Evergrandes große Krise
Die Nachricht schien zunächst aus dem Nichts zu kommen: Am 7. September stufte die Rating-Agentur Fitch die Bonität des zweitgrößten chinesischen Immobilienentwicklers Evergrande von CCC+ auf CC herunter – auf Schrottniveau. Aufgrund »knapper Liquidität« seien Zahlungsausfälle sehr wahrscheinlich, hieß es in der Begründung. Nur wenige Tage später war es dann so weit. Man stehe unter »großem finanziellen Druck«, gestand der Vorstand des Konzerns schließlich ein, woraufhin etwa 100 wütende Kleinanleger aus Angst, ihre Einlagen zu verlieren, medienwirksam die Firmenzentrale in Shenzhen stürmten. In der vergangenen Woche ließ Evergrande trotz gegenteiliger Ankündigungen erstmals die Frist für Zinszahlungen in Höhe von immerhin 83,5 Millionen US-Dollar verstreichen. Eine Pleite des Immobilienriesen ist in greifbare Nähe gerückt.
Auf etwa 50 Millionen Wohnungen – 22 Prozent des gesamten Bestands – taxierte eine Studie der Southwestern University of Finance and Economics 2018 den in China herrschenden Leerstand.
Mittlerweile kursieren auch Zahlen. Auf über 300 Milliarden US-Dollar, fast das Fünffache des Jahresumsatzes, sollen sich die Schulden von Evergrande belaufen. Allein bis Jahresende stehen nach Berechnungen von Fitch Zinszahlungen von etwa 850 Millionen US-Dollar an. Und die wirklich großen Summen kommen erst danach. Denn während 2021 keine Unternehmensanleihen ausgelöst werden müssen, soll dafür im kommenden Jahr rund 7,3 Milliarden US-Dollar notwendig sein und 2023 nochmals etwa das Gleiche. Angesichts dessen erscheint es als mehr als wahrscheinlich, was das Wall Street Journal unter Berufung auf Insider am Freitag vergangener Woche berichtete, dass nämlich die chinesische Zentralregierung Lokalregierungen bereits angewiesen habe, kurzfristig Vorbereitungen für einen möglichen Zusammenbruch von Evergrande zu treffen, um »größere Verwerfungen zu verhindern und vor allem die Verluste der chinesischen Bevölkerung in Grenzen zu halten«.
Welche Maßnahmen der Zentralregierung vorschweben, ist noch völlig unklar. Aber dass sie reagieren wird und kann, wird derzeit kaum bezweifelt. Sie stehe »mit genügend Munition bereit«, verkündeten in einem ersten Gutachten die Experten des skandinavischen Finanzkonzerns Nordea – und meinten damit zum Glück keine Patronen. Die chinesische Regierung verfüge nicht nur über genügend Liquidität, sondern auch über Erfahrung. »In China gibt es alle 36 Monate einen ›Lehman‹, und üblicherweise löst die Regierung das Problem«, heißt es in der Studie. Auch die Commerzbank gibt Entwarnung: »Wir gehen davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit einer ausgewachsenen systemischen Finanzkrise Chinas (…) sehr gering ist.« Im Zweifelsfall, heißt es in einer Analyse der Bank, übernähmen die Aufsichtsbehörden den langwierigen Entschuldungsprozess des Immobilienentwicklers Evergrande einfach selbst.
Dass die Schulden fast ausschließlich auf Gläubiger aus der Volksrepublik entfallen und damit ein Szenario wie 2008, als die Pleite von Lehman Brothers auf die internationalen Finanzmärkte übergriff, zunächst ausgeschlossen scheint, lässt zwar die internationalen Finanzanalysten besser schlafen. Die chinesische Regierung aber bringt es in Zugzwang.
Nach Angaben der FAZ warten mehr als eine Million Chinesen darauf, dass Evergrande ihre üblicherweise vorfinanzierten Wohnungen fertigstellt. »Wird das eigene Haus oder die eigene Wohnung nicht fertig«, so die Zeitung, »und besteht keine Aussicht, das Geld zurückzuerhalten, dürfte das wirtschaftliche Überleben vieler auf dem Spiel stehen.« 200 000 Arbeitsplätze bei Evergrande selbst und etwa 3,8 Millionen weitere auf den Baustellen des Konzerns sind akut bedroht. Damit nicht genug: Mit über 147,3 Milliarden US-Dollar entfällt der mit Abstand größte Teil der Schulden auf Zulieferer und kleinere Betriebe von Auftragnehmern, denen im Falle von Zahlungsausfällen ebenfalls die Insolvenz drohen dürfte.
Das wird sich die Regierung sicherlich nicht leisten wollen. Auch weil die Krise bei Evergrande die große Schwäche der chinesischen Binnenökonomie offenbart: die Abhängigkeit von einem äußerst fragilen Immobiliensektor. Evergrande sei die chinesische Wirtschaft im »Miniaturformat«, schrieb unlängst James Mackintosh in seiner Kolumne im Wall Street Journal. Jahrzehntelang habe man im Bauwesen eine Verschuldung zu fast allen Kondition in Kauf genommen.
Tatsächlich ist dieser Sektor in keinem anderen Land der Welt derart bedeutsam für die Nationalökonomie. In der Volksrepublik sind 70 Prozent aller privaten Vermögenswerte in Wohnungen investiert, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird zu etwa einem Viertel im Bauwesen erwirtschaftet. Und während nach Angaben des US-Finanzministeriums in den USA etwas über vier Prozent des BIP in den Immobiliensektor fließen, sind es in China fast 14 Prozent. Allein zwischen 2011 und 2013 sollen der Washington Post zufolge in China 6,6 Milliarden Tonnen Beton verbaut worden sein – in den USA im gesamten 20. Jahrhundert lediglich 4,5 Milliarden Tonnen.
Die Ergebnisse dieses Baubooms kann man fast überall in China sehen: Geistersiedlungen prägen, abseits der wirtschaftlichen Zentren wie Peking, Shanghai, Guangzhou oder Shenzhen, das Bild vieler aus dem Boden gestampfter Vorstädte. Auf etwa 50 Millionen Wohnungen – 22 Prozent des gesamten Bestands – taxierte eine Studie der in Chengdu ansässigen Southwestern University of Finance and Economics 2018 den Leerstand. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine auch nur ähnliche Quote. Und so dürften mittelfristig viele Vermögen chinesischer Gläubiger und Wohnungskäufer dezimiert werden.
Dem hatte die chinesische Regierung Einhalt gebieten wollen. »Häuser werden gebaut, um darin zu wohnen, nicht für Spekulation«, verkündete Präsident Xi Jinping 2017 auf dem 19. Parteikongress. Hunderte von neuen Regelungen und staatliche Grundstückskäufe sollen seitdem den Immobilienmarkt zähmen. Vor allem die seit 2018 geltenden neuen finanztechnischen Vorgaben, die »drei roten Linien«, trafen die Baukonzerne hart: Diese dürfen keine neuen Kredite mehr aufnehmen, sollten die Verbindlichkeiten mehr als 70 Prozent der Vermögenswerte betragen; Schulden und Fremdkapital dürfen den Wert des Eigenkapitals nicht übertreffen, der Verschuldungsgrad also nicht über 100 Prozent liegen; die kurzfristigen Verbindlichkeiten dürfen die liquiden Mittel nicht übersteigen. Evergrande verletzte im April gleich alle drei Vorgaben. Das war der Prolog der gegenwärtigen Krise, die auch noch andere Konzerne treffen dürfte.
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze bezeichnete in seinem Blog das Vorgehen der chinesischen Regierung im Immobiliensektor als »kontrollierten Abriss« aus eigenem Antrieb, um aus der chinesischen Immobilienblase sozusagen Luft abzulassen; darin sieht er den Hauptunterschied zur Lehman-Krise, die er als »verheerende Kettenreaktion« charakterisiert. Doch auch ein solcher »kontrollierter Abriss« dürfte sich für die chinesische Regierung als schwere Bürde erweisen.
Denn den Zahlen des Vermögensverwalters Seafarer Funds zufolge stammten 2019 38,6 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus der Vergabe von Landrechten und weitere 14,3 Prozent aus Landverkäufen. Zudem haben sich durch die sogenannten pre-sales, also Einnahmen aus verkauften, aber nicht fertiggestellten Wohnungen, auch bei anderen chinesischen Immobilienentwicklern große private Ansprüche ergeben, die bei Nichterfüllung den Ruin vieler chinesischer Familien nach sich ziehen würden. Am Montag pumpte die chinesische Zentralbank 15,5 Milliarden US-Dollar in die Finanzmärkte, vergangene Woche war es bereits drei Mal so viel. Die Munition der chinesischen Regierung für anstehende Krisen könnte bald knapp werden.