Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen wirken sich auf die Konflikte im Nahen Osten aus

Kein Anschluss für Biden

Der russische Angriff auf die Ukraine und die versuchte Wiederbelebung des Atomabkommens mit dem Iran beeinflussen die politischen Konflikte im Nahen Osten.

In Bashar al-Assads Syrien ist Wladimir Putins Welt noch heil. Der syrische Diktator bezeichnete die russische Invasion in der Ukraine als »Korrektur der Geschichte« und beflissene syrische Studenten stellten sich für Fotos der staat­lichen Nachrichtenagentur akkurat in Z-Form auf einem Rasen auf. Syrien scheint sogar eine praktikable Lösung anzubieten, um die hohen Verluste der russischen Armee zu kompensieren: Es gebe, so offizielle russische Stellen Mitte März, 16 000 freiwillige Kämpfer aus dem Nahen Osten, die man rekrutieren wolle. Und so beachtlich wie diese Zahl klang auch die Erklärung, die viele internationale Kommentatoren umgehend hinter der russischen Ankündigung sehen wollten; die erfahrenen Kämpfer aus Assads Eliteeinheiten ­seien für den Häuserkampf in Kiew vorgesehen.

Die Propaganda zumindest war erfolgreich, auch wenn die Eroberung der ukrainischen Hauptstadt bei der russischen Führung offenbar mittlerweile abgeschrieben ist. Aus militärischer Perspektive fallen zudem selbst die besseren Kämpfer Assads im Vergleich mit dem professionellen ukrai­nischen Militär eher in die Kategorie Kanonenfutter. Bisher zeugen nur ein paar Fotos syrischer Erkennungsmarken und Geldscheine von Gefallenen in der Ukraine von Verbindungen zu ­Syrien. Die Getöteten dürften dem ob­skuren russischen Söldnerunternehmen Gruppe Wagner angehört haben, das auch in Syrien aktiv ist.

2015 hat Putin mit dem militärischen Eingreifen in Syrien den Schritt zu einer neuen russischen Welt­machtpolitik getan. Der Einsatz lieferte das Vorbild für das militärische Vorgehen in der Ukraine.

Es gibt allerdings Hinweise von Syrern, dass sich zumindest einige Kämpfer aus Assads Machtbereich bereits in Belarus aufhalten sollen; einer wirklich umfangreichen Rekrutierung aus den Vorzeigeeinheiten Assads, der 4. Division unter dem Kommando seines Bruders oder den von Russen trainierten »Tiger Forces«, steht jedoch das Interesse des syrischen Regimes am ­eigenen Überleben entgegen. Kleinere Kontingente syrischer Kämpfer sind in den vergangenen Jahren von russischer Seite sowohl für den Einsatz in Libyen, in der Zentralafrikanischen Republik als auch in den russisch kontrollierten »Volksrepubliken« im Donbass angeworben worden. In Letzteren sollen die syrischen Kämpfer Berichten zufolge jedoch nur als eine Art Bausoldaten tätig geworden sein, ohne selbst zu kämpfen.

Ob syrische Kämpfer nun kommen oder nicht, Assads Aufgebot für die Ukraine erinnert an die enge Verbindung diese Krieges mit dem in Syrien. Abgesehen von den Nachbarstaaten Russlands mit den diversen Krisengebieten in Georgien oder Armenien ­gehört der Nahe Osten zu den Weltregionen, die von den Folgen des russischen Angriffskriegs am direktesten betroffen werden. Der Ausfall russischer und ukrainischer Getreidelieferungen droht viele Länder im Nahen Osten und im Maghreb zu destabilisieren. Ob Tunesien, Ägypten oder der Irak, sie alle sind von diesen Lieferungen abhängig und Brotrevolten drohen. Auch die Hilfslieferungen der Vereinten Nationen ins Dauerkatastrophengebiet Jemen basieren auf Getreide aus der Ukraine. Assads Syrien hat zudem eine der schlechtesten Ernten der vergangenen Jahrzehnte eingefahren, die Hauptanbaugebiete für Getreide stehen dort außerdem unter kurdischer Kontrolle. Und viel mehr als seine Soldateska hat Assad zum Export nicht anzubieten.

Die politische und militärische Situation in Syrien, wie im Grunde im gesamten Nahen Osten, wirkte in den vergangenen drei Jahren wie eingefroren. Substantiell hat sich kaum etwas bewegt. Wie der wirtschaftlich zusammengebrochene Libanon als Staat weiterlebt, bleibt ein Rätsel, die Lage im kriegs­gebeutelten Jemen charakterisieren die UN Jahr um Jahr mit immer den­selben Formulierungen als ungeheure humanitäre Katastrophe, und im Irak folgt eine Regierungskrise der anderen.

Der Krieg in der Ukraine könnte nun in der Region für Bewegung sorgen. Entscheidend ist, ob das System Putin unverändert weiterbestehen wird und inwieweit sich die bisherigen russischen Machtansprüche im Nahen Osten aufrechterhalten lassen. 2015 hat Putin mit dem direkten militärischen Eingreifen in Syrien den entscheidenden Schritt zu einer neuen russischen Weltmachtpolitik getan. Die folgende gnadenlose Kriegsführung lieferte das Vorbild für das militärische Vorgehen in der Ukraine: Systematische ­Angriffe auf lebenswichtige zivile Infrastruktur und die Bevölkerung und die daraus resultierenden Fluchtbewegungen gehörten schon in Syrien zum strategischen Kalkül. Und wo man nicht selbst Kriegsverbrechen beging, ermöglichte man sie dem Regime Assads.

Der Krieg in Syrien sorgte auch für das Image der russischen Streitkräfte, modern zu sein und hohe Schlagkraft zu besitzen. Tatsächlich basierte der russische Kriegseinsatz dort fast ausschließlich auf Luftangriffen gegen einen Gegner ohne jede Luftabwehr. Der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine wirft nun die Frage auf, wie lange die russische Luftwaffe Assads Herrschaft garantieren kann und wie lange die auch in Syrien längst mit dem »Z« bemalten russischen Panzerfahrzeuge noch zusammen mit der türkischen ­Armee ihre Patrouillen entlang der syrischen Nordgrenze fahren werden.

Dabei hatte Assad Anfang März scheinbar noch allen Grund, frohgemut in die Zukunft zu schauen; ausgerechnet zum Jahrestag der Demonstration, die den Aufstand gegen ihn 2011 ein­geleitet hatte, wurde er in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) als Staatsgast empfangen. Es war das erste Mal, dass der geächtete Präsident wieder von einem arabischen Land eingeladen wurde. Allerdings war Assad hier nur Mittel zum Zweck, dem Gastgeber VAE ging es wohl vor allem darum, die US-Regierung zu brüskieren. Dem Vernehmen nach erfuhr diese tatsächlich erst aus der Presse von der Einladung Assads. Auch Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman ließ die US-Regierung seine Unzufriedenheit spüren; ein von den USA gewünschtes Telefonat zwischen ihm und US-Präsident Joe Biden kam ebenso wenig zustande wie eines zwischen Biden und dem Kronprinz Mohammed bin Zayed al-Nahyan aus den Emiraten – in früheren Zeiten wäre solche Zurückweisung zwischen den engen Verbündeten praktisch unvorstellbar gewesen.

Weder Saudi-Arabien noch die Emirate begannen, wie von der US-Regierung erbeten, ihre Erdölproduktion zu erhöhen, um den Ölpreisanstieg aufgrund des Ukraine-Kriegs zu mildern. Die Verbitterung der Herrscher am Golf über die US-Regierung liegt an deren scheinbar unbändigem Willen, das iranische Regime mit entsprechenden Konzessionen zu einem erneuerten Atomabkommen zu bewegen. Gleichzeitig fühlt sich die saudi-arabische Führung wegen des scheiternden und perspektivlosen Kriegs im Jemen in die Enge getrieben. Die USA und ihre westlichen Verbündeten beklagen die humanitäre Katastrophe und kritisieren die saudischen Bombardements, während die jemenitischen Houthis mit iranischer Raketentechnik die ­militärische Verwundbarkeit der Saudis international vorführen. So begann Ende März ein Formel-1-Rennen in saudischen Jeddah mit spektaku­lären Qualmwolken am Horizont, nachdem die Houthis dort ein Tanklager mit ihren Raketen angegriffen hatten. Das waren dieselben Houthis, die von der Regierung Bidens von der Terrorliste gestrichen worden waren, um dem Iran Entgegenkommen zu signalisieren.

Der nächste Schlag für die Golfmonarchien wäre, auch die iranischen ­Revolutionsgarden von jener Liste zu streichen – eine Forderung, die das ­iranische Regime angeblich als eine Grundbedingung für ihre Zustimmung zum Atomabkommen genannt hat, wohl mit dem ausdrücklichen ­Zusatz, die Aktivitäten der Revolutionsgardisten in der Region in Zukunft keinesfalls beschränken zu wollen. Die Saudis haben wiederum bereits im vergangenen Jahr mit Russland demonstrativ ein Abkommen zur militärischen Kooperation unterschrieben und das russische Außenministerium hat Mitte Februar, keine zwei Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine, plötzlich die israelischen Luftangriffe in Syrien scharf kritisiert. Die enge russisch-israelische Kooperation in Hinblick auf Syrien – zwischen der israelischen Armee und der russischen Streitmacht in Syrien besteht ein ständiger Austausch, damit sie sich gegenseitig nicht in die Quere kommen – ist für Israels Angriffsmöglichkeiten auf den Iran und die Hizbollah extrem wichtig und erklärt zum Teil die zögerliche Verurteilung Putins durch die israelische Regierung.

Und so belauern sich nun die Konfliktparteien gegenseitig und harren des Fortgangs des Krieges in der Ukraine – seine Auswirkungen könnten die derzeitigen Verhältnisse im Nahen Osten grundlegend verändern.