Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Volodymyr Artiukh über den Krieg in der Ukraine

»Die Ukraine ist durch Angst und Wut geeint«

Weite Teile der ukrainischen Bevölkerung sehen keine Alternative zum militärischen Widerstand gegen die russische Invasion. Volodymyr Artiukh kritisiert, wie abstrakt unter anderem in Deutschland über Krieg und Frieden diskutiert wird.
Interview Von

In Deutschland wird darüber gestritten, ob Waffenlieferungen den Krieg in der Ukraine weiter anheizen könnten. Was denken Sie über diese Diskussion?

In diesen Debatten wird der Begriff »Frieden« meist vage verwendet, ohne darüber nachzudenken, was Frieden unter den konkreten Umständen bedeutet. Zu sagen, man sei »für Frieden«, heißt noch gar nichts. Jeder ist für Frieden. Auch die russische Inva­sion findet unter dem Slogan »Für den Frieden« statt.

Aber Frieden muss doch das Ziel sein?

Frieden kann Verschiedenes bedeuten: nur einen Waffenstillstand oder aber ein stabiles politisches Arrangement, in dem keine Gewalt mehr angewendet wird, weil es auf einer Übereinkunft dar­über beruht, wie man miteinander ­koexistiert. Viele wollen über diesen Unterschied nicht reden, vielleicht, weil sie sich dann eingestehen müssten, dass sie gar nicht strikt für den Frieden sind, sondern durchaus auch für Krieg.

Was heißt das?

Was bedeutet zum Beispiel die Forderung, einer Seite keine Waffen zu liefern? Das kann man nicht allgemein beantworten. In Deutschland gab es kürzlich diesen Austausch offener Briefe von Intellektuellen und Politikern, aber beide Seiten argumentierten sehr idealistisch. Sie beriefen sich auf Werte wie das menschliche Leben, die Souveränität oder eben Frieden. Wir sollten uns nicht an solchen leeren Debatten beteiligen, sondern möglichst konkret analysieren, was auf dem Spiel steht. Zunächst muss man definieren, was für eine Art von Frieden man erreichen will, wie das möglich wäre und welche Mittel dafür angemessen wären. Diese Diskussion würde ich gerne sehen.

Und was heißt das für die Frage der Waffenlieferungen?

Zunächst lieferten die westlichen Staaten kaum Waffen, weil sie mit einer Niederlage der ukrainischen Armee rechneten. Als sich herausstellte, dass das Kräfteverhältnis ausgeglichener war und die ukrainische Bevölkerung den Krieg unterstützte, was sehr wichtig war, änderte sich ihr Kalkül. Nun spekulierten sie darauf, dass die Ukraine den Krieg überstehen wird. Die Waffenlieferungen stärken die Ukraine und beeinflussen die Verhandlungen mit Russland. Führten diese zum Erfolg, wäre das Frieden im ersten Sinne: Nicht nur Waffenstillstand, sondern ein Weg, eine stabile Aushandlung der Interessen zu erreichen. In dem Sinne dienen Waffenlieferungen dazu, Frieden zu erreichen, und zwar einen gerechteren und stabileren als nur einen temporären Waffenstillstand oder eine Besatzung der Ukraine durch Russland. Deshalb denke ich, dass es in der jetzigen Situation falsch ist, sich dafür einzusetzen, der Ukraine bestimmte Waffen vorzuenthalten. Die Waffenlieferungen machen einen Friedensschluss wahrscheinlicher. Das mag sich in Zukunft ändern, aber im Moment ist es so.

Viele sind der Ansicht, dass die westlichen Staaten an einem langen Krieg interessiert seien, um Russland zu schwächen. Ist das be­rechtigt?

Es ist vorstellbar, dass irgendwann die kriegsmüde ukrainische Regierung ein Abkommen anstrebt und der Westen das nicht unterstützt. Aber derzeit steht das ebenso wenig auf dem Programm wie ein Angriff auf die Krim. Das ist nur Rhetorik. Auch die Gefahr eines offenen Krieges zwischen der Nato und Russland sehe ich derzeit nicht. Sich deswegen jetzt gegen Waffenlieferungen ­einzusetzen, halte ich für falsch.

Ist der Krieg ein Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland ­geworden?

Man kann das so nennen, wie viele Kriege findet auch dieser im Kontext der Großmachtrivalitäten statt. Aber damit hat man noch nicht erklärt, wie sich die Interessen der USA konkret auswirken. Derzeit sind es die Ziele der ukrainischen Regierung und die Situ­ation auf dem Schlachtfeld, die die Entwicklung bestimmen. Die Großmächte reagieren nur darauf.

Die Ukraine ist also keine Marionette der USA?

Das behauptet ja Russland, und auch wenn einige Linke vom Imperialismus sprechen, stellen sie sich das so vor, als würden die Interessen von den imperialen Zentren ausstrahlen, die dann in fernen Ländern wie der Ukraine ihre Schlachten schlagen. Derzeit prägt eher der lokale Konflikt die Interessen der Großmächte statt andersherum. Die USA haben diesen Krieg nicht gewollt. US-Präsident Joe Biden wollte den Status quo erhalten und sich auf den pazifischen Raum konzentrieren. Aber dann hat Russland dieses verrückte Abenteuer begonnen, und jetzt steht die Ukraine wieder im Zentrum der US-Politik.

Entscheidend für den Verlauf des Krieges war vor allem – es widerstrebt mir fast, das zu sagen, es klingt so nationalistisch – der von Wut und Furcht vor der russischen Besatzung getriebene Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung. Äußere Mächte können versuchen, das zu instrumentalisieren, aber sich die Ukraine wie eine Marionette des Westens vorzustellen, ist viel zu einfach. Eher ist es der ukrainischen Regierung gelungen, die Interessen des Westens mit ihren eigenen in Einklang zu bringen, und derzeit gelten diese Interessen der Regierung der breiten Masse der Bevölkerung als legitim. Ich spreche nur von der jetzigen Situation und der militärischen Kampagne. Diese Interessen könnten in Zukunft wieder divergieren, aber jetzt ist es für solche Warnungen zu früh.

Schon 2014 beim Euromaidan sahen viele Linke vor allem westlichen Einfluss am Werk.

Auch die Proteste in Belarus wurden so diskutiert, obwohl es keine direkte westliche Intervention gegeben hat. So ignoriert man die – Verzeihung für den modischen Begriff – agency der örtlichen Akteure. Die reagieren zwar darauf, was die USA, die EU und Russland machen, aber sie handeln selbst und verändern die Umstände. Wir müssen uns von dieser paranoischen Sichtweise verabschieden, dass Weltpolitik von wenigen imperialen Interessen determiniert würde.

Aber waren die Spannungen zwischen dem Westen und Russland nicht eine der Ursachen dieses Kriegs?

Eine der strukturellen Ursachen, ja, aber nicht der direkte Grund. Den muss man darin suchen, dass Russland damit gescheitert war, die Ukraine durch ein hegemoniales Projekt im Sinne Gramscis zu kontrollieren, also mit einer politischen Kraft, die von der ukrainischen Bevölkerung akzeptiert wird und an der die ukrainische politische Führung mitwirkt. Dafür fehlte Russland unter anderem die ökonomische Basis.

Russland hat vor 2014 viel Geld für PR-Projekte in der Ukraine ausgegeben oder um Leute zu bestechen. Die EU bot dagegen so etwas wie ein hegemoniales Projekt an, an dem signifikante Teile der Bevölkerung mitwirken wollten, obwohl auch ebenso viele es ablehnten. Dieser Konflikt spitzte sich 2014 zu. Nach dem Maidan-Umsturz wurde Russland klar, dass es gescheitert war. Dann blieb nur noch Gewalt, die Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine. Russland hatte keine Strategie mehr, es agierte opportunistisch und verließ sich nur noch auf Zwang, selbst in den Gebieten, die es angeblich vor der Be­drohung durch die ukrainischen Nationalisten »befreit« hatte. Russland hoffte, dass es reichen würde, der Ukraine eine stählerne Faust zu zeigen, und sie würde zuhören. Passiert ist das Gegenteil.

Hat Russland sich mit der Invasion erneut verkalkuliert?

So sieht es aus. Sie hofften wohl, dass die westlichen Staaten nach einem schnellen Sieg zur Tagesordnung übergehen würden, wie 2008 nach dem ­Georgien-Krieg. Die russische Führung hoffte, dass Selenskyj, diese US-Marionette, dieser Comedian, dieser Idiot, fliehen und wie die belarussische Oppo­sitionelle Swetlana Tichanowskaja als machtlose Figur im Exil enden würde. Vielleicht haben sie an die eigene Propaganda geglaubt.

Wie war diese Fehlkalkulation ­möglich?

Der russische Politologe Ilya Matveev argumentiert, es sei eine Mischung aus kurzfristigem und langfristigem Denken gewesen. Kurzfristig hat die russische Führung einen einfachen Sieg erwartet. Und dann erwarteten sie, dass die Sanktionen zwar schmerzhaft sein würden, aber Russland sich nach einigen Jahren mit einem konsolidierten auto­ritären System als Verbündeter Chinas und mit einer starken Stellung gegenüber der EU als eine Großmacht in einer multipolaren Weltordnung neu aufstellen könnte. So dachten Teile der russischen Führung: Wir müssen Fakten schaffen, bevor es die anderen tun. Nicht in dem Sinne, dass Russland die neue Weltordnung als Hegemon mitgestaltet, denn dafür fehlt die Macht, sondern als opportunistischer und negativer Akt – wir müssen etwas Aggres­si­ves tun, damit wir nicht von den großen Machtkonkurrenten, vor allem dem Westen, an den Rand gedrückt werden.

Was erklärt den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung?

Ich zögere, diesen Krieg einen nationalen Befreiungskampf zu nennen, denn primär geht es schlicht um Widerstand gegen eine gangsterhafte, idiotische Invasion, mit der man sich unmöglich arrangieren kann, und nicht um den Kampf für ein klar umrissenes nationales Projekt. Die ukrainische Gesellschaft ist durch Angst und Wut geeint, nicht durch Hoffnung. Es ist, als wäre man eines Morgens aufgewacht und ein Einbrecher stünde im Schlafzimmer. Den muss man rausschmeißen, auch wenn man nicht mit der eigenen heruntergekommenen Wohnung zufrieden ist. Selbst viele Ukrainer, die man prorussisch nennen könnte, haben nach der Invasion eine politische 180-Grad-Wende vollzogen.

Ist das Land im Widerstand geeint?

Schon, aber das ist auch trügerisch. Die Legitimität Selenskyjs beruht derzeit darauf, dass er den Widerstand anführt, andere Politik gibt es kaum mehr. Die ukrainische Regierung verteidigt einfach nur den Staat gegen das totale Chaos. Dem Kampf fehlt die politische Substanz.

Fordert die ukrainische Regierung deshalb den Beginn des EU-Beitrittverfahrens?

Ja, das ist ein Versuch, dem ganzen Leid eine positive Bedeutung zu geben. Ansonsten benennen sie gerade im ganzen Land Straßen auf patriotische Weise um, eine Art ersatz nation building, wie es das schon nach 2014 gegeben hat.

Man könnte auch argumentieren, dass gerade der Krieg das Potential hat, den ukrainischen Nationalstaat zu festigen.

Das stimmt, Kriege zwingen Staaten allgemein, ihre Kapazitäten zu erweitern und ihre Bevölkerung zu mobilisieren. Aber bisher gibt es eher eine durch ­Affekte geschaffene Einheit. Sollte sich der Krieg lange hinziehen, was ich befürchte, könnte sie zu bröckeln anfangen, falls es keine positive Vision davon gibt, wofür man kämpft, die da­r­über hinausweist, diese schreckliche Gewalt abzuwehren, wie man sie beispielsweise in Butscha gesehen hat.

Spekuliert Russland auf eine langfristige Desintegration des ukrai­nischen Staats?

Möglich wäre ein eingefrorener Konflikt, bei dem beide Seiten auf Zeit spielen. Deshalb ist das Lend-Lease-Programm der USA wichtig, da geht es um langfristige Unterstützung. Aber die Ukraine braucht mehr als Waffen und Durchhalteparolen. Auch die Aussicht auf einen EU-Beitritt hat zwar schon zuvor in Osteuropa oder auf dem Balkan Staaten stabilisiert, aber es ist fraglich, wie sich die Haltung der EU in Zukunft entwickeln und wie die EU mit den wirtschaftlichen Kosten des Ganzen umgehen wird. Ein EU-Beitritt liegt in ­weiter Ferne.

Was sollten Menschen in der EU von ihren Regierungen fordern?

Der Ukraine werden immer mehr Schulden aufgebürdet, das ist ein Pro­blem. Ebenso die Liberalisierung des ­Arbeitsrechts. Ukrainische Arbeiter gehören jetzt zu den schutzlosesten in ganz Europa. Die Kriegswirtschaft in der Ukraine wird sehr dereguliert und unternehmerfreundlich organisiert.

Einige ukrainische Linke üben Kritik an der Haltung westlicher Linker. Treibt sie auch Sorge um das Ansehen linker Politik in der ukrai­nischen Gesellschaft?

Die ukrainische Linke war schon vor dem Krieg marginal und musste damit kämpfen, von einigen als prorussisch wahrgenommen zu werden, unter anderem wegen ihrer Verbindungen zur Linken in der EU oder den USA. Einige ukrainische Linke wurden beispielsweise von Rechtsextremen, aber auch von nationalistisch eingestellten Liberalen angegriffen, weil sie Geld von der Rosa-Luxemburg-Stiftung annahmen – in deren Augen war das so, als würden sie über den Umweg durch Berlin aus Moskau bezahlt. Das war natürlich absurd. Aber jetzt ein Ende der Nato-­Waffenlieferungen zu fordern, wie beispielsweise die deutsche Linkspartei oder das US-Magazin Jacobin, wäre für ukrainische Linke unmöglich, zum ­einen taktisch, zum anderen und vor allem aber aus prinzipiellen Gründen.

 

Volodymyr Artiukh

Volodymyr Artiukh ist Sozialwissenschaftler und forscht über Migration im postsowjetischen Raum und Gewerkschaften in Belarus. Er ist Mitglied des Redaktionskollektivs der ukrainischen Zeitschrift für soziale Kritik »Spilne/Commons«. Am 1. März hat er dort den Text »US-plaining is not enough. To the Western left, on your and our mistakes« veröffentlicht. Hier ist der Text in deutscher Übersetzung zu lesen.