In den USA wird der Angriff auf das Kapitol vom Januar untersucht

Mit Memo oder Mob

Neue Indizien zum Sturm auf das Kapitol am 6.  Januar sind aufgetaucht und sorgen für Schlagzeilen in den Vereinigten Staaten.

Die Liste der Männer, die Mitte Oktober vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss für die Aufklärung der Geschehnisse rund um den Sturm auf das Kapitol aussagen sollen, liest sich wie ein Who’s who des Trumpismus: Sie umfasst den ehemaligen Chefstrategen des Weißen Hauses, Stephen Bannon, den ehemaligen Stabschef des Weißen Hauses, Mark Meadows, den ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsminister, Christopher C. Miller, den ehemaligen Stabschef des Verteidigungsministers, Kash Patel, sowie den ehemaligen persönlichen Berater und Verfasser von Tweets von Donald Trump, Dan Scavino. Ob die Herren den Vorladungen auch Folge leisten werden, steht allerdings noch nicht fest. Abzuwarten bleibt auch, ob wirklich nachgewiesen werden kann, dass die Attacke auf das Kapitol am 6. Januar von der Regierung Trump als letztes Mittel instrumentalisiert wurde, um die Amtseinführung von Joe Biden zu verhindern.

Vor einigen Tagen sagte Stephen Bannon in seinem Podcast, er habe am 5. Januar mit Trump darüber gesprochen, die Präsidentschaft Bidens »noch in der Krippe zu killen«.

Viel spricht dafür, dass Trump und seine Vertrauten große Hoffnungen in die Kundgebung am 6. Januar setzten: Da ist ein dem Investigativjournalisten und Watergate-Aufklärer Bob Woodward zugespieltes Memo des Trump-Anwalts John Eastman, in dem dieser ein Szenario für den 6. Januar entwirft, mit dessen Hilfe Vizepräsident Mike Pence davon überzeugt werden sollte, die Wahlresultate nicht anzuerkennen. Auch die Tatsache, dass einige der ins Kapitol eingedrungenen Trump-Fans ganz offenkundig auf der Suche nach den Kisten mit den Stimmen der Wahlmänner waren, die geistesgegenwärtige Mitarbeiter jedoch in Sicherheit gebracht hatten, deutet in diese Richtung. Dasselbe gilt für eine Äußerung von Stephen Bannon in seinem Podcast vor einigen Tagen, wonach er am 5. Januar mit Trump darüber gesprochen habe, die Präsidentschaft Bidens »noch in der Krippe zu killen«.

Doch ist es dem FBI noch immer nicht gelungen, den Verantwortlichen für die in Washington, D.C., geplanten Rohrbombenattentate zu ermitteln. In der Nähe der Hauptquartiere sowohl der Demokratischen als auch der Republikanischen Partei hatte eine bis heute unbekannte Person diese Bomben am Abend vor der Kundgebung abgelegt. Sie wurden einen Tag später, während der Mob in das Kapitol einzudringen versuchte, zufällig gefunden. Die Ermittler sind sicher, dass der eigentliche Plan war, Polizeikräfte zu binden und von den Geschehnissen am Sitz des US-Kongresses abzulenken.

Warum die Bomben nicht explodierten, ist unklar, möglicherweise waren die Zeitzünder nicht korrekt eingestellt oder die Batterien nicht richtig verbunden worden. Obwohl mehrere Fotos und Videos aus Überwachungskameras den Mundschutz tragenden Täter sowohl auf seinem Weg zu den Ablagestellen als auch entspannt auf einer Parkbank sitzend zeigen, konnte er nicht identifiziert werden – im Gegensatz zu vielen der ins Kapitol eingedrungenen Trump-Anhänger, von denen einige bereits verurteilt wurden.

Aber selbst wenn die Vorgänge am 6. Januar eindeutig aufgeklärt werden können, heißt das noch lange nicht, dass die Anhänger der Republikanischen Partei den Untersuchungsergebnissen auch glauben werden. Obwohl Gewalttaten und -aufrufe umfassend dokumentiert sind, gilt ihnen der Sturm aufs Kapitol mittlerweile als friedliche Veranstaltung. Umso erstaunlicher war es, dass eine rechte Solidaritätskundgebung für die Kapitolstürmer unter dem Motto »Justice for J6« (Gerechtigkeit für den 6. Januar) am 18. September nur wenige Hundert Menschen anzog – allerdings hatte Donald Trump die Veranstaltung vorab als eine Falle bezeichnet, die Patrioten gestellt werde. Kurz vor Beginn der Anhörungen vor dem Untersuchungsausschuss dürfte ihm wenig an neuen Bildern gelegen haben, die seine randalierenden Anhänger zeigen.

Der Initiator der Demonstration, Matt Braynard, hatte in den vergangenen Monaten daran gearbeitet, die Rechtmäßigkeit der Wahl Joe Bidens weiter in Zweifel zu ziehen. Braynards ­politische Überzeugungen lassen sich am besten anhand einer von ihm 2017 im Rahmen eines Uni-Projekts gegründeten Publikation namens Otoya erklären, die den Untertitel »Eine Literaturzeitschrift des Neuen Nationalismus« trug. Der Name bezog sich auf Otoya Yamaguchi, einen japanischen Rechtsextremisten, der am 12. Oktober 1960 im Alter von 17 Jahren während einer live ausgestrahlten Fernsehdebatte den Vorsitzenden der Sozialistischen Partei, Inejirō Asanuma, mit einem Kurzschwert ermordet hatte. Thema der Veranstaltung waren die sogenannten Anpo-Proteste, bei denen Linke von 1959 bis zum Sommer 1960 gegen die Anwesenheit US-amerikanischer Truppen in Japan protestierten.

Yamaguchi hatte sich ein Jahr zuvor der ultranationalistischen Partei Nihon Aikokutō angeschlossen, deren Mitglieder davon überzeugt waren, dass ein kommunistischer Putsch unmittelbar bevorstehe. Nach dem Mord wurde er verhaftet und erhängte sich am 2. November 1960 in seiner Zelle, nachdem er zuvor an deren Wände kaisertreue patriotische Parolen und den Satz »Hätte ich doch nur sieben Leben, um sie für mein Land zu geben« geschrieben hatte.

Braynard begründete seine Bewunderung für Otoya Yamaguchi unter anderem damit, dass dieser am gleichen Tag geboren sei wie »ein anderer großer Patriot, der Bajonette in die Feinde stach, die seine Nation bedrohten, George Washington«. Außerdem habe er mit seiner Tat Massaker wie in Kambodscha unter Pol Pot verhindern wollen – einem wie Braynard, der an »alternative Fakten« glaubt, ist es eben gleichgültig, dass die Roten Khmer erst 15 Jahre nach dem Suizid des von ihm so verehrten jungen Mörders an die Macht kamen.

Ähnlich großzügig verfuhr Braynard auch mit anderen Tatsachen: Nach der Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten schwang er sich zum Experten für die Aufdeckung von Wahlmanipulationen auf und gründete das Voter Integrity Project, für das er Spenden in Höhe von 700 000 US-Dollar sammelte. Als Experte wurde er zu mehreren, meistens von Trump-Fans in verschiedenen Bundesstaaten veranstalteten Anhörungen eingeladen und verdiente pro Auftritt zwischen 40 000 und 150 000 US-Dollar. Seine Aussagen endeten immer damit, dass er empfahl, die Wahlergebnisse nicht als rechtmäßig anzuerkennen; die Wahlleute hätten Joe Biden unmöglich zum neuen Präsidenten wählen dürfen.

Braynard wurde zu einem der gefeierten Kronzeugen für den angeblichen Wahlbetrug der Demokraten. Dass seine vollmundig als wissenschaftlich präsentierten Untersuchungsergebnisse sich regelmäßig als pure Erfindungen oder falsche Interpretationen der Fakten erwiesen, änderte daran nichts.