellte Impfstoff halal, also nach islamischen Regeln zulässig sei, doch auch das konnte die Bedenken nicht vollends ausräumen.
Andere Impfgegnerinnen und -gegner stören sich an der chinesischen Herkunft des Impfstoffs. Sinophobe Einstellungen sind nicht nur in Indonesien, sondern auch in anderen Teilen Südostasiens weitverbreitet. Auch weite Teile der Bevölkerungen in Thailand, Malaysia und den Philippinen lehnen einige Impfstoffe chinesischer Pharmaunternehmen Coronavac aus unterschiedlichen Gründen ab, darunter Chinas regionaler Einfluss und Skepsis gegen deren Wirksamkeit.
In Indonesien hat die Sinophobie eine blutige Tradition. Höhepunkt waren die antikommunistischen und antichinesischen Massaker von 1965/66, denen bis zu drei Millionen Menschen zum Opfer fielen, vorwiegend tatsächliche und vermeintliche Kommunistinnen und Kommunisten, aber auch zahlreiche chinesischstämmige Indonesierinnen und Indonesier. Derzeit verbergen sich antichinesische Propaganda und die Ablehnung von Sinovac oft hinter religiösen Einwänden, da viele chinesischstämmige Indonesierinnen und Indonesier nicht muslimisch sind. Oft wird ihnen nicht nur kulturelle Nähe zu China, sondern auch politische Sympathie für dessen Großmachtpolitik unterstellt.
Um die Öffentlichkeit zu überzeugen, sich mit Coronavac impfen zu lassen, hob Präsident Joko Widodo in seinem öffentlichen Auftritt zu Beginn der nationalen Impfkampagne die Begriffe halal und aman (Bahasa für »sicher«) stark hervor. Aber mittlerweile kündigte auch Indonesien an, für eine dritte Impfdosis bei seinem medizinischen Personal nicht Coronavac, sondern den Impfstoff von Moderna zu verwenden. Anfang Juli war Novilia Sjafri Bachtiar, die leitende Wissenschaftlerin der Sinovac-Impfstoffstudien in Indonesien, mit dem Verdacht auf eine Covid-19-Erkrankung gestorben.
Bewusst gestreute Falschmeldungen und Fehlinformationen, die Menschen davon abhalten, Gesundheitsvorschriften und Impfempfehlungen zu befolgen, erweisen sich nun als immer größere Gefahr in Indonesien. Vor allem Micro-Influencer in den Online-Medien sind an der Verbreitung teils haarsträubender Gerüchte beteiligt. Harry Sufehmi zufolge, dem Gründer der NGO Mafindo, die gegen die Verbreitung von Falschmeldungen und Fehlinformationen in Indonesien kämpft, »gibt es hartnäckige Gerüchtetreiber, die versuchen, mit irgendwelchen Covid-19-Medikamenten und Wundermitteln Geld zu machen«. Zwar arbeitet das indonesische Informationsministerium auch mit social media-Plattformen zusammen, um Inhalte oder Accounts zu sperren, die Falschmeldungen und Fehlinformationen verbreiten, aber es kommen ständig neue Gerüchte nach.
Zu Indonesiens führenden Impfgegnern und Verbreitern von Falschinformationen gehören auch die ehemalige Gesundheitsministerin Siti Fadilah Supari, die 2017 wegen Amtsmissbrauchs und Korruption verurteilt wurde, und der Schlagzeuger der indonesischen Punkband Superman Is Dead, I Gede Ari Astina, besser bekannt als Jerinx. Wegen seiner Diffamierungen der indonesischen Ärztekammer und Hassreden im Internet wurde Jerinx im November 2020 nach dem indonesischen Elektronischen Informations- und Transaktionsgesetz verurteilt und inhaftiert. Mittlerweile ist er wieder auf freiem Fuß, jedoch sind einige seiner Tweets vorerst verschwunden, und auf Instagram hat er einen neuen Account. Derweil versucht Präsident Widodo, durch positive Tweets Panik zu verhindern, und bewirbt traditionelle pflanzliche Heilmittel, was ihm ebenfalls viel Kritik von Wissenschaftlern und Expertinnen einbringt.