Die Bündnisse Macrons und Mélenchons ringen um die Parlamentsmehrheit in Frankreich

Das große Duell

Bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich am kommenden Sonntag ringen das Lager von Präsident Emmanuel Macron und das linke Bündnis Jean-Luc Mélenchons um die Mehrheit im Parlament.

Es ist das Ende der flotten Dreier: Seit den neunziger Jahren hatte es sich ergeben, dass bei den Stichwahlen in den insgesamt 577 Parlamentswahlkreisen meist Dreierkonstellationen, genannt triangulaires (von triangle, Dreieck), auftraten. Diese lösten die zuvor üblichen Stichwahlen mit zwei Kandidaturen – einer linken, einer rechten – ab. Auslöser war damals der Aufstieg des neofaschistischen Front National (FN) unter Jean-Marie Le Pen.

Das ist nun vorbei. Was vor fünf Jahren bei der vorigen Wahl zur Natio­nalversammlung begann, hat sich seit Sonntag mit Nachdruck bestätigt; beim zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag ist die Zweierkonstellation zurück. Verantwortlich dafür ist die hohe Wahlenthaltung.

Éric Zemmours neu gegründete ­Par­­tei Reconquête (Rück­ero­be­rung) scheiterte mit durch­schnittlich 4,25 Prozent überall, wo sie antrat. Marine Le Pens RN wiederum erhielt 18,7 Prozent.

Um in eine Stichwahl einzuziehen, erfordert das französische Wahlrecht von Parlamentskandidatinnen, im ersten Wahlgang von mindestens 12,5 Prozent der eingetragenen Wahlberechtigten gewählt worden zu sein – und nicht etwa der abgegebenen Stimmen. Dies bedeutet: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto höher liegt effektiv diese Hürde. Beträgt die Wahlenthaltung 50 Prozent, dann braucht man 25 Prozent der abgegebenen Stimmen, um in den zweiten Wahlgang zu kommen.

Am Sonntag betrug die durchschnittliche Wahlbeteiligung in Frankreich nur 47,5 Prozent und lag somit gut einen Prozentpunkt unter der vor fünf Jahren.

Diese Tatsache allein ist politisch bemerkenswert und darauf zurückzu­führen, dass das regierende wirtschaftsliberale Lager unter Emmanuel Macron erst die Präsidentschaftswahl im April und nun auch die Parlamentswahl weitgehend ihres politischen Gehalts zu entleeren versuchte: Macron stellte sich der inhaltlichen Debatte über sein innenpolitisches Programm kaum, sondern versuchte überwiegend, durch seine außenpolitische Profilierung im Zuge der russischen Invasion der Ukraine sowie seine bis Ende Juni dauernde EU-Ratspräsidentschaft Präsenz zu ­zeigen. Macron fährt damit fort, er wird an diesem Donnerstag zusammen mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz in Kiew erwartet. Dort aufzutauchen, ist durchaus nötig, wird ihm doch in der Ukraine vorgeworfen, durch sein In­sistieren darauf, man dürfe »Russland nicht erniedrigen«, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin viel zu weit entgegenzukommen. Zugleich vermeidet Macron dadurch die Aus­einandersetzung über seine Politik in Frankreich.

Strategisch scheint es dem Regierungslager durchaus recht zu sein, wenn möglichst viele Menschen, vor allem aus den armen Bevölkerungsschichten und der dem etablierten Politikbetrieb relativ fernstehenden jungen Generation, den Wahlen fernbleiben.

Durch die geringe Beteiligung sind zum Einzug in die Stichwahl im Schnitt jedoch mehr als ein Viertel der abge­gebenen Stimmen aus der ersten Runde erforderlich. Deshalb werden am kommenden Sonntag nur in acht der 577 Wahlkreise drei Bewerber gegeneinander antreten, in allen anderen jeweils nur zwei.

Doch trotz dieser Entwicklung bei den Stichwahlen wirken weiterhin drei po­litische Kräfte. Es gibt keine Rückkehr zum traditionellen Schema »Mitte-links gegen Mitte-rechts«. Vielmehr erwuchs durch den Aufstieg einer linkspopulistischen Opposition unter Jean-Luc Mélenchon eine neue dritte Kraft, die es Anfang Mai schaffte, Wahlbündnisse mit der französischen KP, den Grünen und auch der vormaligen Regierungs­sozialdemokratie des Parti Socialiste (PS) einzugehen und unter dem Namen Union populaire écologique et sociale (Neue ökologische und soziale Volksunion, Nupes) firmiert. Dem zentristischen Macron-Lager stehen nun zur Linken und zur Rechten zwei politische Blöcke gegenüber, die bislang nicht durch Regierungsverantwortung geprägt wurden.

Dabei gibt es klare regionale Unterschiede. Nupes wurde in den urbanen Zentren – Lille, Strasbourg, Paris, Lyon, Marseille – sowie in weiten Teilen Südfrankreichs zur stärksten Kraft. Die extreme Rechte führt in den industriellen Krisenzonen Ost- und Nordostfrankreichs sowie fast ­allen Mittelmeer-Anrainerbezirken, im ersten Fall durch die Unterstützung ­einer seit den neunziger Jahren von der Linken gewonnenen Arbeiterwählerschaft, im Süden eher dank früheren Algerien-Siedlern und Rentnern im französischen Sonnengürtel. Macron dominiert in ganz Westfrankreich, das früher als Hochburg der »moderaten« Kräfte im Mitte-links- und Mitte-rechts-Bereich erschien, während der historisch früher industrialisierte ­Osten und der Süden des Landes stets stärker zu ausgeprägt linken beziehungsweise rechten Parteien neigten.

Die extreme Rechte kann sich wegen des Mehrheitswahlrechts und des Mangels an Verbündeten wohl nur 30 bis 40 Abgeordnetensitze erhoffen. Dennoch ist dies ein Erfolg: Erstmals seit der Wiedereinführung des Mehrheitswahlrechts zum Jahresende 1986, das das Verhältniswahlrecht ablöste – vorausgegangen war der Einzug von 35 Abgeordneten des Front National in die Nationalversammlung im März desselben Jahres – würde dieser, inzwischen unter dem Namen Rassemblement National (RN), im Parlament über Fraktionsstärke verfügen. Das bringt Privilegien beim Rederecht und der Medienpräsenz und ermöglicht die Professionalisierung der politischen Parlamentsarbeit. Bislang verfügte die Partei nur über rund ein halbes Dutzend Mandate ohne Fraktionsstatus.

Zugleich könnte die extreme Rechte nun ihre seit einem Jahr währende Spaltung überwinden, weil sich der RN seiner zeitweiligen Konkurrenz, angeführt von Éric Zemmour, zu entledigen scheint. Dessen neu gegründete Partei Reconquête (Rückeroberung) scheiterte mit durchschnittlich 4,25 Prozent überall, wo sie antrat, obwohl sie mehr als 550 Kandidaten aufgestellt hatte. Der RN erhielt 18,7 Prozent. Das ergibt zusammen einen Anteil von fast einem Viertel der Stimmen, doppelt so hoch wie alle früheren Ergebnisse des FN oder RN bei Parlamentswahlen – bei diesen schnitt er immer erheblich schlechter ab als bei Präsidentschaftswahlen.

Die extreme Rechte führte von Anfang an einen Oppositionswahlkampf und berief sich darauf, ihre Abgeordneten sollten als »Anwälte des französischen Volks« gegen Macrons Politik ­ankämpfen. Der RN behauptete jedoch nie, eine Parlamentsmehrheit erlangen zu können. Auch aus grundsätzlichen Erwägungen: Da die Partei für eine starke Rolle des Präsidenten und ein schwaches Parlament eintritt, konnte sie kaum dafür werben, vom Parlament aus ­gegen das wiedergewählte Staatsoberhaupt, Präsident Macron, zu regieren. Umgekehrt propagierte Mélenchon genau diese Vorgehensweise und forderte die Französinnen auf, Macron zu einer cohabitation zu zwingen, also zur Zusammenarbeit mit einer gegnerischen Parlamentsmehrheit und mit Mélenchon selbst als auf diese gestütztem Premierminister.

Dafür wird es, nach etwa 26 Prozent für Nupes im ersten Wahlgang, jedoch kaum reichen. Es sei denn, das Bündnis könnte in der zweiten Runde sehr viele Stimmen von Menschen gewinnen, die sich in der ersten enthalten haben. Wahrscheinlicher erscheint, dass Macrons Bündnis Ensemble, das knapp hinter Nupes lag, eine relative, jedoch keine absolute Parlamentsmehrheit erhält. Das war zuletzt von 1988 bis 1991 unter dem sozialdemokratischen Premierminister Michel Rocard der Fall, seine Regierung lavierte im Parlament zwischen der französischen KP und der konservativen Opposition.

Voraussichtlich dürfte Macron ein Bündnis mit den tief in der Krise steckenden Konservativen der Partei Les Républicains (LR) bilden; deren früherer Star, der ehemalige Präsident ­Nicolas Sarkozy, unterstützte bei der Präsidentschaftswahl eher Amtsin­haber Macron als seine Parteifreundin und frühere Ministerin Valérie Pécresse. Ein solches Bündnis würde Macrons Lager allerdings endgültig den Nimbus der »völlig neuen, jenseits der alten politischen Lager stehenden Kraft« nehmen, mit dem Macron immer für sich geworben hatte.