Ein Brief aus Kiew

An die Linke im Westen

Der "Anti-Imperialismus der Idioten" führte dazu, dass viele vor Russlands Taten die Augen verschlossen.

Freitag, 25. Februar, Kiew. 

Ich schreibe diese Zeilen in Kiew, während die Stadt unter Artilleriebeschuss ist.

Bis zum letzten Moment hatte ich die Hoffnung, dass russische Truppen keine großangelegte Invasion beginnen werden. Jetzt kann ich nur jenen danken, die die Information darüber an die US-Geheimdienste weitergeleitet hatten.

Gestern verbrachte ich den halben Tag damit, darüber nachzudenken, ob ich mich zu einer territorialen Verteidigungseinheit melden solle. In der folgenden Nacht unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij einen Befehl zur vollständigen Mobilisierung und russische Truppen rückten auf Kiew vor, um die Stadt einzukesseln, wodurch die Entscheidung für mich getroffen wurde.

Doch bevor ich meinen Posten aufnehme, würde ich gerne der Linken im Westen mitteilen, was ich über ihre Reaktionen auf Russlands Aggression gegen die Ukraine denke.

Immer und immer wieder hat die westliche Linke auf Kritik an Russland reagiert, indem sie die US-Aggressionen gegen Afghanistan, den Irak und andere Staaten benannte.

Erstens danke ich all jenen Linken, die jetzt vor russischen Botschaften demonstrieren – selbst jenen, die erst spät merkten, dass Russland der Aggressor in diesem Konflikt ist.

Ich danke allen Politikern, die es unterstützen, Druck auf Russland ausüben, dass es die Invasion beendet und seine Truppen zurückzieht.

Ich danke der Delegation von britischen und walisischen Abgeordneten, Gewerkschaftern und Aktivisten, die wenige Tage vor der russischen Invasion zu uns gekommen waren, um uns zu unterstützen und uns zuzuhören.

Ich danke auch der Ukraine Solidarity Campaign in Großbritannien für ihre Hilfe über viele Jahre.

Dieser Artikel handelt von dem anderen Teil der Linken im Westen. Er handelt von jenen, die an eine "Nato-Aggression in der Ukraine" glaubten, und die die russische Aggression nicht sehen konnten – wie beispielsweise die Chapter von New Orleans der Democratic Socialists of America (DSA).

Oder das Internationale Komitee der DSA, das am 31. Januar ein schändliches Statement veröffentlichte, welches nicht ein kritisches Wort gegenüber Russland enthält. (Ich bin dem US-Professor und Aktivisten Dan la Botz und anderen dankbar für ihre öffentliche Kritik an diesem Statement.)

Oder die, die die Ukraine dafür kritisierten, das Minsker Abkommen nicht umzusetzen, die aber dazu schwiegen, wie Russland und die sogenannten "Volksrepubliken" dieses Abkommen verletzten.

Oder die, die den Einfluss der extremen Rechten in der Ukraine übertrieben, aber nicht die Rechtsextremen in den "Volksrepubliken" bemerkten, und Putins konservative, nationalistische und autoritäre Politik nicht kritisierten.

Solche Positionen sind Teil eines allgemeineren Phänomens in der westlichen "Anti-Kriegs"-Bewegung, das Kritiker auf der Linken gewöhnlich "campism" nennen. Die britisch-syrische Autorin und Aktivistin Leila Al-Shami fand dafür einen noch stärkeren Begriff: der "Anti-Imperialismus der Idioten." Ich fordere alle, die es noch nicht getan haben, dazu auf, ihren 2018 veröffentlichten, wunderbaren Essay mit diesem Titel zu lesen. Ich wiederhole hier nur dessen zentrale These: die Aktivität eines großen Teiles der westlichen "Anti-Kriegs"-Linken im Kontext des Kriegs in Syrien richtete sich gar nicht darauf, den Krieg zu beenden. Sie richtete sich nur gegen die westliche Einmischung, während die Intervention von Russland und dem Iran ignoriert oder sogar unterstützt wurde, nicht zu schweigen von der Einstellung einiger zum "legitim gewählten" Assad-Regime in Syrien.

"Eine Reihe von Antikriegsorganisationen haben ihr Schweigen über die russische und die iranische Intervention damit begründet, dass 'der Hauptfeind im eigenen Land steht'", schrieb Al-Shami. "So drücken sie sich darum, eine ernste Analyse der Machtverhältnisse anzustellen, um zu bestimmen, wer tatsächlich die treibenden Akteure im Krieg sind."

Leider hörten wir dasselbe ideologische Klischee auch in Bezug auf die Ukraine. Selbst nachdem Russland Anfang der Woche die Unabhängigkeit der sogenannten "Volksrepubliken" anerkannt hatte, schrieb Branko Marcetic im US-amerikanischen Magazin Jacobin einen Artikel, der sich fast vollkommen darauf konzentrierte, die USA zu kritisieren. In Bezug auf Putins Intentionen ging er nur soweit, anzumerken, dass der der Präsident Russlands "signalisierte, dass er weniger als wohlwollende Ambitionen hat." Ernsthaft?

Ich bin kein Fan der Nato. Ich weiß, dass der Block nach dem Ende des Kalten Krieges seine defensive Funktion verlor und aggressive Strategien verfolgte. Ich weiß, dass die Osterweiterung der Nato Versuche der nuklearen Abrüstung und der Schaffung eines gemeinsamen Sicherheitssystems unterminiert hat. Die Nato versuchte, die Rolle der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu marginalisieren und sie als "ineffiziente Organisationen" zu diskreditieren. Aber wir können die Vergangenheit nicht zurückbringen, wir müssen uns an den derzeitigen Umständen orientieren, wenn wir einen Ausweg aus dieser Situation finden wollen.

Wie oft hat die westliche Linke an die informellen Versprechen von US-Regierungsvertretern an den damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow über die Nato-Erweiterung erinnert, und wie oft an das 1994 unter anderem von Russland unterzeichnete Budapester Memorandum, das die ukrainische Souveränität garantierte? Wie oft hat die westliche Linke die "legitimen Sicherheitsinteressen" Russlands unterstützt, eines Staates, der über das zweitgrößte Nukleararsenal der Welt verfügt? Und wie oft hat sie die Sicherheitsinteressen der Ukraine in Erinnerung gerufen, eines Staates, der unter dem Druck der USA und Russlands seine Nuklearwaffen aufgeben musste und dafür bloß ein Stück Papier bekam, das Budapester Memorandum, das Putin 2014 endgültig mit Füßen trat? Ist den linken Kritikern der Nato je eingefallen, dass die Ukraine das eigentliche Opfer der Veränderungen ist, die die Nato-Erweiterung herbeigeführt hat?

Immer und immer wieder hat die westliche Linke auf Kritik an Russland reagiert, indem sie die US-Aggressionen gegen Afghanistan, den Irak und andere Staaten benannte. Sicher, diese Staaten müssen Teil dieser Diskussion sein – aber auf welche Weise?

Die Argumentation der Linken sollte sein, dass 2003 andere Regierungen nicht genug Druck auf die USA wegen des Iraks ausgeübt haben. Nicht, dass es jetzt notwendig sei, weniger Druck auf Russland auszuüben.

Ein offensichtlicher Fehler
Stellt euch für einen Moment vor, die russische Regierung hätte im Jahr 2003, als die USA die Invasion des Iraks vorbereiteten, ähnlich reagiert wie die USA in den vergangenen Wochen: mit Eskalationsdrohungen.

Und nun stellt euch vor, dass die russische Linke in dieser Situation nach dem Dogma "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" gehandelt hätte. Hätte sie die russische Regierung für die "Eskalation" kritisieren und ihr sagen sollen, sie solle nicht die "inter-imperialistische Widersprüche verschärfen"? Jeder weiß, dass so ein Verhalten in diesem Fall ein Fehler gewesen wäre. Warum war das nicht offensichtlich im Fall der russischen Aggression gegen die Ukraine?

Es wird keinen Kompromiss mehr geben. Putin kann planen, was er will, aber selbst wenn Russland Kiew besetzt und eine Besatzungsregierung installiert, werden wir Widerstand leisten.

In einem anderen Artikel in Jacobin, der Anfang dieses Monats veröffentlich wurde, ging Marcetic so weit, zu sagen, der Fox-News-Star Tucker Carlson liege "völlig richtig" was die "Ukrainekrise" betreffe. Carlson hätte nämlich "die strategische Bedeutung der Ukraine für die USA" infrage gestellt. Selbst Tariq Ali zitierte auf der Webseite der Zeitschrift New Left Review zustimmend den deutschen Admiral Kay-Achim Schönbach, der sagte, dass es "wenig kosten, sogar gar nichts kosten" würde, Putin in der Ukrainefrage "Respekt" zu zollen, in Anbetracht der Tatsache, dass Russland ein nützlicher Verbündeter gegen China sein würde. Meint ihr das ernst? Wenn die USA und Russland sich einigen und einen neuen Kalten Krieg gegen China beginnen würden, wäre das wirklich das, was wir wollen?

Die UN reformieren
Ich bin kein Fan des liberalen Internationalismus. Sozialisten sollten ihn kritisieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Aufteilung der Welt zwischen imperialistischen Staaten in "Interessenssphären" unterstützen sollten. Anstatt nach einer neuen Balance zwischen den zwei Imperialismen zu suchen, sollte die Linke für die Demokratisierung der internationalen Sicherheitsordnung kämpfen. Wir brauchen eine weltweite Politik und ein globales System der internationalen Sicherheit. Wir haben das letztere bereits: es sind die Vereinigten Nationen. Ja, die UN hat ihre Fehler, und sie wird oft zurecht kritisiert. Aber es ist möglich, etwas zu kritisieren, entweder um es abzulehnen oder um es zu verbessern. Im Fall der UN ist das letztere nötig. Wir brauchen eine linke Vision der Reform und der Demokratisierung der UN.

Sicher bedeutet das nicht, dass die Linke alle Entscheidungen der UN unterstützen sollte. Aber eine allgemeine Stärkung der Rolle der UN in der Lösung bewaffneter Konflikte würde der Linken erlauben, die Bedeutung von militärisch-politischen Allianzen zu verringern und die Zahl der Opfer zu reduzieren. (In einem früheren Artikel habe ich geschildert, wie UN-Friedenstruppen hätten helfen können, den Donbass-Konflikt zu lösen. Leider ist das nun hinfällig.) Schließlich brauchen wir die UN auch, um die Klimakrise und andere globale Probleme zu lösen. Die Zögerlichkeit vieler Linker weltweit, an sie zu appellieren, ist ein schrecklicher Fehler.

Nachdem russische Truppen in die Ukraine einmarschiert waren, schrieb der Europaredakteur von Jacobin, David Broder, dass die Linke "sich nicht dafür entschuldigen sollte, gegen eine militärische Antwort der USA zu stehen." Das war jedoch sowieso nie Bidens Intention, wie er schon zahlreiche Male gesagt hatte. Aber ein großer Teil der westlichen Linken sollte ehrlich zugeben, dass er es vollkommen verschissen hat, eine angemessene Antwort auf die "Ukrainekrise" zu formulieren.

Meine Perspektive
Ich werde damit schließen, kurz über mich und meine Perspektive zu schreiben.

In den letzten acht Jahren war der Krieg im Donbass das Hauptthema, das die ukrainische Linke gespalten hat. Jeder von uns hat seine Position unter Einfluss von persönlichen Erfahrungen und anderen Faktoren formuliert. Somit hätten andere ukrainische Linke diesen Artikel anders geschrieben.

Ich wurde im Donbass geboren, in eine ukrainischsprachige und nationalistische Familie. Mein Vater war in den neunziger Jahren, als er den wirtschaftlichen Niedergang der Ukraine mit ansah, und die Bereicherung der ehemaligen Parteiführung der Kommunistischen Partei, die er als Oppositioneller seit Mitte der achtziger Jahre bekämpft hatte, in der extremen Rechten involviert. Natürlich hat er sehr antirussische, aber auch antiamerikanische Ansichten. Ich erinnere mich immer noch an seine Worte am 11. September 2001. Er schaute im Fernsehen den in sich zusammenstürzenden Twin Towers zu und sagte, die dafür Verantwortlichen seien "Helden" (heute denkt er anders darüber – er glaubt, die Amerikaner hätten das World Trade Center selbst in die Luft gesprengt.)

Als 2014 der Krieg im Donbass begann, meldete sich mein Vater als Freiwilliger für eines der Freiwilligenbatallione, meine Mutter floh aus Luhansk, und mein Großvater und meine Großmutter blieben in ihrem Dorf, das unter die Kontrolle der sogenannten "Volksrepublik Lugansk" fiel. Mein Großvater verurteilte die ukrainische Euromaidan-Revolution. Er unterstützt Putin, der, wie er sagt, "in Russland die Ordnung wieder hergestellt hat". Trotz alldem versuchen wir alle weiterhin miteinander zu sprechen (wenn auch nicht über Politik), und uns gegenseitig zu helfen. Ich versuche, einfühlsam und sympathisierend mit ihnen zu sein. Schließlich arbeiteten mein Großvater und meine Großmutter ihr ganzes Leben auf einer Kolchose, einem landwirtschaftlichen Kollektivbetrieb. Mein Vater war ein Bauarbeiter. Das Leben war nicht sanft zu ihnen.

Die Ereignisse seit 2014 – Revolution, gefolgt von einem Krieg – drängten mich in die entgegengesetzte Richtung als die meisten Menschen in der Ukraine. Der Krieg tötete jeden Nationalismus in mir und drängte mich zur Linken. Ich wollte für eine bessere Zukunft für die Menschheit kämpfen, und nicht für meine Nation. Meine Eltern, mit ihrem post-sowjetischen Trauma, verstehen meine sozialistischen Ansichten nicht. Mein Vater ist herablassend gegenüber meinem "Pazifismus", und wir hatten hässliche Gespräche, nachdem ich mit einem Schild auf einer antifaschistischen Kundgebung war, auf dem ich die Auflösung des rechtsextremen Asow-Regimentes forderte.

Als Wolodymyr Selenskij im Frühling 2019 Präsident der Ukraine wurde, hoffte ich, dass das die Katastrophe verhindern könnte, die sich jetzt abspielt. Schließlich würde es schwierig sein, einen russischsprachigen Präsidenten zu dämonisieren, der mit dem Programm eines Friedensschlusses im Donbass angetreten war, und dessen Witze unter Russen genauso beliebt waren wie unter Ukrainern. Leider habe ich mich geirrt. Selenskijs Wahlsieg hat die Einstellung vieler Russen zur Ukraine verändert, aber das hat den Krieg nicht verhindert.

In den vergangenen Jahren habe ich über den Friedensprozess und über zivile Opfer auf beiden Seiten des Donbasskrieges geschrieben. Ich habe versucht, mich für Dialog einzusetzen. Aber das ist jetzt alles in Rauch aufgegangen. Es wird keinen Kompromiss mehr geben. Putin kann planen, was er will, aber selbst wenn Russland Kiew besetzt und eine Besatzungsregierung installiert, werden wir Widerstand leisten. Der Kampf wird solange weitergehen, bis Russland die Ukraine verlässt und für alle Opfer und alle Zerstörung bezahlt.

Deshalb richte ich meine letzten Worte an die russische Bevölkerung: beeilt euch und stürzt das Putin-Regime. Es ist in eurem Interesse wie in unserem.

 

Der Text wurde aus dem ukrainischen von Denys Gorbach übersetzt und erschien zuerst am 25. Februar auf openDemocracy 
Der Autor ist Redaktionsmitglied der linken Zeitschrift Spilne/Commons: Journal of Social Criticism