Ein Gespräch mit Benedikt Hopmann, Rechtsanwalt, über das restriktive Streikrecht in Deutschland

»Die Legalität des politischen Streiks durchsetzen«

Streiken für den Arbeitskampf. Der Rechtsanwalt Benedikt Hopmann spricht über gekündigte Gorillas-Rider, das restriktive Streikrecht in Deutschland und wie man dagegen angehen kann.

Sie vertreten gekündigte Beschäftigte des Essenslieferdiensts Gorillas. Was war der Grund für die ­Kündigungen?

Die Beschäftigten hatten gestreikt, ohne dass eine Gewerkschaft dazu aufgerufen hatte. Auch nachträglich hat keine Gewerkschaft den Streik übernommen. Manchmal werden solche Streiks als ›wilde‹ Streiks bezeichnet. Besser sollte man von verbandsfreien Streiks sprechen.

In einer Presseerklärung zum Fall der gekündigten Beschäftigten steht, dass Deutschland »das rückständigste und restriktivste Streikrecht Europas« habe; zumindest gehört es zu den streik­unfreundlichsten Ländern.

Inwiefern?

Rückständig und restriktiv ist das deutsche Streikrecht, weil es sowohl den verbandsfreien als auch den politischen Streik in Deutschland verbietet. Der Bundestag hat schon vor vielen Jahrzehnten die Europäische Sozialcharta übernommen (ein vom Europarat initiiertes, völkerrechtlich verbindliches Abkommen von 1961, Anm. d. Red.). Seitdem gilt die Streikregel dieser Charta in Deutschland wie ein einfaches Gesetz. Sie ist zudem bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzu­ziehen. Auf dieser Grundlage ermahnen internationale Kontrollgremien Deutschland seit Jahren immer wieder, Streiks nicht weiter nur dann zu erlauben, wenn sie von Gewerkschaften getragen werden und sich auf Ziele beschränken, die in Tarifverträgen geregelt werden können. 1998 sprach das oberste Entscheidungsgremium des Europarats, das Ministerkomitee, sogar eine sogenannte Empfehlung an Deutschland aus. Eine schwerere Sanktion kann das Ministerkomitee nicht aussprechen. Doch in Deutschland bewegt sich nichts.

Wie wollen Sie weiter juristisch vorgehen, nachdem das Berliner Arbeitsgericht erstinstanzlich geurteilt hat, dass Streiks nur dann rechtmäßig seien, wenn sie von einer Gewerkschaft getragen werden?

»Streikrecht ist Richterrecht, also kann es auch nur durch Richter verbessert werden.«

Das Arbeitsgericht Berlin ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer recht­lichen Auseinandersetzung, die über viele Jahre gehen kann.

Wie ist das Verhältnis des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der Gewerkschaften allgemein zum restriktiven deutschen Streikrecht?

Die Gewerkschaften sind in bestimmten Situationen auf den verbandsfreien Streik geradezu angewiesen. Zurzeit ­erleben wir zum Beispiel eine erheblich Teuerungsrate. Die Tariflöhne hinken hinterher, die Gewerkschaften sind aber an die Friedenspflicht gebunden. In ­einer solchen Situation kann es immer sein, dass die Beschäftigten auch ohne Aufruf der Gewerkschaften streiken. Zwar können die Gewerkschaften solche Streiks wegen des Haftungsrisikos nicht offiziell unterstützen, aber sie haben schon vor 50 Jahren ganz bewusst erklärt, dass es nicht ihr Aufgabe sei, sich ihre »Positionen durch das Rechtswidrigkeitsurteil des Bundesarbeitsgerichts prägen zu lassen«. Allein mit dieser »Zustandsbeschreibung eroberte sich die IG Metall ein großes Stück Handlungsfreiheit«, schreibt der frühere Justitiar der IG Metall, Michael Kittner, 2005 in seinem Buch »Arbeitskampf«.

Haben Gewerkschaften in der Vergangenheit solche verbandsfreien Streiks unterstützt?

Ja, ein Beispiel: Der Streik zur Durchsetzung der Lohnfortzahlung für Arbeiter 1956/1957 in Schleswig-Holstein hat in der IG Metall bis heute zu Recht einen legendären Ruf. Viel weniger bekannt ist, dass diese sozialpolitische ­Errungenschaft 1996 durch verbandsfreie Streiks verteidigt wurde. Diese Streiks begannen in den Mercedes-Werken in Bremen und Untertürkheim und lösten eine Lawine aus. Das führte dazu, dass der Unternehmerverband Gesamtmetall zum Abschluss eines Tarifvertrags bereit war, der die von der Regierung unter Helmut Kohl (CDU) beschlossene gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung wieder rückgängig machte, also genau das Gesetz, das die Unternehmerverbände ­zuvor jahrelang von der Regierung Kohl eingefordert hatten. Unter der folgenden Regierung von Gerhard Schröder (SPD) wurde sodann – mit einigen Abstrichen – die gesetzliche Verschlechterung selbst wieder aufgehoben.

Sie betonen die enge Verknüpfung von »wildem« und politischem Streik. Wo sehen Sie hier die Gemeinsamkeiten?

1996 wollte die IG Metall nicht zum Streik aufrufen, weil sie befürchtete, dass die Gerichte diesen als politischen Streik bewerten und dann die Unternehmen gegen die IG Metall den Ersatz für die durch den Produktionsausfall entstandenen Schäden einklagen würden. Solange der politische Streik nicht erlaubt ist, besteht dieses Haftungsrisiko immer. Dann bleibt nur das Ausweichen auf den verbandsfreien Streik.

Könnte das Thema also auch für Leute interessant sein, die Protestformen wie den Klima- oder Frauenstreik fordern?

Ja, bei verbandsfreien Streiks ist es für Unternehmen viel schwerer, Schadenersatzansprüche geltend zu machen. Man muss Personen finden, die verantwortlich gemacht werden können. Aber es bleibt wichtig, die Legalität des politischen Streiks durchzusetzen.

Wie soll das geschehen?

Eine Gewerkschaft muss gegen das geltende Recht zum politischen Streik aufrufen, wie im vergangenen Jahr die Gorillas-Beschäftigten gegen geltendes Recht verstoßen haben. Nur dann können die Gerichte über die Recht­mäßigkeit eines politischen Streiks entscheiden, so wie sie jetzt bei den drei Gorillas-Beschäftigten darüber entscheiden müssen, ob die Rechtsprechung über den verbandsfreien Streik weitergeführt werden soll oder nicht. Wenn wir das Streikrecht verbessern wollen, bleibt kein anderer Weg.

Warum fordern Sie nicht eine Reform des Streikrechts?

Streikrecht ist Richterrecht, also kann es auch nur durch Richter verbessert werden. Ein neues Gesetz zum Streikrecht wäre viel zu riskant. Die Gefahr ­einer Verschlechterung wäre viel zu groß. Das Kapital hat zu viel Einfluss in den Parlamenten.

Warum scheuen die DGB-Gewerkschaften einen Aufruf zum politischen Streik?

Die Gewerkschaften fürchten Schadenersatzforderungen, wenn sie zu ver­botenen Streiks aufrufen. Dieses Risiko besteht ohne Zweifel. Vergessen wird jedoch, dass die Gewerkschaft es in vollem Umfang in der Hand hat, das Ausmaß der Schäden zu bestimmen. Sie entscheidet, wie viele Beschäftigte sie zum politischen Streik aufruft, und damit auch über den Schaden, den Unternehmen gegen die Gewerkschaft geltend machen könnten. Die Gerichte werden viel zu selten mit diesem Thema konfrontiert. Dann bleibt es bei diesem Freiheit und Demokratie hohnsprechenden deutschen Streikrecht.

Eine ihrer Mandantinnen, die entlassene Gorillas-Riderin Duyu Kaya, hat in einer Erklärung auf die Quellen des deutschen Streikrechts im Nationalsozialismus verwiesen, auf den Juristen Hans Carl Nipperdey, der für das NS-Regime gearbeitet und später im Rechtsstreit um den sogenannten Zeitungsstreik von 1952 ein Gutachten erstellt habe, das das bis heute geltende Streikrecht maßgeblich beeinflusst habe. Welche Rolle spielte Nipperdey im Nationalsozialismus?

Nachdem 1933 die Gewerkschaften zerschlagen und viele Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen inhaftiert worden waren, folgte 1934 das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (kurz Arbeitsordnungsgesetz, AOG). Dieses faschistische Gesetz beseitigte das gesamte kollektive Arbeitsrecht der Weimarer Republik. Einer der Kommentatoren dieses Gesetzes war Hans Carl Nipperdey. Meine Mandantin hatte das AOG im Original dabei und wollte es dem Richter zeigen. Aber der Richter unterband die gesamte Erklärung. Er ­wollte sie sich nicht anhören. Nach dem Krieg wurde Hans Carl Nipperdey der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts.

Wie geht es juristisch bei den Gorillas-Ridern weiter, nachdem das Berliner Arbeitsgericht ihre Klagen ­gegen die Entlassung abgelehnt hat?

Wir werden alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, alle Instanzen, Beschwerde einlegen beim Bundesver­fassungsgericht und beim Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Die Arbeitskämpfe der Rider haben die Diskussion um die wilden Streiks wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Welche Bedeutung haben solche Auseinandersetzungen auf der juristischen Ebene?

Die öffentliche Diskussion ist von allergrößter Bedeutung, damit die Gerichte endlich diese völkerrechtsverachtende Rechtsprechung beenden.
 

Porträt Benjamin Hopmann

Benedikt Hopmann ist ein Berliner Rechtsanwalt und vertritt Beschäftigte des Essenslieferdiensts Gorillas, die gegen ihre Arbeitsbedingungen gestreikt hatten und entlassen wurden.