»Die Taliban dürfen auf keinen Fall legitimiert werden«
Sie sind im August nach dem Vormarsch der Taliban und einem Anschlag auf Ihr Wohnhaus in Kabul nach Europa geflüchtet. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?
Mein Leben in Afghanistan war immer sehr gefährlich. In Europa bin ich das erste Mal seit Jahrzehnten in Sicherheit. Mein Ehemann, Faizullah Jalal, ist ein bekannter Politiker und Professor an der Universität in Kabul, er ist noch dort. Im November hat er in einer Fernsehdebatte die Taliban scharf kritisiert. Das hat eine große Resonanz ausgelöst, er hat viel Zuspruch erfahren, innerhalb und außerhalb Afghanistans. Wegen seiner deutlichen Kritik wird er nun »Löwe von Afghanistan« genannt. Eine freie Meinungsäußerung ist allerdings kaum noch möglich und viele fürchten, dass es ein Attentat auf ihn geben wird. Es ist sehr wichtig, dass die internationale Öffentlichkeit kritische Stimmen wie ihn wahrnimmt und über sie berichtet. Das kann einen gewissen Schutz bieten.
Vor über zehn Jahren ist in dieser Zeitung bereits ein erstes Interview mit Ihnen erschienen. Damals haben Sie in Bonn an der Petersberg-Konferenz teilgenommen. Sie kritisierten, dass zu viel Macht in die Hände von Extremisten und Militärangehörigen gegeben wurde, und plädierten für eine stärkere Beteiligung demokratischer Kräfte. Sie forderten damals: keine Macht den Taliban und anderen Extremisten.
Die damalige Regierung hat nur für ihren eigenen Profit gearbeitet und im Prinzip agiert wie eine Mafia, die Korruption war ein Riesenproblem. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, sich mehr auf Experten und auf Frauen zu stützen. Leider ist das eingetreten, was ich erwartet habe: ein Kollaps der Demokratie. Die internationale Gemeinschaft kann aber immer noch handeln. Es ist nicht zu spät. Die Taliban haben im Inneren keine Legitimität und international keine Anerkennung. Sie dürfen auf keinen Fall von außen legitimiert werden.
»Die internationale Gemeinschaft sollte auf die Frauen setzen, Frauenorganisationen unterstützen und sie ausbilden, politische Führungsaufgaben zu übernehmen.«
Die internationale Gemeinschaft muss ihre Hilfe für Afghanistan an Bedingungen knüpfen. Die wichtigste Forderung ist, dass eine inklusive Regierung gebildet werden muss, die ausgewogen ist zwischen Männern und Frauen. Die Regierung sollte aus Experten bestehen und demokratisch legitimiert sein, die korrupten und extremistischen Gruppen müssen aus der Loya Jirga, der Großen Ratsversammlung, verbannt werden. Kleriker könnten sich in einem nationalen Rat organisieren, sollten aber nicht an der Regierung beteiligt sein. Das wäre eine Regierung, die die Welt akzeptieren kann. Wenn die Taliban diese Bedingungen nicht akzeptieren, gibt es keine Legitimität, dann sollte es keine Zugeständnisse, kein Geld geben.
Es gab in Deutschland eine Diskussion, welche Lehren aus dem 20jährigen Einsatz der Nato gezogen werden sollten. Bei vielen überwiegt die Einschätzung, dass man sich nicht mehr so stark in innere Angelegenheiten anderer Staaten einmischen sollte.
Man sollte sich aber auch die Frage stellen: Wem hat der Westen denn die Macht übergeben? Und in welchem Zustand ist das Land zurückgelassen worden? Wurde sichergestellt, dass das Land nicht zurückfällt in den Extremismus?
Eine drängende Frage lautet, wie die dringend benötigten Hilfsgelder für Afghanistan ohne eine schleichende Anerkennung der Taliban organisiert werden können. Es gibt aber auch erste Überlegungen, ob man nicht zusammen mit den Taliban gegen die Terrororganisation »Islamischer Staat Khorasan« (IS-K) vorgehen sollte.
Dieser Fehler darf nicht gemacht werden! Eine Taliban-Regierung darf auf keinen Fall Legitimität erhalten. Afghanistan ist jetzt bereits in der Hand von Terroristen. Und das bedeutet, dass weitere terroristische Gruppen entstehen werden. Der Islamische Staat Khorasan verfügt bereits über mehr als 2 000 Kämpfer. IS-K zahlt besser als die Taliban, deshalb wechseln viele dorthin. Die extremistischen Gruppen sind im Prinzip ein Arbeitsmarkt für die armen und wütenden jungen Männer, die in großer Armut leben. Der Winter kommt, die Menschen sterben vor Hunger. Das ist das Dilemma.
Was würde passieren, wenn die Taliban-Regierung an Legitimität gewönne?
Wenn es keinen politischen Druck gibt, wird der Terrorismus wieder über eine Basis verfügen: über ein Land, eine Regierung, über Kapital. Der Terrorismus wird dann auch in westliche Länder zurückkommen. Die 40 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind den Taliban dagegen völlig egal. Der Regierungschef (Mohammad Hassan Akhund, Anm. d. Red.) sagte kürzlich, die Taliban hätten ihr Versprechen, gegen die ausländischen Kräfte zu kämpfen, erfüllt, die Versorgung der Bevölkerung hätten sie nicht versprochen, diese komme von Gott. In Europa sollte man sich vor diesem Szenario fürchten. Die Taliban werden für Instabilität sorgen und weitere Flüchtlingswellen produzieren. Das wird europäischen Regierungen neue Kopfschmerzen bereiten.
Wie kann man den Taliban die Kontrolle über ganz Afghanistan geben? Sie sind zu guter Regierungsführung nicht in der Lage. Stattdessen rauben sie Land und Leute aus. Sie fordern von Bauern, die selbst in extremer Not sind, eine Steuer für angeblich wohltätige Zwecke. Aus der Provinz Badachschan habe ich gehört, dass die Taliban in Krankenhäuser gehen, um Steuern bei denjenigen einzutreiben, deren Gehälter aus dem Ausland gezahlt werden. Unter anderem hat Deutschland beschlossen, Gehälter an Lehrer und Ärzte zu zahlen. Das Land wird ausgeplündert. China hat sich bereits Rechte für die Ausbeutung von Minen gesichert. Es gibt Berichte, dass Waffen und Panzer nach Pakistan geschmuggelt werden. Wer profitiert davon? Allein die Extremisten selbst. Wer verliert? Vor allem die Frauen.
Gibt es denn noch eine Alternative?
Ja – es ist immer noch möglich, an der Wiederbelebung der Demokratie zu arbeiten. Es gibt dazu keine Alternative. Meine Vision für Afghanistan ist eine demokratische, offene, inklusive und tolerante Regierung, die von Männern und Frauen geleitet wird. Ich wünsche mir eine freie Wirtschaft, Freiheit der Rede und eine freie Presse – ich will ein freies Afghanistan. Ich arbeite daran hier im Exil, für die Menschen in Afghanistan. Sobald es möglich ist, gehe ich zurück.
Viele hierzulande gehen davon aus, dass die Menschen in Afghanistan keine Demokratie wollen. Doch eine Umfrage der Asia Foundation hat im Jahr 2019 gezeigt, dass 65 Prozent der Befragten mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden waren. Was ist Ihre Einschätzung?
Ich habe während meiner Arbeit als Ärztin und später als Politikerin mit einem sehr breiten Ausschnitt der Gesellschaft zu tun gehabt. Die Menschen in Afghanistan wollen Gerechtigkeit, Transparenz und eine ehrliche Regierung. Und sie wollen im Austausch mit dem Rest der Welt stehen. Das ist alles nur mit Demokratie zu erreichen. Der Extremismus entsteht aus Unwissenheit, aus Analphabetismus, in Gemeinschaften, die im Konflikt und im Krieg leben. Sie sind rückwärtsgewandt und haben kaum Kenntnis von den Entwicklungen in der Welt. Sie müssen die Gelegenheit bekommen, ihren Lebensstandard zu verbessern und ihr Weltbild der Realität anzupassen. Sie können modern werden und Fortschritte machen.
Wie werden sich die Taliban weiter entwickeln?
Die religiösen Kämpfer werden ebenso korrupt sein wie die letzte Regierung. Sie haben ihr ganzes Leben an religiösen Schulen verbracht und sonst nur kämpfen gelernt. In einer Regierung kann man sie zu nichts gebrauchen. Sie nennen sich selbst »Geschäftsleute«, werden sich aber allein durch Korruption und Gewalt bereichern. Und weil sie bewaffnet sind, traut sich niemand, ihnen entgegenzutreten. Denn jeder weiß: Es gibt 20 000 Kämpfer unter Waffen. Man hört von den Grausamkeiten und die Taten bleiben ungesühnt. Wenn ihre Macht legitimiert wird, werden kritische Stimmen ganz an den Rand gedrängt und verschwinden. Insbesondere gilt das für die Frauen. Von den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft wird nichts übrigbleiben.
Welche Rolle können die Frauen in Afghanistan in der Zukunft noch spielen?
Die Frauen sind diejenigen, die am meisten verlieren. Das ist aber auch der Grund, warum ich von Anfang an der Meinung war, dass wir auf die Frauen setzen müssen. Denn sie sind die Wächterinnen der Demokratie. Ich sage das nicht, weil ich selbst eine Frau bin. Die Frauen sind das natürliche Element der Demokratie, und zwar deshalb, weil sie am meisten von ihr profitieren. Frauen werden in Afghanistan nicht als komplette Muslime angesehen, sie nennen uns »halbe Muslime«. Eine Frau hat aus der Sicht der Extremisten auch nur einen halben Verstand. Aus Sicht der Extremisten sind wir nichts und haben keine Rechte. Die internationale Gemeinschaft sollte auf die Frauen setzen, Frauenorganisationen unterstützen und sie ausbilden, politische Führungsaufgaben zu übernehmen.
Wie kann man die afghanischen Frauen von außen unterstützen?
Frauen in Afghanistan organisieren weiterhin Proteste. Das ist eigentlich unglaublich, denn die Taliban behandeln Frauen mit großer Brutalität. Dennoch gehen sie weiter auf die Straße und fordern ihre Rechte ein. Sie riskieren ihr Leben. Hilfsorganisationen sollten Hilfsgelder an afghanische Frauenorganisationen vor Ort verteilen. Es geht aber auch um politische Unterstützung. Afghanische Frauen sollten hier gehört und wahrgenommen werden. In Europa brauchen sie einen legalen Status und Unterstützung aus der Politik. Sie sollten eingebunden werden bei der Frage, wie die Demokratie in Afghanistan wiederbelebt werden kann.
Was kann die sogenannte internationale Gemeinschaft politisch konkret tun?
Wir brauchen Instrumente, um den Taliban etwas entgegenzusetzen. Das wichtigste Instrument ist, dass die Taliban nicht anerkannt werden. Ein weiteres Instrument ist: keine Freigabe von Geldern ohne Bedingungen. Das dritte Instrument ist die Zusammenarbeit mit demokratischen Organisationen und Frauenrechtlerinnen auch im Exil. Allerdings hat auch die Regierung von Präsident Ashraf Ghani, die jetzt in den Emiraten sitzt, keine Legitimität. Sie hat uns an die Taliban verkauft. Sie ist mitverantwortlich dafür, dass das Land an den Terrorismus gefallen ist.
Massouda Jalal war Ministerin für Frauenangelegenheiten der afghanischen Regierung von 2004 bis 2006 und kandidierte 2002 und erneut 2004 als erste Frau in der Geschichte Afghanistans für die Präsidentschaft. Sie ist die Gründerin der Jalal Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die 50 Frauenräte und -organisationen zusammengebracht hat, um die Förderung von Frauen durch Lobbyarbeit, Bereitstellung von Dienstleistungen, Aufbau von Kapazitäten und andere Projekte zu unterstützen.