Nicht der Mob wurde bestraft, der Staat verlegte die Flüchtlinge aus Rostock-Lichtenhagen

Aus den Augen

Nach Tagen der Gewalt wurden am 24. August 1992 Geflüchtete aus Rostock-Lichtenhagen verlegt. Das damals neu eröffnete Erstaufnahme­lager Nostorf-Horst bezeugt bis heute, dass der rassistischen Gewalt nachgegeben wurde.

Nach dem Pogrom in Rostock Lichtenhagen im August 1992 hatten die Gewalttäter zumindest eines ihrer Ziele erreicht: Die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt), die sich neben dem sogenannten Sonnenblumenhaus befand, einem Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter, das tagelang belagert und mit Molotow-Cocktails beworfen worden war, wurde geschlossen. Am Nachmittag des 24. August räumte die Polizei die völlig überfüllte Einrichtung und verlegte die Geflüchteten, darunter viele Romnja aus Rumänien, die zuvor teilweise im Freien kampieren mussten, überhastet mit Bussen. Am Abend versammelte sich erneut der von Tausenden Schaulustigen begleitete rassistische Mob und setzte das »Sonnenblumenhaus« in Brand.

Am 1. April 1993 wurde die neue ZASt in Nostorf-Horst eröffnet – auf einem ehemaligen Kasernengelände der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee (NVA) und weitab jeder Großstadt. Bis heute befindet sich dort das Erstaufnahmelager für Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern.

»Angegriffene und Betroffene von rassistischer Gewalt dauerhaft weg­zuschaffen und dann die angreifenden Rassisten unzureichend rechtlich zu belangen und rechtlich nicht zur Verantwortung zu ziehen, sendet politisch klar das Signal einer nachträglichen Legitimierung«, sagte kürzlich Cindy Hader, die an der TU Chemnitz über Flüchtlingslager im Nordosten Deutschlands forscht, in einem Interview mit LOHRO, dem nichtkommer­ziellen Lokalradio in Rostock. Die Lage von Flüchtlingsunterkünften in Mecklenburg-Vorpommern sei bis heute als Konsequenz aus dem Pogrom in ­Rostock-Lichtenhagen 1992 zu ver­stehen.

»Das Lager Nostorf-Horst liegt in der Nähe der Kleinstadt Boizenburg mitten im Wald, fernab von notwendiger Infrastruktur wie Beratungsstellen, RechtsanwältInnen, ÄrztInnen«, so der Flüchtlingsrat Hamburg 2007 in einer Kritik daran, dass auch Geflüchtete, die Hamburg zugewiesen sind, dort, unmittelbar an der ehemaligen Grenze zwischen der BRD und der DDR, untergebracht wurden – denn die 650 Plätze sollten auch belegt werden. »Für Fami­lien mit schulpflichtigen Kindern soll eine verkürzte Unterbringung in Nostorf-Horst stattfinden, da es dort keine Möglichkeit gibt, der Schulpflicht nachzukommen«, forderte damals der Flüchtlingsrat: Die meisten Geflüchteten »empfinden das Lager als ›offenes Gefängnis‹, da sie soziale Kontakte vermissen und nicht über genug Geld verfügen, um z. B. öfter nach Hamburg zu fahren und wegen der Residenzpflicht auch nur die Hamburg zugeteilten Flüchtlinge dazu die Erlaubnis haben«. In dem Dorf Nostorf gibt es aber immerhin als Sehenswürdigkeit eine Dorfkirche und das Ernte- und Kartoffelfest im September, mit dem sich Geflüchtete einmal im Jahr davon ablenken können, dass es an psychotherapeutischer Hilfe fehlt.

In die Kleinstädte Boizenburg und das westlich gelegene Lauenburg in Schleswig-Holstein sind es jeweils mehr als sechs Kilometer. Ab und zu fährt ein Bus.

Dafür sind in der Region um Lauenburg seit vielen Jahren Neonazis aktiv, sowohl von der NPD als auch parteiunabhängig. In der Nacht vom 20. auf den 21. September 2020 wurden drei Molotow- Cocktails in eine Schwarzenbeker Gaststätte geworfen; im Obergeschoss des Gebäude wohnte der iranischstämmige Wirt. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass die Brandsätze keinen Schaden anrichteten.

»Die meisten Menschen, die lange in Horst sind, werden immer depressiver«, sagte vergangenes Jahr eine ehemalige Bewohnerin des Lagers der Zeitung Katapult. »Jeder Tag war exakt gleich: Morgens gehen die Bewohner:innen zum Frühstück, mittags zum Essen, danach gehen viele in die Stadt – aus drei Gründen: Um einfach für ein, zwei Stunden rauszukommen, um zum Supermarkt zu gehen oder um einen W-Lan-Hotspot zu finden.« EU-Richtlinien zufolge dürfen Geflüchtete maximal drei Monate in Erstaufnahmelagern untergebracht werden, doch in der Praxis ist es oft ein längerer Zeitraum, kritisiert im Gespräch mit Katapult die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates Mecklenburg-Vorpommern, Ulrike Seemann-Katz (Grüne).

Antirassistische Initiativen aus Mecklenburg-Vorpommern wie Pro Blei­berecht fordern deshalb: »Horst schließen!« Unter dem Motto »Break Isolation – Gegen Ausgrenzung und institutionellen Rassismus« finden an jedem letzten Sonntag im Monat Mahnwachen vor dem Lager in Horst unter Beteiligung verschiedener regionaler Gruppen statt. Anlässlich des 30. Jahrestages des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen organisiert die Initiative am 21. August eine Kundgebungstour, die von Rostock, dem Ort des Pogroms, über die Landeshauptstadt Schwerin schließlich nach Horst führen soll. »Die Entscheidung, die Zentrale Aufnahmestelle für Geflüchtete (ZASt) von Rostock an den Rand von Mecklenburg-Vorpommern zu verlegen, kann als Nachgeben der Politik gegenüber der Gewalt des Pogroms verstanden werden«, heißt es im Aufruf zur Demonstration. »Das Aufnahmelager Nostorf-Horst steht als stummes Mahnmal etwa 180 km entfernt von Lichtenhagen am Rande Mecklenburg-Vorpommerns. Es existiert als Nachfolgeeinrichtung der ZASt in Lichtenhagen bis heute und wurde bewusst aus dem Blick der Öffentlichkeit verbannt«.