Julian Radlmaier knöpft sich die Metapher vom »Blutsauger« vor

Das blutsaugende Gespenst

Julian Radlmaiers marxistische Vampirkomödie »Blutsauger« behandelt auf ebenso schlaue wie witzige Weise die Frage, ob man sich in den Verhältnissen einrichten oder sie bekämpfen soll. Von dem Filmtitel darf man sich auf keinen Fall abschrecken lassen: Die Metapher wird nach Strich und Faden auseinander­genommen.

Ein Vampir geht um. Arbeiter und Bauern werden mit blutenden Wunden tot aufgefunden. Was steckt dahinter? Eine Gruppe Arbeiter und Arbeiterinnen sitzt im Sommer 1928 am Ostseestrand und studiert Karl Marx. Im »Kapital« hofft das lesende Prole­tariat Erklärungen für die mysteriösen Bissmale seiner toten Genossen zu finden. Hat Marx nicht explizit geschrieben, dass der Kapitalist Blut saugt? Die illustre Marx-Lesegruppe diskutiert. Die schöne Fabrikbesitzerin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg), die die Sommermonate samt ihrem Diener am Meer verbringt, erscheint einigen verdächtig. Ist sie der Blutsauger, der in der Gegend sein Unwesen treibt? Andere Genossinnen und Genossen wiegeln ab. Marx meinte das ohnehin metaphorisch. Und schräg ist die antisemitisch konnotierte Metapher noch dazu.
Der Regisseur Julian Radlmaier greift den von Marx gewählten Vergleich des Kapitalisten mit dem Blutsauger auf, um ihn ganz wörtlich zu nehmen. Sein Film »Blutsauger« schlägt aus der missverstandenen Kapitalismuskritik helle Funken. Das Stilmittel, Sprachspiele, Metaphern und Diskurse in Bilder zu übersetzen, nutzt er nicht nur, um verborgene Zusammenhänge in ein grelles Licht zu rücken, sondern zuerst und vor allem, um so unterschiedliche Genres wie Revolutions- und Vampirfilm zusammenzubringen. Aus dieser Mixtur schöpft er erstaunliches erzählerisches Kapital.

Die von der Marx-Exegese der Lese­gruppe gerahmte Handlung setzt, wie eine Schrifteinblendung über dem Blau der Ostsee verrät, an ­»einem Dienstag im August 1928« ein. Ein Kitesurfer rauscht ins Bild und zeigt an, dass man es garantiert nicht mit einem Zwanziger-Jahre-Kostümfilm im Stil des Serienerfolgs »Babylon Berlin« zu tun hat. Zwar ist das Konzept, historisch grundierte Stoffe in gegenwärtigen Szenerien anzusiedeln und so Spannung zwischen erzählter Zeit und aktuellen Bildern zu erzeugen, mit Christian Petzolds Migrantendrama »Transit« (2018) und Dominik Grafs »Fabian oder Der Gang vor die Hunde« (2021) durchaus schon im deutschen Kino angekommen; an den Einfallsreichtum der marxistischen Vampirkomödie reichen diese Vorgänger aber kaum ­heran. Die Verfremdungseffekte schaffen die ästhetischen Bedingungen, um die Erfahrung der postrevolutionären Ernüchterung der Stalin-Zeit und das Aufkommen des Faschismus produktiv mit einem neuem Nachdenken über das Verhältnis von ­Arbeit, Freizeit und Muße zu verknüpfen, das Radlmaier schon in seinen früheren Filmen beschäftigt hat.

»Blutsauger« strotzt vor Fabulierlust und erhellendem Humor, reflektiert aber auch auf hohem Niveau über die Möglichkeiten des Mediums.

In drei Kapiteln mit je eigenen Erzählern entfaltet sich die Handlung: Der Sowjetbürger Ljowuschka (Aleksandre Koberidze) ist aus Faulheit Schauspieler geworden. An Filmdrehs liebt er vor allem die langen Umbaupausen, während derer man so herrlich die Gedanken schweifen lassen kann. Durch eine verrückte Verkettung von Umständen ist er vom Großfilmemacher Sergej Eisenstein für den Revolutionsfilm »Oktober« als Trotzki-Darsteller gecastet worden. Als der echte Trotzki noch während der Dreharbeiten bei Stalin in Ungnade fällt, wird die Figur aus dem Film herausgeschnitten und ihr Darsteller Ljowuschka fortan gesellschaftlich geächtet. Daher beschließt dieser, sein Glück in Hollywood zu versuchen.

Auf dem Weg nach Westen strandet er in einem mondänen deutschen Badeort, sticht dort der exzentrischen Adligen Octavia ins Auge und wird unter dem Druck der Umstände erst zum Lügenbaron und dann – als Opfer des stalinistischen Terrorregimes und verfolgter Künstler – zum Objekt ihrer Begierde. Octavias Diener Jakob (Alexander Herbst), der heimlich in seine Herrin verliebt ist, treibt schnell die Eifersucht um. Die nächtlichen Vampirattacken lassen die Situation eskalieren. Dennoch gelingt es dem Trio, gemeinsam einige Filmszenen zu drehen, die Ljowuschkas schauspielerisches Talent unter Beweis stellen sollen.

In sorgsam arrangierten Einstellungen sprechen die Figuren über die Utopie einer Versöhnung von Kunst und Leben. In der bisweilen plakativen Komik früher Woody-Allen-Filme, etwa »Die letzte Nacht des Boris Gruschenko« (1975), wird das Fortbestehen von Hierarchien und Vor­urteilen aufgezeigt. Dennoch sind die blutsaugende Ausbeuterin Octavia, der künstlerische Opportunist Ljowuschka und Jakob, den Octavia gemäß ihrem von US-amerikanischen Gepflogenheiten geprägten Lebensstil als persönlichen »Assistenten« bezeichnet und der sich selbst nach der Lektüre Prousts als Schriftsteller imaginiert, nicht nur Vertreter ihrer jeweiligen Klasse, sondern ausgesprochen ambivalente Charaktere.

Während sich die vampirhafte Kapitalistin aufgrund ihrer Stellung und der ihr entgegengebrachten Bewunderung durchaus einen Hang zum Subversiven leisten und kokett mit sozialistischen Vorstellungen flirten kann, führt Ljowuschkas eher tollpatschiges Bemühen, aus allem mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen für das eigene Fortkommen zu ziehen, am Ende zu ­einem nicht wiedergutzumachenden Verrat. Die Allianz mit der dauer­feiernden Bourgeoisie auf stetiger Suche nach dem nächsten Spektakel führt geradewegs ins Verderben. Auch die solidarische Haltung der Marx-Lesegruppe kippt unter der ­Bedrohung durch die unerklärliche Vampirplage bald ins Völkische. Statt sich an Marx zu halten, wendet sich das Proletariat den einfältigen Polizeikräften des Ortes zu.

Es kommt, wie es kommen muss. Die Furcht vor dem äußeren Feind schweißt die Ungleichen zusammen und macht blind für die eigentliche Gefahr, den Faschismus. Der fordert sogleich erste Opfer; Ljowuschkas zuvor für ihre befreiende Wirkung gefeierte Filmkunst wird zum Propagandainstrument.

Hatte Radlmaier für sein Langfilmdebüt »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« (2017) den Cast noch wesentlich aus dem persönlichen Umfeld rekrutiert, engagierte er für »Blutsauger« neben Laiendarstellern eine Reihe prominenter Schauspieler wie Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Andreas Döhler. Ihnen vertraut er die Rollen der Ausbeuter und Vampire an, denen es durch kalkuliertes Auftreten ein Leichtes ist, den Gang der Dinge in ihrem Sinne zu lenken.

Witz entsteht beim Aufeinanderprall der Welten. Während die professionellen Darsteller Eleganz und Esprit verströmen, zeigt die von Markus Koob genial geführte Ka­mera in hyperakkuraten statischen Nahaufnahmen die Gesichter der Bauern und Arbeiter verkörpernden Laiendarsteller, die ihren Text deutlich weniger geschliffen sprechen. So entsteht aus der Überblendung von Rolle und Darsteller ein Überschuss, der an Andy Warhols »Screen Tests« erinnert, die für 30 Sekunden unbewegt die Züge der Abgebildeten festhalten und dabei jede noch so kleine Zuckung zum Erlebnis machen.

»Blutsauger« strotzt vor Fabulierlust und erhellendem Humor, reflektiert aber auch auf hohem Niveau über die Möglichkeiten des Mediums. Julian Radlmaier gelingt ein Film, der mit ganz leichter Hand die Frage behandelt, ob man es sich in ungerechten Verhältnissen bequem machen oder diese bekämpfen soll. Und der zudem ätzenden Spott über russische Großmachtphantasien ausschüttet.

Blutsauger. Eine marxistische Vampir­komödie (Deutschland 2021). Drehbuch und Regie: Julian Radlmaier. Mit Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, ­Alexander Herbst, Corinna Harfouch, ­Andreas ­Döhler, Daniel Hoesl, Mareike ­Beykirch, Kyung-Taek Lie, Darja Lewin Chalem. ­Kinostart: 12. Mai