Ein Gespräch mit dem US-amerikanischen Politologen Cedric Johnson über die Black-Lives-Matter-Proteste, Antirassismus und Kritik am Kapitalismus

»Viele ließen sich von Wunschdenken mitreißen«

Im Sommer 2020 gingen in den USA Millionen Menschen gegen rassistische Polizeigewalt auf die Straße. Eineinhalb Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Nur wenige Polizeireformen wurden durchgesetzt, gesamtgesellschaftlich hat sich kaum etwas verändert. Der Politologe Cedric Johnson spricht im Interview über die Black-Lives-Matter-Proteste und die Widersprüche des liberalen Antirassismus - und warum dieser nicht geeignet ist, die amerikanischen Zustände zu erklären, geschweige denn zu verändern.
Interview Von

Die Proteste der Bewegung »Black Lives Matter« (BLM) im Sommer 2020 waren riesig, Millionen Menschen haben damals in den USA an Demonstrationen teilgenommen. Zahlreiche Medien, die Demokratische Partei und sogar große Konzerne zeigten Sympathien für die Demonstrationen. Umfragen zufolge unterstützte – zumindest eine Zeitlang – eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung die Proteste. Wie würden Sie angesichts dessen die Nachwirkungen der Proteste bewerten? Ist die Bilanz enttäuschend?

Es wäre sicher falsch, zu sagen, es habe sich nichts verändert. Diese allzu pessimistische Einschätzung hört man häufig, vor allem von Linken, sie stimmt aber nicht. Natürlich muss man genau schauen, was konkret getan wurde, aber im vergangenen Jahr gab es eine Vielzahl technischer Reformen, von denen einige zu einem Rückgang tödlicher Polizeigewalt beitragen könnten.

»Das Problem liegt in der Vorstellung der ›schwarzen Einzigartigkeit‹: Es wird behauptet, Polizei und Gefängnis seien auf einzigartige Weise ein Problem von Schwarzen.«

Wenn man allerdings die Polizei nicht einfach als losgelöstes Phänomen, sondern als eine grundlegende Einrichtung des Spätkapitalismus betrachtet, die dazu dient, nach dem Rückbau des Sozialstaats überflüssig gewordene Teile der Bevölkerung in Schach zu halten – dann haben diese Reformen das eigentliche Problem nicht einmal angetastet. Denn das Problem ist nicht die Polizei an sich, sondern die von tiefer sozialer Ungleichheit geprägte gesellschaftliche Ordnung, zu deren Aufrechterhaltung die Polizei benötigt wird.

Was wurde aus der zentralen Forderung der Protestbewegung, »defund the police«, also der Polizei Ressourcen zu entziehen?

Soweit es in der Hinsicht Fortschritte gab, waren sie auf wenige Orte beschränkt. Städte wie Austin und Los Angeles haben versprochen, Polizeibudgets zu reduzieren und stattdessen in Gewaltprävention, Arbeitsplätze, Sozialwohnungen und andere Programme zu investieren. In Minneapolis dagegen, dem Epizentrum der Proteste, wo George Floyd von der Polizei umgebracht wurde, scheiterte ein Gesetz im Stadtrat, das die Polizei in ein Amt für öffentliche Sicherheit umgestalten sollte, wie es Black-Lives-Matter-Aktivistinnen und -Aktivisten gefordert hatten.

Trotz der spektakulären Massen­proteste vom Sommer 2020 gibt es für die Forderungen der Protestbewegung nicht genügend Rückhalt in der Bevölkerung, um echte Reformen durch­zusetzen. Nicht wenige, die damals wegen der brutalen Tode von George Floyd, Ahmaud Arbery und Breonna Taylor auf die Straße gegangen sind, sind inzwischen konservativer geworden. Sie wollen nicht mehr die Polizei verkleinern, auch weil in vielen Städten die Gewaltverbrechen deutlich zugenommen haben.

Im Sommer 2020 hatten sich wohl viele mehr erhofft. Woher kommt diese Diskrepanz?

Ich war einer von relativ wenigen linken Intellektuellen, die damals kritisch über die Proteste geschrieben haben. Dafür ernteten wir Gegenreaktionen in sozialen Medien, aber auch von Redakteuren linker Magazine, die sich nicht mit den Widersprüchen auseinandersetzen und es nicht riskieren wollten, die Wut des Woketums auf sich zu ziehen. Viele angebliche Linke ließen sich von einer Orgie des Wunschdenkens mitreißen. In meinen optimistischsten Momenten hoffte ich selbst, dass die Proteste gewissermaßen unterirdische Veränderungen angestoßen hätten, indem Menschen politisiert wurden, und man dies in zukünftigen Bewegungen merken wird. Doch auch das ist eher Wunschdenken statt Analyse.

Vor kurzem wurde der afroamerikanische ehemalige Polizist Eric Adams zum Bürgermeister von New York City gewählt. Er hatte Forderungen von BLM wie etwa »defund the police« immer klar abgelehnt. Ist das ein Zeichen, dass sich der Wind nach den Protesten wieder gedreht hat? Wurde nicht die Unterstützung für radikalere Polizeireformen in der Bevölkerung und sogar bei Afroamerikanern stark überschätzt?

Viele linke Aktivisten und Intellektuelle haben das überschätzt, ja. Jedoch hat Adams zwar »defund the police« abgelehnt, was die wichtigste Forderung der radikalsten Elemente von BLM war, aber er hat gleichzeitig bewusst eine antirassistische Rhetorik genutzt, die seit 2020 in den USA allgegenwärtig ist. Seine Haltung ist damit dieselbe wie die von großen Konzernen, philanthropischen Stiftungen und den Kandidaten der Demokratischen Partei. Auch diese haben Lippenbekenntnisse für BLM abgegeben, während sie gleichzeitig genau die kapitalistische Ordnung stützen, die das derzeitige Polizeiregime überhaupt nötig macht, besonders in den großen Städten.

Aber ist die Verbreitung dieser antirassistischen Rhetorik nicht ein erster Schritt zu Reformen?

Das eigentliche Problem ist, dass Antirassismus eigentlich gar nicht geeignet ist, um die Dynamik der Expansion der US-amerikanischen Gefängnisse und der damit zusammenhängenden law and order-Politik zu erklären. Der Fokus auf Antirassismus, der die derzeitigen Debatten über Polizei und Gefängnisse dominiert, enthält einen Teil der Wahrheit, nämlich welche Bevölkerungsgruppen vorrangig von den repressiven Polizeiregimen betroffen sind. Diese gab es nämlich vor allem in großen Städten, wo sie vor allem Afroamerikaner betrafen. Doch auch das ändert sich inzwischen; immer mehr Weiße in ländlichen Ge­bieten und kleinen Städten landen im Gefängnis. Viele Linke denken gar nicht darüber nach, was diese Betroffenen jenseits ihrer Hautfarbe verbindet. Einer Analyse, die es anzusprechen wagt, dass die riesige Gefängnispopulation der USA etwas mit sozialer Klassenzugehörigkeit zu tun haben könnte, stehen manche geradezu feindselig gegenüber.

Wenn jemand wie Eric Adams Black Lives Matter unterstützt, ist das weniger eine Vereinnahmung, wie so viele Linke das seit 2020 behaupten, als ein Zusammenkommen von Teilen der herrschenden Klasse und der Protestbewegung in einem liberalen Antirassismus. Erleichtert wird das dadurch, dass viele Linke geradezu darauf bestanden haben, die Kritik an der Polizei von einer Kritik der urbanen politischen Ökonomie zu trennen.

Warum ist »die Sprache des Anti­rassismus nicht in der Lage, die zugrundeliegenden Motive und den Ursprung des Gefängnisregimes in den USA zu charakterisieren«, wie Sie mal geschrieben haben? Und war­um sind Konzepte wie etwa »New Jim Crow« in Ihren Augen irreführend, also die Vorstellung, das gegenwärtige Justiz- und Strafsystem der USA setze die historische »Rassentrennung« der Südstaaten fort, die einst in den sogenannten Jim-Crow-Gesetzen festgeschrieben war?

In manchen Kontexten, vor allem in großen Städten, wo die meisten Black-Lives-Matter-Proteste stattfanden, ergibt das Konzept des »Neuen Jim Crow« Sinn. In Chicago zum Beispiel ist es vorrangig die schwarze Arbeiterklasse, die unter dem staatlichen Strafregime leidet. Von 2008 bis 2015 waren in Chicago 74 Prozent der von der Polizei erschossenen Personen schwarz. Im selben Zeitraum machten Schwarze 72 Prozent derjenigen aus, die die Polizei einer sogenannten Schikanekon­trolle unterzog, also einer Polizeikon­trolle, die nicht zu einer Festnahme führt. Das ist besonders eindrücklich, wenn man bedenkt, dass die Bevölkerung Chicagos zu etwa gleichen Teilen, also zu jeweils einem Drittel, aus Schwarzen, Weißen und Latinos besteht.

Slogans und Analysen wie die vom »Neuen Jim Crow« und auch »Black Lives Matter« sind jedoch weniger hilfreich, wenn man den Blick vom neuesten viralen Video, das Polizeigewalt zeigt, abwendet und sich nationale Trends anschaut. Es gibt viele Fälle von Polizeigewalt, die nicht gefilmt werden oder die gefilmt, aber kaum verbreitet werden, weil sie nicht dem gängigen Narrativ von der rassistischen Unterdrückung entsprechen. Das Problem liegt in meinen Augen in der Vorstellung der schwarzen Einzigartigkeit: Es wird behauptet, dass Polizei und Gefängnis auf einzigartige Weise ein Problem von Schwarzen seien, und manche gehen sogar so weit zu behaupten, es sei allein ein Problem von Schwarzen.

Sie argumentieren immer wieder, dass auch rassistische Diskriminierung in Verbindung zur politischen Ökonomie verstanden werden muss. Warum ist das so wichtig?

Der Rassismus in Nordamerika entstand aus der kapitalistischen Expansion der USA nach Westen und aus der Institution der Sklaverei. Von der Zeit vor dem Bürgerkrieg bis hin zur Bürgerrechtsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte die Macht des Rassismus immer auf der Kontrolle schwarzer Arbeitskräfte – als Sklaven, später als rechtlose Farmpächter in den Südstaaten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reservearmee der expandierenden Industrie. Der schwarzen Mittelschicht wiederum wurde durch den Rassismus die Möglichkeit genommen, am normalen bürgerlichen Lebensstil der USA teilzunehmen.

Es gibt immer mehr Akademikerinnen und Akademiker, die – oft inspiriert von Cedric J. Robinsons »Black Marxism« – glauben, dass Rassismus schon vor dem Kapitalismus entstanden sei. Ich bin der Ansicht, dass diese These ahistorisch und politisch gefährlich ist. Ahistorisch, weil sie die Vorurteile feudaler Gesellschaften mit dem modernen Rassismus gleichsetzt. Dieser ist jedoch als offizieller Elitendiskurs erst später entstanden und wurde erst richtig hegemonial, als die Sklaverei schon kurz vor ihrem Ende stand. Wie die Sozialwissenschaftlerin Barbara Fields sagte, ist Rassismus eine Art von Vorurteil, aber ein Vorurteil ist noch kein Rassismus. Um es ganz deutlich zu sagen: Welche Macht hat Rassismus denn jenseits materieller Anliegen? Die Bürgerrechtsbewegung der Nachkriegszeit richtete sich nicht einfach gegen Vorurteile, sondern dagegen, dass der Rassismus im Gesetz festgeschrieben war.

Sie haben 2020 geschrieben: »Black Lives Matter ist im Grunde Ausdruck eines militanten antirassistischen Liberalismus.« Wie genau meinten Sie das?

Black Lives Matter war von Anfang an Ausdruck eines antirassistischen Liberalismus, der in den frühen Jahren der Präsidentschaft Barack Obamas an Dringlichkeit und Militanz gewonnen hatte. Der erste schwarze US-Prä­sident war während seines Wahlkampfs und seiner ersten Amtsjahre ständig Ziel rassistischer Angriffe gewesen. Sie gingen von der Anhängerschaft der Tea-Party-Bewegung und von den sogenannten Birthern aus. Letztere wurden von Donald Trump angeführt und stellten in Frage, dass Obama in den USA geboren wurde, und damit die Legitimität seiner Präsidentschaft (gemäß der Verfassung kann nur Präsident werden, wer in den USA geboren ist, Anm. d. Red.).

Diese Angriffe haben viele schwarze US-Bürger vor dem Hintergrund ihrer eigenen wirtschaftlichen Nöte wahrgenommen. Die Immobilienkrise und die anschließende Rezession in den frühen Obama-Jahren haben Afroameri­kaner hart getroffen. Für viele Schwarze war der Rassismus gegen Obama ein Symptom dafür, dass das Problem der color line, also der hierarchischen Trennlinie zwischen Schwarzen und Weißen, nie gelöst worden war. Der Hashtag #BlackLivesMatter richtete sich auch gegen die Behauptung der Konservativen, mit Obamas Wahl sei ein »­postrassistisches« Zeitalter angebrochen, in dem die Hautfarbe keine Rolle mehr spiele.

Im Kontext der Polizeigewalt, aber auch der Gewalt von selbsternannten Gesetzeshütern, bestand Black Lives Matter darauf, dass Schwarze das Recht auf gleichen Schutz vor dem Gesetz haben – also schlicht, dass die US-Verfassung tatsächlich durchgesetzt wird. Das ist ein ehrenwertes, liberales Ziel. Bis heute sind zwar die Methoden und der Tonfall militant, doch die grund­legende Forderung von Black Lives Matter, nämlich dass schwarze Bürger das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz haben, ist im Grunde liberal.

Seit Jahren gibt es in der US-amerikanischen Linken eine Diskussion über die Verbindung von Antirassismus und Klassenpolitik. Der Politikwissenschaftler Adolph L. Reed Jr. schrieb 2016: »Antirassismus ist nicht einfach eine andere egalitäre Alternative zur Klassenpolitik, sondern es ist eine Klassenpolitik«, nämlich die Klassenpolitik der wohlhabenden, gebildeten Schichten. Er bezeichnete Antirassismus sogar als »den linken Flügel des Neoliberalismus«. Was denken Sie über diese Analyse, und wie passt sie zu den Protesten von 2020?

Wie üblich bei Reed ist das eine perfekt passende Intervention in die derzeitigen Debatten. In diesen gilt race und nicht die Klassenzugehörigkeit als entscheidende soziale Kluft der US-amerikanischen Gesellschaft. Wenn Reed Antirassismus als eine Art von Klassenpolitik bezeichnet, meint er ­damit zwei eng miteinander verbundene Aspekte. Zum einen das ideolo­gische Manöver der Liberalen, die während des Kalten Kriegs und bis heute race vom Kapitalismus losgelöst haben. Und außerdem die entsprechende ­politische Tendenz bei Liberalen und sogar einigen Sozialisten, die sich auf antirassistisches Getue konzentrieren, wie etwa die Forderung nach Repara­tionszahlungen für Schwarze, auf Kosten von universellen Forderungen, die der Mehrheit der US-amerikanischen Arbeiterklasse zugutekämen. Dabei könnten gerade diese Art demokratisch-sozialistischen Reformen die Grund­lage für eine breite Koalition gegen das gegenwärtige Polizei- und Gefängnissystem legen.

Allerdings weisen die PR-Manöver und Investitionen, die Konzerne und Non-Profit-Organisationen seit den Protesten 2020 getätigt haben, eher in die andere Richtung – hin zu ein paar kleinteiligen Reformen, aber weg von den radikaleren Forderungen der Anti-Gefängnis-Bewegung. Schon im Juni 2020 haben Unternehmen etliche Hundert Millionen Dollar für antirassistische Initiativen versprochen. Warner, Sony Music und Walmart versprachen damals, jeweils 100 Millionen Dollar zu spenden. Apple versprach 100 Millionen Dollar für eine Initiative für »­racial equity and justice«. Google versprach 175 Millionen Dollar, vor allem für Initiativen für schwarze Unternehmerinnen und Unternehmer. Youtube kündigte an, 100 Millionen Dollar auszugeben, um schwarze Stimmen in den Medien zu unterstützen.

Welche Institutionen und Organisationen sind durch die BLM-Proteste entstanden?

Black Lives Matter hat 2020 an zahlreichen Orten einen Sturm der politischen Organisierung angestoßen – vor allem in großen Städten, aber auch in Kleinstädten und sogar Vorstädten. Der Effekt davon wird wohl sein, immer weitere Bevölkerungsteile zu politisieren und für die Probleme der Polizeigewalt und der rassistischen Ungleichheit zu sensibilisieren. Das kann jedoch in unterschiedliche Richtungen gehen. An Orten, wo es eine gut organisierte Linke gibt – ob Gewerkschaften oder Kampagnen gegen Gentrifizierung, für Abtreibungsrechte oder für Rechte von Migranten –, kann man erwarten, dass sich BLM in eine eher kosmopolitische und sogar antikapitalis­tische Richtung entwickelt. Meinem Eindruck nach ist das an Orten wie Chicago und Oakland der Fall.

»Die Erfinderinnen des Slogans ›Black Lives Matter‹ im Jahr 2013 waren, genauso wie zahlreiche prominente Akteure der Proteste, eng mit dem Non-Profit-Sektor verbunden.«

Andernorts, wo es weniger linke In­frastruktur gibt, haben BLM-Gruppen zur Politisierung und zum Aufbau einer Protestbewegung beigetragen. Sie fungierten als eine Art Bewegungsschule für junge Leute und andere, die vorher nicht politisiert waren. Dabei besteht immer das Risiko, dass sich das in Richtung identitärer Politik entwickelt. Aber es hängt immer vom Kontext ab – von den linken Kräften, die es schon vor BLM gab, und wie diese mit den Anti-Polizei-Protesten interagiert haben.

Seit 2020 haben allein die 50 größten amerikanischen Konzerne und ihre Stiftungen 4,2 Milliarden Dollar für als antirassistisch deklarierte Anliegen gespendet. Welchen Einfluss haben Stiftungen und Non-Profit-Organisationen, also private, gemeinnützige Organisationen, auf antirassistische Politik in den USA?

Non-Profit-Organisationen sind in der amerikanischen Gesellschaft immer mächtiger und einflussreicher geworden. Mit der Demontage des alten ­Sozialstaats haben sie eine immer größere Rolle beim Umgang mit verschiedenen sozialen Problemen eingenommen: Armut, rassistische Ungleichheit, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit und so weiter. Sie trugen auch oft zur Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge bei. Besonders deutlich wurde das in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina. Dort spielten Non-Profit-Organisationen eine große Rolle beim Wiederaufbau. Sie trugen dazu bei, die meisten verbliebenen Sozialwohnungen abzureißen und alle öffentlichen Schulen der Stadt in sogenannte charter schools umzuwandeln (Privatschulen, die von Non-Profit-Organisationen betrieben, aber von der öffentlichen Hand finanziert werden, Anm. d. Red.). Es war der erste Schulbezirk in den USA, in dem es nur noch charter schools gab. Black Lives Matter ist in diesem Kontext neoliberaler Politik entstanden. Die Erfinderinnen des Slogans »Black Lives Matter« im Jahr 2013 waren, genauso wie zahlreiche prominente Akteure der Proteste, eng mit dem Non-Profit-Sektor verbunden. Das bedeutet nicht, dass alles, was Akti­vistinnen und Aktivisten aus der Non-Profit-Welt tun, wertlos ist. Aber wenn man bedenkt, wie sehr Non-Profit-Organisationen dazu beitrugen, die Neo­liberalisierung voranzutreiben – warum sollte man dann erwarten, dass aus diesen Verbindungen irgendeine Art antikapitalistischer Politik entstehen könnte?

Die US-Konservativen betreiben seit einigen Monaten eine Kampagne gegen die sogenannte Critical Race Theory – eigentlich keine kohärente Theorie, sondern ein Bündel antirassistischer Theorieansätze –, von der Republikaner behaupten, sie würde an US-amerikanischen Schulen unterrichtet. Wie ist das einzuordnen?

Die Rechten springen in ihren Kulturkämpfen von einem Schreckgespenst zum nächsten. Das ist vor allem eine Wahlkampfstrategie, mit der sie ein Gefühl der Entfremdung in manchen Teilen der Bevölkerung ansprechen – vor allem weiße, wenig weltgewandte Menschen, die den wohlhabenden Nachkriegszeiten hinterhertrauern. Aber dennoch – und trotz meiner ­eigenen Bedenken hinsichtlich der Critical Race Theory – ist dies eine ­gefährliche Entwicklung. Die Kampagne gegen die Critical Race Theory er­innert inzwischen an die Kommunistenverfolgung der McCarthy-Ära. Selbst wenn ich mit der Critical Race Theory nicht übereinstimme – und schon gar nicht mit der dummen Karikatur, welche die Rechten davon verbreiten –, muss dieser Dämonisierung der Linken und diesen Versuchen, die offene Debatte und Meinungsäußerung zu zensieren, direkt begegnet und sie zurückgeschlagen werden. Die Versuche der Republikaner, Lehrpläne zu zensieren, Akademiker zum Schweigen zu bringen und die öffentliche Debatte zu ersticken, sind eine echte Gefahr für die liberale Demokratie, und wenn wir uns nicht für die Verteidigung demokratischer Institutionen einsetzen, gibt es für die Linke in den USA kaum eine Hoffnung.

Im Sommer 2020 hat es überall auf der Welt Black-Lives-Matter-Demonstrationen gegeben, auch in Berlin. In Deutschland und anderen Ländern trifft man immer häufiger auf antirassistische Konzepte und Theorien, die ursprünglich aus den USA stammen. Was denken Sie darüber?

Es zeigt wohl, dass Menschen in verschiedenen Ecken der Welt von US-amerikanischen Bewegungen und Kämpfen inspiriert sind, auch wenn sie die US-Gesellschaft womöglich nicht besonders gut verstehen. Aber Ähnliches gilt ja auch für viele Amerikaner, die 2020 auf die Straße gegangen sind. Eine antirassistische Haltung einzunehmen, ist einfach, und es ist ein schneller Weg, sich persönlich von schrecklichen Verbrechen der Vergangenheit zu distanzieren. Ich bin mir sicher, dass viele, die in Deutschland BLM-Slogans verwenden, aufrichtig hoffen, der schrecklichen deutschen Vergangenheit zu entkommen und eine gerechtere, egalitäre Gesellschaft aufzu­bauen.

Das Problem dabei ist, dass dies sehr schnell in eine Politik der Selbstverwirklichung abrutschen kann, wie sie allzu gut zu unserer kapitalistischen Gesellschaft passt. »Whiteness-Therapiegruppen«, offizielle Entschuldigungen für historische Verbrechen, die Umbenennung von Straßen, das Errichten neuer Monumente an Stelle der Statuen von Kolonialisten und Sklavenhaltern – das alles sind auf den ersten Blick noble Akte. Aber zumindest im US-amerikanischen Kontext sind viele eher bereit, so etwas zu unterstützen als etwa eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Aber ohne antikapitalistische Politik ist der Rest im Grunde nur ein Schattentheater. In den USA ist das manchmal geradezu ­erschreckend. Die Dominanz der Identitätspolitik in der Linken hat auch den Aufstieg der Identitätspolitik in der Rechten befördert. Viele Linke haben jegliche Hoffnung aufgegeben, breite Bevölkerungsschichten für ihre Sache zu gewinnen. Viele stellen sogar die Möglichkeit einer breiten sozialistischen Koalition grundsätzlich in Frage. Oft verleumden sie auch die historischen politischen Bewegungen, die über die Grenzen der »Rasse« hinweg soli­darisch waren und für universelle soziale Rechte gekämpft haben. Dabei ­haben auch diese die Geschichte der USA immer wieder geprägt.
 

Cedric Johnson

Cedric Johnson ist Professor für Politikwissenschaft und African American Studies an der University of Illinois in Chicago. Er schreibt für verschiedene linke Publikationen und ist Autor mehrerer Bücher, darunter »Revolutionaries to Race Leaders: Black Power and the Making of African American Politics« (2007). Im Februar erscheint bei Verso Books sein neues Buch, »The Panthers Can’t Save Us Now: Debating Left Politics and Black Lives Matter«.