Die Macht der Gangs in Haiti

Superlativ des Elends

In Haiti eskalieren die Kämpfe zwischen bewaffneten Banden. Tausende Menschen sind auf der Flucht. Die Kämpfe nähern sich dem Regierungs­­­bezirk, die bereits erodierten staatlichen Institutionen sind machtlos.

Wenn man denkt, schlimmer geht es nicht mehr, belehrt einen die Krise, in der Haiti steckt, stets eines Besseren. Über 100 verschiedene bewaffnete Banden kontrollieren inzwischen schätzungsweise über 60 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince. Sie führen Krieg gegeneinander und gegen die Ordnungskräfte des Staats, in dem seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli vergangenen Jahres niemand das Machtvakuum zu füllen vermochte.

Mitte Juli führte eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den Gangverbänden G9 und G-pèp im Armenviertel Cité Soleil in Port-au-Prince zu mindestens 471 Toten in nur neun Tagen. Einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge verloren dabei außerdem über 3 000 Menschen ihr Zuhause – nachdem im April und Mai bereits 16 000 Menschen zu Binnenflüchtlingen geworden waren, als die Gang 400 Mawozo versuchte, ihr Territorium auszuweiten.

Bewohner schilderten der New York Times, dass die Gangs dabei immer rücksichtsloser vorgehen. Während sie vor ein paar Jahren noch Anwohner warnten und zum Verlassen einer Gegend aufriefen, bevor sie dort aktiv wurden, richtet sich ihre Gewalt inzwischen wahllos gegen die Bevölkerung. Mit Bulldozern planieren sie die einfachen Behausungen in der Cité Soleil, sie erschießen wahllos Menschen, vergewaltigen Frauen, Mädchen, Jungen. Die Kinder der Ermordeten zwingen sie, sich ihnen anzuschließen.

G9 untersteht dem bekannten Verbrecher Jimmy Chérizier, genannt Barbecue, der vergangenes Jahr bereits eine Machtprobe mit dem Staat suchte, indem er durch Blockaden eine Energiekrise herbeiführte (Jungle World 45/2021). Während der jüngsten Auseinandersetzungen konnte seine Gruppe ihr Territorium zuungunsten von ­G-pèp vergrößern. Der Cité Soleil kommt bei den Konflikten eine zentrale Rolle zu, da sie am Rande des Hafens liegt. Wer sie kontrolliert, kontrolliert Importe und Exporte und somit den letzten Rest Wirtschaftsaktivität, den das Land aufweist.

Mit Bulldozern planieren die Gangs die einfachen Behausungen in der Cité Soleil, sie erschießen wahllos Menschen, vergewaltigen Frauen, Mädchen, Jungen.

Es ist daher davon auszugehen, dass die Gangs nach wie vor den politischen Schutz einiger Oligarchen und Politiker genießen. Historisch sind sie als Organisationen einzelner Politiker entstanden. Bereits François und Jean-Claude Duvalier, die auch als »Papa Doc« und »Baby Doc« bekannten Diktatoren, die Haiti von 1957 bis 1986 beherrschten, verfügten über eine Miliz, die Tonton Macoute, die ihre politische Macht stützte. Auch der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide, der im Widerstand gegen die Diktatur Duvaliers aktiv und zwischen 1990 und 2004 mehrmals Präsident war, bediente sich einer bewaffneten Gruppe namens Chimères. Die Reste der Tonton Macoute wiederum gingen in Todesschwadronen auf, die Anhänger Aristides verfolgten und ermordeten. 2004 wurde Aristide auch unter US-amerikanischen Druck zum Rücktritt gezwungen.

G9 wiederum war verbunden mit der Regierungspartei Parti Haïtien Tèt Kale (PHTK) und G-pèp mit der Oppo­sition zum PHTK, doch haben sich die Machtverhältnisse längst verschoben und die Gangs sind agieren weitgehend autonom. Ihr Einfluss wuchs vor allem nach dem Abzug der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in ­Haiti (Minustah), die bis 2017 unter anderem die Cité Soleil kontrollierte. Das Mandat gilt inzwischen als Negativbeispiel für solche Missionen: Die Soldaten schleppten die Cholera ein und vergingen sich in vielen Fällen an haitianischen Kindern, wie ein Bericht belegt, den verschiedene Menschenrechtsorganisationen 2016 dem Menschenrechtsrat der UN vorgelegt hatten.

Über den Hafen versorgen sich die Gangs auch mit Waffen und Munition. Zwar drängen die USA immer wieder auf strengere Kontrollen in Haiti, doch kommt ein großer Teil der Schiffe aus Florida – wo der Zoll also offensichtlich auch nicht gut genug arbeitet. Die haitia­nische Polizei ihrerseits darf wegen ihrer Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen keine Waffen direkt aus den USA beziehen.

Selbst das Zentrum von Port-au-Prince ist inzwischen Konfliktgebiet. Bereits im Juni hatten Mitglieder der Gang 5 Seconds den Justizpalast angegriffen und dort Dokumente verbrannt. Es war nicht die erste Attacke auf das Gebäude, aber seither halten es die Kriminellen besetzt. Nun befürchten Beobachter, dass Chériziers Gang Angriffe auf Regierungseinrichtungen und das nationale Gefängnis planen könnte. Der überfüllten Strafanstalt droht ohnehin eine Meuterei, da sie nicht über ausreichend Essen für alle Insassen verfügt. Neben Gang-Anführern sitzen dort auch einige des Mordes an Moïse Verdächtigte ein.

Das Attentat gilt als Resultat einer großen Verschwörung, an der kolumbianische Söldner, US-amerikanische Staatsbürger und haitianische Polizisten beteiligt waren. Wer den Auftrag gab, ist weiterhin unklar. Im US-Bundesstaat Florida wird seit Januar einem der kolumbianischen ehemaligen Sol­daten, Mario Palacios, der Prozess gemacht. Doch das Justizministerium veranlasste, dass seine Aussage nicht öffentlich wird, da er ungeklärte Verbindungen zu US-amerikanischen Geheimdiensten haben soll. Die US-Drogenbekämpfungsbehörde Drug Enforcement Agency (DEA) wiederum weigert sich, Stellung zu beziehen zu dem Umstand, dass einige der mutmaßlichen Täter vormals als Informanten für sie tätig gewesen sein sollen.

In Haiti ist noch kein Verfahren eröffnet worden. Die verantwortlichen Richter wurden bereits fünfmal ausgewechselt, sie werden immer wieder bedroht. Unter Verdacht steht selbst Interimspremierminister Ariel Henry. Regierungsbeamte, die ihn zur Aussage aufriefen, entließ er.

Eine wachsende Zahl von Haitianerinnen und Haitianern versucht daher, das Land zu verlassen. Auf teils einfachen Booten machen sie sich auf den Weg Richtung USA. Am 24. Juli meldeten die Behörden der Bahamas, dass 17 Menschen vor der Küste des Inselstaats ertrunken seien, 25 seien gerettet worden, nach weiteren Überlebenden ­werde gesucht. Die Bahamas dienen den Flüchtlingen oft als Zwischenstation.

Die Zahl der von den dortigen Behörden gezählten Rückführungen nach Haiti hat sich bereits im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht – auf über 2 200. Auch die USA wollen möglichst wenige Menschen aus Haiti aufnehmen. Mitte Februar dieses Jahres meldete die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Washington Office on Latin America (Wola), seit dem Amtsantritt von Joe Biden als US-Präsident im Januar 2021 seien 20 000 Menschen aus Haiti dorthin rückgeführt worden.

Die ausweglose Situation Haitis hat zahlreiche, überwiegend historische Gründe. 1791 erlebte das Land eine erfolgreiche Sklavenrebellion, die 1804 zur Unabhängigkeit führte – als erster Staat Südamerikas. Doch die Unabhängigkeit hatte ihren Preis. Im Mai veröffentlichte die New York Times ein Dos­sier über die Entschädigungen, die der junge Staat den enteigneten franzö­sischen Land- und Sklavenbesitzern ab 1825 jahrelang zahlen musste. Um diese zu bezahlen, lieh sich das Land Geld bei französischen Banken wie der heute noch existierenden Crédit Mutuel. Die Abhängigkeit, in die der Staat von europäischen und lokalen Kapitalisten gedrängt wurde, behinderte die Entwicklung des Landes entscheidend.

Auch seit dem Ende der Duvalier-Diktatur hat sich die Lage nicht bessern können. Weder ist es dem Staat gelungen, sein Gewaltmonopol durchzusetzen, noch die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu bessern. Das verheerende Erdbeben vom 13. Januar 2010 sowie weitere Naturkatastrophen wie Wirbelstürme oder ein Erdbeben im August vergangenen Jahres lassen die Schwächen der öffentlichen Daseinsvorsorge deutlich zutage treten. In der Folge übernahmen internationale NGOs zahlreiche Aufgaben vor allem im Gesundheitssektor. Ein Umstand, der den Staat zwar entlastete, aber auch noch weiter schwächte. Haiti ist das Paradebeispiel eines gescheiterten Staats.