Wenn der Boykott diplomatisch ist
Mao Zedong hatte da mal eine Frage: Ob man es gutheißen könne, fragte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas 1944, »dass irgendein politischer Schmutz unser reines Antlitz befleckt, dass irgendwelche politischen Mikroben unseren gesunden Körper anfressen?« Die derzeitigen Versuche der chinesischen Regierung, im Rahmen der Olympischen Winterspiele in Peking, die am Freitag eröffnet werden, ausländische Kritik abzuwehren, rufen Maos Worte ins Gedächtnis. »China lehnt die Politisierung des Sports entschieden ab«, heißt es immer wieder von chinesischen Regierungsvertretern. In Maos Sinne könnte man der Kommunistischen Partei China zu ihrem Erfolg gratulieren: »Politischer Schmutz« wurde ferngehalten, das Führungspersonal der meisten westlichen Staaten reist nicht nach Peking.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und die Sportministerin Nancy Faeser (SPD) nannten persönliche Gründe für ihr Nichterscheinen, doch verschiedene Regierungen, allen voran die der USA, Großbritanniens, Kanadas und Australiens, bezeichnen ihre Absenz offiziell als »diplomatischen Boykott« und begründen sie mit den Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Region Xinjiang.
Die Volksrepublik China hat die Olympischen Spiele selbst lange aus politischen Gründen boykottiert.
Der Begriff des diplomatischen Boykotts irritiert, bezeichnete er doch bislang meist den vollständigen Abbruch oder das Einfrieren diplomatischer Beziehungen. So galten die Sanktionen etlicher Regierungen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika als »diplomatischer Boykott«. Eine weichere Definition des Begriffs setzte sich ab 2000 durch, als die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) von Jörg Haider mit der christdemokratischen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) eine Regierung bildete und viele Staaten keine Gespräche auf höchster Ebene mehr mit Österreich abhielten.
Der Begriff »Olympiaboykott« bezeichnete bisher allerdings die Nichtteilnahme von Sportlern einer oder mehrerer Nationen an Olympischen Spielen. Dass Regierungen »ihre Sportler« nicht zu Wettkämpfen entsenden, kam in der Geschichte der Olympischen Spiele oft vor, doch galten solche Sportboykotte bislang als ein derart weiches Mittel staatlicher Sanktionierung, dass sie meist kaum beachtet wurden. An den Olympischen Spielen 1936 in Berlin beispielsweise, der großen Propagandashow der Nazis, nahmen zwar viele europäische Länder und die USA teil; die spanische Republik jedoch verweigerte ihre Teilnahme, und etliche Weltklassesportler boykottierten die Veranstaltung individuell. Doch bis heute heißt es meist, die Nazispiele seien nicht boykottiert worden.
Die Sportöffentlichkeit assoziiert Olympiaboykott vor allem mit den Sommerspielen 1980 in Moskau, denen wegen der sowjetischen Invasion in Afghanistan viele Staaten fernblieben – neben den Nato-Mitgliedern USA, Kanada, Bundesrepublik und Norwegen vorwiegend islamisch geprägte Länder –, und dem Gegenboykott vieler Staaten des Warschauer Pakts bei den folgenden Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles. Erfolgreich waren diese Boykotte nicht, sie führten nicht einmal zu einer sportlichen Entwertung der Großereignisse. In Moskau wurden 36 Weltrekorde gebrochen, so viele wie nie zuvor, und der Konkurrenzkampf der britischen Läufer Sebastian Coe und Steve Ovett über 800 und 1 500 Meter ging in die Sportgeschichte ein. In Los Angeles prägten die vier Siege von Carl Lewis (USA) in der Leichtathletik und von Ecaterina Szabó (Rumänien) im Turnen das Ereignis. Mit 140 Nationen konnte sogar ein Teilnehmerrekord aufgestellt werden.
Als vermeintliche Lehre der gescheiterten Boykotte von 1980 und 1984 gilt, dass »die Politik« nicht »den Sport« in irgendeiner Weise »instrumentalisieren« dürfe, wie es oft heißt. Sport habe nichts mit Politik zu tun, das sagen westliche Regierungen und das Internationale Olympische Komitee (IOC) genauso wie die Kommunistische Partei Chinas und Menschenrechtsgruppen. »Politisierung des Sports« werfen sich die verschiedenen Seiten vielmehr gegenseitig vor.
Dabei hat die Volksrepublik China lange selbst die Olympischen Spiele aus politischen Gründen boykottiert. Nach den Spielen von 1952 nahmen chinesische Sportler erstmals wieder an den Winterspielen 1980 in Lake Placid (USA) teil, die Sommerolympiade in Moskau boykottierte jedoch auch China. Das Nationale Olympische Komitee der Volksrepublik war erst 1954 vom IOC anerkannt worden, doch 1956 in Melbourne blieb die Volksrepublik aus Protest dagegen fern, dass die Republik China, besser bekannt als Taiwan, ebenfalls an den Spielen teilnahm. Die Delegation der Volksrepublik reiste erst einen Tag vor der Schlusszeremonie an; immerhin am Kulturprogramm war die Volksrepublik beteiligt. 1958 trat China wieder aus dem IOC aus.
An Gegenveranstaltungen zu den Olympischen Spielen, wie den »Games of the New Emerging Forces«, die 1962 von Indonesiens Diktator Sukarno ausgerufen wurden, um das IOC herauszufordern, hatte sich die Volksrepublik China jedoch in der Zwischenzeit beteiligt. Und 1968 versicherte die Volksrepublik China den in Mexiko im Namen von »Black Power« protestierenden US-Sportlern ihre Solidarität. Ab 1984 nahm sie auch an den Sommerspielen wieder teil.
Heutzutage verbittet sich China jegliche Politisierung des Sports. So auch im Jahr 2008, als in Peking die Sommerspiele abgehalten wurden. Bereits damals gab es eine starke Boykottbewegung: Die Behandlung der Uiguren spielte international zwar noch keine große Rolle, doch die sogenannte Free-Tibet-Bewegung war international aktiv. China wurde auch für seine jahrelange Unterstützung der sudanesischen Regierung kritisiert, die im Bürgerkrieg in der Region Darfur heftige Menschenrechtsverletzungen verübte. Die Zumutungen, die Olympische Spiele für die Bevölkerung am Austragungsort immer mit sich bringen, waren 2008 in Peking noch ausgeprägter als in diesem Jahr. Weite Teile der Bevölkerung wurden aus der Pekinger Innenstadt vertrieben, NGOs sprachen von 1,5 Millionen Umgesiedelten, die chinesischen Behörden bestätigen offiziell die Umsiedlung von 6 000 Haushalten.
Gleichwohl hofften westliche Kommentatoren, die Olympischen Spiele 2008 in Peking würden zu einer Liberalisierung beitragen sowie dazu, die Menschenrechtslage zu verbessern und soziale Standards zu heben; damals waren auch westliche Regierungen in dieser Hinsicht noch optimistisch. Doch das Gegenteil trat ein: Staatliche Unterdrückung sei bereits bei der Vorbereitung der Spiele verschärft worden, berichtete Amnesty International, und gerade die Sicherheitserfordernisse der Olympischen Spiele hätten den Ausbau des Repressionsapparats legitimiert, kritisierte Human Rights Watch. Die Spiele selbst waren eine »vollständig kontrollierte Sportveranstaltung in einem quasimilitärischen Areal«, wie es der Sportkolumnist Thomas Boswell von der Washington Post ausdrückte. Wie China sich Westorientierung vorstellte, drückte sich darin aus, westliche Firmen an der Aufrüstung durch Sicherheitstechnik zu beteiligen.
In diesem Jahr kommt noch die Covid-19-Pandemie hinzu. War es 2008 für Sportler, Touristen und Journalisten noch möglich, sich in Peking halbwegs frei zu bewegen, wird diesmal, begründet mit dem Infektionsschutz, für eine hermetisch abgeschlossene Blase gesorgt.
Die internationale Boykottbewegung wendet sich nicht nur an Regierungen und das IOC, das für sich wie immer politische Neutralität reklamiert, sondern auch an Sponsoren wie Airbnb, das bis 2028 offizieller Sponsor der Olympischen Spiele ist. Dessen Geschäftsmodell, die Vermittlung von Ferienwohnungen, passt überhaupt nicht zu den Vorgaben Pekings: Ausländische Besucher in Privatwohnungen unterzubringen, ist zwar nicht explizit verboten, aber Journalisten und Touristen sollen in besonders ausgewählten Hotels wohnen und sie dürfen sich nur in für sie ausgewiesenen Bussen fortbewegen. Alle Besucher und Teilnehmer müssen die vorgeschriebene App My2022 verwenden, die auch einen Messaging-Dienst enthält und vor der Datenschützer eindringlich warnen.
Die Situation ist vertrackt: Olympiaboykotte haben in den allermeisten Fällen keine Erfolge gebracht, die meisten sind vergessen oder wurden kaum beachtet, und von »diplomatischen Boykotten« werden Effekte gar nicht erst erwartet; sie sind reine Symbolpolitik. Zugleich dominieren westliche Interessen an einer weiteren ökonomischen Einbindung Chinas in den Weltmarkt derart, dass kein politischer Wille entstehen kann, ein Riesenereignis wie die Olympischen Spiele wirklich zu behindern. Und dann ist da noch der Weltkonzern IOC, der die Verwertungsrechte an den Spielen besitzt, und trotz Corona- und Menschenrechtsdebatten alle Verpflichtungen gegenüber seinen Sponsoren zu erfüllen versucht. Dafür hat das Komitee selbstverständlich kein Interesse an politischen oder gar moralischen Einschränkungen und Debatten: Die Spiele sollen stattfinden.