In Litauen verändert der russische Angriff auf die Ukraine die öffentlichen Debatten

»Alle Linken geben sich dem Liberalismus und Nationalismus hin«

Der Verleger Darius Pocevičius kritisiert die Verhinderung von kritischen Debatten über litauische Geschichte, politische Selbstzensur und die Angepasstheit der Linken. Ein Gespräch über Bücher, die man in Litauen heute nicht mehr verkauft bekommt
Interview Von

Fast jedes Land pflegt gewisse Mythen über die eigene rühmliche Vergangenheit und passt sie den gerade herrschenden politischen Vorgaben an. Etwa 200 Jahre lang war das Großfürstentum Litauen eine Großmacht, später verlor Litauen seine Unabhängigkeit und erwarb sie erst wieder nach dem Ersten Weltkrieg. Während der litauischen Republik in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1940 war Kaunas Regierungssitz. Vilnius mit seiner überwiegend polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde erst Hauptstadt, nachdem dieses Gebiet infolge der sowjetischen Besatzung Litauen zugeschlagen wurde. Wie macht sich dieser Umstand in der öffentlichen Wahrnehmung bemerkbar?

Dem ersten Teil der Frage entnehme ich den wohl beliebtesten Irrglauben, der fest im Bewusstsein der litauischen Bevölkerung verankert ist. Viele glauben, dass das heutige Litauen in der direkten Nachfolge des Großfürstentums steht. Das stimmt nicht. Gemein ist ihnen nur der Name. Von 1918 bis 1922 erfolgte die Gründung eines neuen Staatsgebildes nach einem völlig neuen ethnolinguistischen Prinzip, das dem Großfürstentum komplett fremd war.

Der heutige Staat Litauen ist Polen freundlich, Russland als Nachfolger der Sowjetunion jedoch feindlich gesinnt. Doch das war nicht immer so. In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah die Sache umgekehrt aus: Polen war Feind Nummer eins, während das Verhältnis zur UdSSR sowohl seitens der Bevölkerung als auch von offizieller Seite von Wohlwollen geprägt war. In Litauen will sich daran heute niemand mehr erinnern, wie auch an die Tatsache, dass während der Annexion von Juni bis August 1940 ein Großteil der litauischen Elite freiwillig mit der neuen prosowjetischen Regierung kooperiert hat.

»Ich leite im Verlag die Programm­abteilung und ziehe die Herausgabe russischer Bücher gar nicht mehr in Betracht. Zumindest in den kommenden fünf Jahren wird das praktisch nicht möglich sein.«

Doch die größte Erinnerungslücke betrifft die Jahre 1945/46, als der Kreml mit Stalin an der Spitze den sehnlichsten Traum litauischer Nationalisten erfüllte. Aus dem Gebiet Vilnius wurden fast alle polnischen Bewohner, fast 100 000 Menschen, vertrieben. Nach der »ethnischen Säuberung« nahmen unsere Großväter und Urgroßväter deren Wohnungen und Häuser in Beschlag. Fast alle, insbesondere junge Leute, sind überzeugt, dass das litauische Vilnius eine Errungenschaft der Litauer darstellt.

Litauen hatte einen höheren Lebensstandard als die meisten anderen Sowjetrepubliken. Wie werten Sie den Weg Litauens seit der Unabhängigkeit, also seit dem Zerfall der Sowjetunion?

Vor 30 Jahren war ich sehr jung und dumm. Ich sprang mit einem grünen Band am Ärmel und der litauischen Trikolore in der Hand bei Unabhängigkeitsdemonstrationen herum, mochte nichts, was einen sowjetischen und russischen Anklang hatte. Aber mit der Zeit überkam mich die Erleuchtung: Die Scheunentüren­ waren überstrichen worden, das Gerümpel im Inneren blieb das gleiche. Also bin ich zum Anarchisten geworden, mit derselben Einstellung zu allen Obrigkeiten, egal in welcher Farbe sie ihren Anstrich erhalten haben.

Errungenschaften gibt es natürlich zuhauf. Beim Fahren durch die Vororte sticht der Unterschied sofort hervor. Handelt es sich um einen protzigen privaten Neubau mit zwei oder drei Stockwerken und sonderbaren Anbauten, flattert an einer hohen Stange daneben eine dunkelrote Fahne mit Reiter – die alte Flagge des Großfürstentums. Der Eigentümer strotzt vor Dankbarkeit gegenüber dem Staat. Ist das Haus etwas kleiner, aber dennoch von beeindruckendem Ausmaß, ist es mit der einfachen litauischen Trikolore geschmückt. Dementsprechend fällt auch die Loyalität des Eigentümers gegenüber dem Staat geringer aus. Alle anderen Häuschen und Holzhütten weisen gar keine Flaggen auf. Na so was! Wie undankbar!

Überall in Litauen finden sich ukrainische Fahnen und ähnliche Sym­bole einer proukrainischen Haltung. Ist das eine von oben verordnete Geste oder handelt es sich um eine gesellschaftliche Solidaritätsdemonstration?

Kürzlich verbrachte ich eine Woche in Barcelona. Dort habe ich nicht eine einzige blau-gelbe Fahne gesehen. Dann bin ich nach Hause gekommen und ­regelrecht auf einem ukrainischen Maidan gelandet. Hier hängen fünfmal so viele Flaggen wie 2014. Die Einwohner von Litauen sehen und hören seit drei Jahrzehnten immer ein und dasselbe – wie erbärmlich die Sowjetunion war und wie übel Russland ist. Daraus erklärt sich die heftige Reaktion in Litauen auf die Ereignisse von 2014 und 2022 im Unterschied zu Spanien oder Deutschland, obwohl die Parteinahme auch dort zu spüren ist.

Aber kommt darin die Meinung der Masse der Bevölkerung zum Ausdruck? Das »Forum für gute Nachbarschaft«, einer prorussischen Organisation, die jetzt verboten werden soll, behauptet, 60 Prozent der litauischen Bevölkerung sei Russland gegenüber eher positiv eingestellt. Dabei stellen Russen nur etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Forum setzt sich für visafreien Reiseverkehr ein und ist sich sicher, dass viele Litauer bereit sind, nach Russland zu reisen.
Soweit mir bekannt, sind in dem Forum nur wenige Leute aktiv, die gar nicht über die Möglichkeit verfügen, repräsentative Umfragen durchzuführen. Deshalb entspringen die 60 Prozent wohl eher ihrer lebhaften Phantasie. Mir scheint eine Umfrage glaubhaft, die im Juni dieses Jahres im Auftrag des Bratislawer Forums Globsec erstellt wurde. Die Ergebnisse fallen wenig ermu­tigend aus – 83 Prozent der Bewohner Litauens halten Russland für ein feind­liches Land, von dem eine Bedrohung ausgeht.

Sie haben seinerzeit Schriften von Eduard Limonow ins Litauische übersetzt. Viele Linke im Westen verbinden ihn in erster Linie mit seinem politischen Projekt, der Nationalbolschewistischen Partei NBP. Was hat Sie an ihm gereizt?

Das waren doch gute Zeiten! Damals kannten wir noch keine Kriege, keine Pandemien, keine Cancel Culture. Limonows Roman »Ich bin’s, Editschka« von 1976 habe ich 2006 übersetzt, das »Tagebuch eines Versagers« von 1982 etwas später. Beide Bücher sind litera­rische Meisterstücke mit anarchistischer Neigung, die den Protest des Individuums gegen die morschen gesellschaftlichen Grundpfeiler preisen. Heutzu­tage sind sie wertvoll und wichtig, wo doch die öffentliche Meinung die indi­viduelle Persönlichkeit regelrecht verschlingt.

Ich bin weit davon entfernt, die Ideen des Nationalbolschewismus gutzuheißen, aber die NBP war als Projekt relativ lange lebendig und erfolgreich. Ein reines Produkt des Postmodernismus. Aus extrem linken und extrem rechten Elementen haben Limonow und Aleksandr Dugin eine eklektische Plattform zusammengeschustert, die für subkulturelle Jugendliche Anziehungskraft besaß. Wenn ich einen jungen Typen mit punkigem Irokesenschnitt, der rotweißen NBP-Armbinde und einer Flagge der Donezker Volksrepublik sehe, stehen mir die Haare zu Berge.

Wie hat sich der Krieg auf den Buchmarkt ausgewirkt?

Etwa zwei Monate bevor der Krieg begann, haben wir die Memoiren von Chona Leibowitsch herausgegeben. Der ist in Vilnius geboren, lebt hier und seine Muttersprachen sind Jiddisch und Russisch. Das Buch mit dem Titel »Teetrinken mit einem Papagei« ist auf Russisch erschienen. Der Autor argumentierte, dass seine Generation russischsprachig ist, auch seine nach Israel emigrierten Freunde, die das Buch gerne lesen wollten. Der Buchhandel hat es aber aus dem Verkauf genommen. Daraufhin haben wir die Eigentümer der betreffenden Buchhandelsketten kontaktiert und zu verstehen gegeben, dass der Autor kein Russe ist, sondern Jude, und auch nicht aus Russland stammt. Das half, aber nicht überall, nur eine Kette hat das Buch wieder in ihre Regale gestellt.

Wurden alle auf Russisch verfassten Bücher aus dem Verkauf genommen und auch Bücher von russischen Autoren?

»Wenn du der Sowjetzeit einen positiven Anstrich verpasst, dann kann irgendein dahergelau­fener Patriot einen beliebigen Satz als Verherrlichung des Sowjetsystems deuten.«

Ja, wenn sie auf Russisch und von russischen Autoren verfasst, nicht aber wenn sie in litauischer Sprache erschienen waren. Ebenfalls kurz vor dem Krieg erschien ein von uns verlegtes populärwissenschaftliches Buch der russischen Publizistin Asja Kasanzewa über schädliche Angewohnheiten von Menschen, aber wegen der starken öffentlichen Russenfeindlichkeit haben wir von einer Buchpräsentation abgesehen. Entsprechend gering fielen auch die Verkaufszahlen aus. Nur wenige Buchläden hatten die Publikation in ihrem Sortiment. Wir befürchteten angesichts der paranoiden Stimmung in der litauischen Gesellschaft, beschuldigt zu werden, dass wir russische Propaganda verbreiten. Dabei ist Asja Kasanzewa keine Putin-Anhängerin, es geht hier einzig und allein um ihre Herkunft.

Das ist aber keine staatlich verordnete Politik?

Nein, offiziell gibt es keine entsprechende gesetzliche Regelung. Die Zensur ist privater Natur.

Wie kann Kitos Knygos unter diesen Umständen weiterarbeiten?

Ich leite im Verlag die Programmabteilung und ziehe die Herausgabe russischer Bücher gar nicht mehr in Betracht. Zumindest in den kommenden fünf Jahren oder noch länger wird das praktisch nicht möglich sein. Wir haben es mit einem regelrechten hausgemachten Konsens zu tun. Russische Autoren machen aber gerade mal ein paar Prozent aus, sogar in unserem Verlag. Obwohl Übersetzungen aus vielen verschiedenen Ländern erscheinen, enthalten Bestsellerlisten zu 80 bis 85 Prozent Bücher von US-Autoren. Wir sind in kul­tureller Hinsicht eine US-amerikanische Kolonie. Die USA exportieren ihre Kulturprodukte und wir importieren sie. Das trifft auf den gesamten litauischen Buchmarkt zu, wegen der Nachfrage aber auch auf Kitos Knygos. Wir sind ein kleiner Verlag mit etwa 40 Neuausgaben im Jahr.

Wie steht es bei Kitos Knygos um sowjetische Autoren?

Wir haben die Brüder Arkadij und Boris Strugazkij herausgegeben, das ist etwa zwei bis drei Jahre her. Die Bücher sind nach wie vor im Handel erhältlich. Außerdem »Wir« von Jewgenij Samjatin, »Die Reise nach Petuschki« von Wenedikt Jerofejew, auch ein paar frühere Ausgaben von Eduard Limonow und Wladimir Sorokin.

Wie steht es um die freie Meinungsäußerung im Allgemeinen?

Wir harren stillschweigend aus. Bereits vor Kriegsbeginn habe ich aufgehört, Beiträge auf Facebook zu veröffentlichen. Ich beschränke mich darauf, über Events zu berichten, etwa über Buchpräsentationen, an denen ich beteiligt bin, oder Ankündigungen.

Hat die Zurückhaltung mit staat­licher Repression oder öffentlichen Anschuldigungen zu tun?

Das lässt sich nicht voneinander trennen. Öffentliche Verurteilung mündet letztlich in entsprechenden Vorgehensweisen, beispielsweise wenn litauische Stiftungen, von deren Finanzierung unsere Arbeit abhängt, ihre Förderprogramme erstellen. Imageverluste haben zur Folge, dass niemand mit solchen Verlagen in Verbindung gebracht werden will. Deshalb hüllen wir uns in Schweigen.

Liegt das nur am Krieg oder gibt es noch andere Gründe?

Die ersten Vorboten zeigten sich im litauischen Geschichtsdiskurs. Seit 2010 ist es nach litauischem Recht verboten, die sowjetischen Verbrechen herunterzuspielen. Derselbe Artikel des Strafgesetzbuchs 170-2 verbietet es, das Andenken von antisowjetischen Partisanen zu diskreditieren. Auch mit Bezug auf dieses Thema wurden Publikationen von Buchläden aus ihrem Sortiment entfernt, die sich kritisch über die Waldbrüder (Guerillabewegung im Baltikum, die bis in die fünfziger Jahre gegen die Sowjetunion kämpfte, Anm. d. Red.) äußerten, denn viele von ihnen beteiligten sich erwiesenermaßen an der Ermordung von Juden. Gemeint ist vorrangig das 2016 erschienene Buch »Die Unsrigen« von Rūta Vanagaitė. (In diesem erfolgreichen Buch thematisierte Vanagaitė die Ermordung litauischer Juden. Im Jahr 2017 stand die Pu­blizistin im Mittelpunkt einer heftigen Debatte, nachdem sie kritische und teilweise unwahre Äußerungen über den antisowjetischen Partisanen Adolfas Ramanauskas-Vanagas getätigt hatte, den das litauische Parlament 2018 mit einem offiziellen Gedenkjahr ehren wollte. Ihr Verlag nahm daraufhin alle ihre Bücher aus dem Sortiment und beendete die Zusammenarbeit, Anm. d. Red.) Dieses Signal haben die Buchverlage sehr ernst genommen.

Im Januar dieses Jahres hatten wir ein ähnliches Buch der Autorin Silvia Foti herausgegeben, der Enkelin von Jonas Noreika, der in Litauen als Kriegsheld gilt, aber maßgeblich verantwortlich für Judenmorde war. Dieses Buch hatte das Zeug zum Bestseller, aber zum Erscheinungszeitpunkt war die Abschreckungskampagne bereits angelaufen und eine kritische Betrachtung der Waldbrüder stand unter Strafe. Letztlich lief es darauf hinaus, dass die Literaturkritik und auch die historische Forschung das Buch praktisch ignorierten. Zwar kann man es kaufen, es ist aber ein Ladenhüter.

Sie haben selbst mehrere Bücher über die Geschichte von Vilnius geschrieben.

Genau gesagt drei: Das erste deckt die Zeit des alten Vilnius bis 1944 ab, die beiden folgenden handeln von der sowjetischen Periode. Der erste Band wurde von Kitos Knygos sogar mehrfach aufgelegt und mit einer Gesamtauflage von 6 000 oder 7 000 für litauische Verhältnisse zu einem echten Verkaufsschlager. Mit den Folgebänden zur So­wjetzeit sieht es anders aus, auch wenn ich nicht behaupten kann, dass mir der Zugang zur Öffentlichkeit komplett verweigert worden wäre. Ich äußere mich aber immer sehr zurückhaltend, weil ich spüre, was ich sagen darf und was nicht.

Was darf man denn sagen?

Man kann getrost über das sowjetische Alltagsleben sprechen, aber wenn du dieser Zeit einen positiven Anstrich verpasst, dann kann irgendein dahergelaufener Patriot einen beliebigen Satz als Verherrlichung des Sowjetsystems deuten. Auf dieser Grundlage kann Anzeige erstattet werden.

Worüber hätten Sie denn schreiben wollen?

Ich hätte gerne über meiner Meinung nach positive Elemente beim Aufbau des Kommunismus zu Sowjetzeiten geschrieben. Es gab aus einem anarchis­tischen Blickwinkel durchaus begrüßenswerte Initiativen. Damit meine ich Strukturen, die parallel zum Staats­wesen entstanden, wie Volksmilizen, die eine Alternative zur offiziellen Polizei darstellten. Oder sogenannte Gesellschaftliche Gerichte als Gegenstück zur staatlichen Justiz, die in der zweiten Hälfte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre angesagt waren, als die Doktrin zum Aufbau des Kommunismus zum Tragen kam (Chruschtschows Vorstellung, im »friedlichen Wettbewerb« die kapitalistischen Länder zu überholen; Anm. d. Red.).

Auch existierten nach dem Krieg bis etwa 1965 in fast jedem Betrieb Fabrikkomitees, die eine reale Alternative zur offiziellen Betriebsverwaltung aus Direktoren und ihren Stellvertretern bildeten. Parallel dazu funktionierte der Fabrikrat, in den gewöhnliche Ingenieure oder Arbeiter gewählt wurden und der über gewisse Mitbestimmungsrechte verfügte, beispielsweise hinsichtlich der Festlegung sozialer Zuschläge.

Nach der Auflösung des Staats hätten diese de facto kommunistischen Strukturen dessen Aufgaben übernommen. Gleiches gilt für die »Gesellschaftlichen Gerichte« oder die Volksmilizen. In praktisch allen Bereichen des sowjetischen Lebens waren solche Strukturen entstanden oder es gab zumindest den Versuch, sie zu schaffen. Das trifft auch auf das Bildungswesen zu. Mit der Schaffung einer Freien Universität Luni als unabhängigem Lernmodell 2008 haben wir, Anarchisten aus Vilnius, uns an den sowjetischen Vorbildern wie der im Jahr 1948 gegründeten Gesellschaft »Wissen« orientiert. Natürlich war von Nachteil, dass die Initiativen in der Sowjetunion von oben kamen. Stellenweise hat die Idee in der Praxis gegriffen, stellenweise geriet sie zur reinen Formsache. Aber die Grundidee an sich war richtig.

Wollen Sie damit sagen, dass es klüger ist, auch darüber heute nicht offen zu sprechen?

Genau. Im dritten Band wollte ich da­rüber schreiben, habe mich aber umentschieden.

Wie steht denn die litauische Intelligenz zu ihrer sowjetischen Vergangenheit? Schließlich haben viele zu Sowjetzeiten Karriere gemacht.

Je finsterer, desto besser. Alles muss komplett geschwärzt werden, ohne Grautöne. Eine Karriere zu Sowjetzeiten zählt nicht. Das litauische Establishment schweigt sich über all das aus, als ob seine Vertreter aus dem Nichts aufgetaucht wären. In den neunziger Jahren hielten sie sich für gebildet und kultiviert, aber mit dem sowjetischen Erbe hatte das angeblich rein gar nichts zu tun. Die inflationäre Selbstbezeichnung als Dissident wurde zur Modeerscheinung. Wer heute über die Sowjet­zeit sprechen will, ist angehalten, dies aus der Position eines Dissidenten heraus zu tun. Diese Sichtweise wird auch im Schulunterricht vermittelt. Nur wer sich dem Sowjetsystem entgegengestellt hat, gilt als integre Person.

In meinem Buch vermeide ich es, auf solche ideologischen Konstrukte ein­zugehen. Kluge Leser werden in meiner Darstellung dennoch eine große Vielfalt im sowjetischen Alltagsleben ausmachen, ohne dass ich diesen Umstand als positive Erscheinung präsentieren muss. Ein paar jüngere Historiker bewerten die Sowjetzeit ebenfalls nicht aus einer Mainstream-Position heraus, einer davon ist Valdemaras Klumbys. Aber sie sind in der absoluten Minderheit.

Die Mehrheit konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die Kritik an der politischen und kulturellen Elite. Mein Ansatz hingegen entspricht weitest­gehend der Darstellung der Alltagsgeschichte von unten im Sinne des US-amerikanischen Historikers Howard Zinn, ohne die Kritik an den Machtverhältnissen aus den Augen zu verlieren. Aus der rechten Ecke wird mir trotzdem vorgeworfen, die Sowjetunion zu verherrlichen.

Wie steht es um linke Kräfte in Litauen? Sind sie vorrangig dem links­patriotischen Lager zuzuordnen wie die Teisingumo aušra (Morgenröte der Gerechtigkeit)? Gibt es in der Öffentlichkeit Raum für linke Intellektuelle ohne patriotische Note?

»Morgenröte der Gerechtigkeit« ist eine relativ neue Minipartei des litauischen politischen Gefangenen Algirdas Paleckis. Im vergangenen Mai wurde er zu sechs Jahren Haft auf Basis einer gefälschten Anklage wegen Spionage für Russland verurteilt. Unter dem Einfluss patriotischer Trends in der Gesellschaft hat er einen langen und dornenreichen Weg vom orthodoxen Marxisten bis zum linken Patrioten zurückgelegt, was ihm aber auch nicht geholfen hat. Natürlich ist es schade um ihn, aber angesichts eines dermaßen stark aufgeladenen Klimas hätte ihn nichts retten können. Paleckis war vermutlich der letzte Mohikaner. Alle linken Bewegungen in Litauen haben sich dem verderblichen Einfluss des Libe­ralismus und Nationalismus hingegeben. Die einen haben sich dem Kampf für die Rechte von Menschen, Tieren und Pflanzen verschrieben, die anderen der Rettung Litauens und der Ukraine.

Kürzlich wurde die Allianz der ­Linken in Litauen (ALL) gegründet. Was ist aus ihr geworden?

Die Allianz hat erstmals Ende Januar mit einem recht gängigen Programm von sich reden gemacht: Kritik am Kapitalismus, Kampf für soziale Gerechtigkeit, für Umweltschutz, Gender-Gleichheit und so weiter. Der ALL sind an die 30 Leute beigetreten, überwiegend Männer, weshalb sie zum Ausgleich vereinbart hatten, dass sie auf männliche Pronomen verzichten und »sie« anstelle von »er« verwenden. Die Leitung der Allianz setzte sich aus ehemaligen Aktivisten der Bewegung Neue Linke Litauens zusammen, die 2007 entstanden war. Ihnen schlossen sich einige libertäre Anarchisten an, wenngleich sowohl die Mitgliedschaft als auch die Disziplin auf Parteiprin­zipien beruht.

Mitte Februar organisierte die Allianz eine Solidaritätsaktion mit streikenden Beschäftigten der Achema, des größten litauischen Düngemittelkonzerns. Dann hat der Krieg gegen die Ukraine die Karten neu gemischt. Die litauische Regierung verhängte eine Art Vorstufe des Kriegsrechts (unter anderem darf kein russisches oder belarussisches Fernsehen mehr ausgestrahlt werden und es wurde erleichtert, Medien für die Verbreitung von Falschinformationen oder Kriegspropaganda zu belangen, Anm. d. Red.), die Gewerkschaft beendete den Streik und die ­Allianz-Mitglieder zerstritten sich und begannen, an einer Erneuerung ihres Programms zu arbeiten. In der litauischen Presse erschienen ihre revisionistischen Artikel mit Aufrufen, die ukrainische Staatsmacht in allen Fragen zu unterstützen, während sie auf Kritik an der Regierung im eigenen Land verzichteten und noch dazu den Klassenkampf umdeuteten. Im März un­terzeichnete die ALL gemeinsam mit kleinen linken Parteien aus der Ukraine, Polen, Rumänien, Tschechien, Finnland und Dänemark ein Dokument zur Unterstützung der Ukraine bis zu ihrem Sieg auf dem Schlachtfeld. Kurz gesagt, die Allianz ist nicht auseinander­gebrochen, aber sie ist zu einer weiteren schwachen und krächzenden Stimme im einigen Chor der litauischen Patrioten verkommen.
 

Darius Pocevičius

Bild: Ute Weinmann

Darius Pocevičius ist litauischer Schriftsteller, Publizist, Literaturkritiker, Übersetzer, promovierter Wirtschaftswissenschaftler und Mitarbeiter des Buchverlags Kitos Knygos (Andere Bücher).