Präsident Erdoğan will in Deutschland lebende türkische Wähler religiös beeinflussen

Erdoğans Statthalter in Köln

Der neue Imam der Kölner Ditib-Zentralmoschee war zuvor in der Türkei in einer Moschee tätig, die zum Areal des Palasts von Staats­präsident Recep Tayyip Erdoğan gehört. Einmal mehr zeigt sich, dass die Ditib der verlängerte Arm Erdoğans ist. Die Personalie könnte auch den Ausgang des türkischen Wahlkampfs im kommenden Jahr beeinflussen.

Seit Anfang Juli hat die Zentralmoschee der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) im Kölner Stadtteil Ehrenfeld einen weiteren Imam: Zu den drei anderen Vorbetern gesellte sich Adem Kemaneci, 40 Jahre alt, Vater von zwei Kindern.

Der Zugang ist ein prominenter, denn Kemaneci war zuvor als Imam in der Beştepe Millet Camii tätig. Diese Moschee befindet sich in der türkischen Hauptstadt Ankara – und gehört dort zum Areal des Präsidentenpalasts von Recep Tayyip Erdoğan. Sie ist also kein gewöhnliches Gebetshaus, Erdoğan selbst eröffnete sie im Juli 2015. Die Moschee habe in den vergangenen Jahren stets eine sehr wichtige Rolle für den Präsidenten gespielt, denn dort »fanden zu bestimmten nationalen oder religiösen Feiertagen politische In­szenierungen statt«, sagte Eren Güvercin, freier Journalist und Mitglied der ­Islamkonferenz, dem Kölner Sender Domradio im Interview. Für diese In­szenierungen habe Kemaneci »mit seiner schönen Stimme, mit der er auch sehr schön den Koran rezitieren kann, die notwendige Kulisse für Erdoğan abgegeben, um dem Volk auch zu si­gnalisieren, dass Erdoğan nicht nur ein starker politischer Führer ist, sondern auch einen religiösen Anspruch hat«.

Rund 1,4 Millionen türkische Staats­bürger, die in Deutschland leben, sind in der Türkei wahlberechtigt.

Dass zum Präsidentenpalast überhaupt eine Moschee gehört, sei »ein Novum in der Türkei, weil die Türkei ja ­eigentlich eine laizistische Republik ist«, so Güvercin. Nur wenige wüssten in Deutschland, dass der neue Imam der Kölner Zentralmoschee nicht wegen seiner schönen Stimme oder seiner theologischen Kompetenz bekannt sei, sondern weil er »eine wich­tige Figur im Präsidentenpalast von Staatspräsident Erdoğan war«. Die Ditib hebt hingegen hervor, dass Kemaneci sehr beliebt bei den Gläubigen sei, auch weil er eine »Rezitationsgröße in der religiös-musikalischen Szene für Sufi-Musik« sei, wie Ditib-Sprecherin Ayse Aydin der Kölner Boulevardzeitung Express sagte. Außerdem sei es Imamen nicht gestattet, sich politisch zu betätigen. Sie seien nur für religiöse Dienste und Angebote zuständig, das gelte auch für Kemaneci.

Güvercin lässt das nicht gelten: »Das sind immer wieder die Formulierungen, die man von der PR-Abteilung der Ditib hört.« Wenn es politische Skandale gebe oder Aktivitäten der Ditib bekannt würden, die der türkischen Regierungspartei AKP von Erdoğan nutzten, »dann hören wir immer diese Floskeln«, so Güvercin. Doch ein Faktencheck zeige, »dass mitnichten politische Betätigung der Imame oder des Personals unterbunden werden, ganz im ­Gegenteil«. Als konkretes Beispiel nannte Güvercin einen Auftritt von Kemaneci im türkischen Konsulat in Köln am 15. Juli, kurz nach dessen Amtsantritt in Ehrenfeld. »Am 15. Juli 2016 war der gescheiterte Putschversuch in der Türkei. Seitdem inszeniert die AKP den 15. Juli mit Gedenkveranstaltungen für ihre eigenen politischen Zwecke.« Im türkischen Konsulat sei ein führender AKP-Politiker, Akif Çağatay Kılıç, der Ehrengast gewesen. Dort habe ­Kemaneci aus dem Koran rezitiert und Çağatay Kılıç »eine regelrechte Brand­rede und Wahlkampfrede für das nächste Jahr gehalten«, so Güvercin. Auch in seiner Funktion als Ditib-Imam habe sich Kemaneci also »für eine politische Inszenierung der türkischen Macht­haber instrumentalisieren lassen«.

Die Ditib mit Sitz in Köln ist die größte sunnitisch-islamische Organisation in Deutschland. Sie untersteht der Leitung, Kontrolle und Aufsicht des staatlichen türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, das direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Dadurch nimmt Erdoğan Einfluss auf die Politik der Ditib. Zur Einweihung der Kölner Zentralmoschee im September 2018 ­erschien er persönlich. Die Ditib-Imame werden an staatlichen theologischen Hochschulen in der Türkei ausgebildet und für fünf Jahre nach Deutschland geschickt, sie sind de facto Beamte des türkischen Staats, von dem sie auch bezahlt werden. Die Personalie Kemaneci sei »ein weiteres Anzeichen dafür, wie sehr Ditib mit Ankara verbunden ist«, sagte die Kölner Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landtags, Berivan Aymaz. Auch für ihren Parteikollegen und Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, ist die Berufung des Imams ein neuerlicher Beweis, dass die Ditib »der verlängerte Arm von Erdoğan« sei.

Mit dem Wahlkampf, den Güvercin angesprochen hat, ist jener für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gemeint, die im Juni 2023 in der Türkei gleichzeitig stattfinden sollen. Für die herrschende AKP sei das eine »Schicksalswahl«, so Güvercin. »Die wirtschaftliche Lage im Land ist sehr kritisch. Die Inflation ist sehr hoch und ­dadurch auch der Unmut in der Bevölkerung. Die Umfrageergebnisse für die AKP sehen nicht gut aus.« In der Tat liegt der amtierende Präsident Erdoğan in den Umfragen derzeit hinter jedem möglichen Oppositions­kandidaten deutlich zurück, von einer absoluten Mehrheit ist er weit entfernt. Die Opposition hat in den vergangenen Jahren ein Bündnis aus inzwischen sechs Parteien gebildet, das über alle politischen Unterschiede hinweg ein Ziel eint: Eine weitere Amtszeit von Erdoğan soll unbedingt verhindert werden. Allen Meinungsforschungsinstituten in der Türkei zu­folge deutet vieles auf eine Stichwahl zwischen Erdoğan und dem Kandi­daten der größten Oppositionspartei hin, der kemalistischen und sozial­demokratischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP).

Wer dieser Kandidat sein wird, steht noch nicht fest, die CHP zögert eine Entscheidung hinaus. Die für eine Präsidentschaftskandidatur in Frage kommenden Politiker der Partei halten sich in öffentlichen Stellungnahmen bedeckt. So sagte etwa Ekrem İmamo­ğlu, der Bürgermeister von Istanbul, der Zeit Ende Mai auf die Frage, ob er bereit sei, gegen Erdoğan anzutreten: »Das ist eine sehr schwierige Frage. Das Einzige, was ich gerade will, ist, dass die Regierung geht. Das ist es, wofür ich bereit bin zu kämpfen.« Diese Zurückhaltung hat wesentlich damit zu tun, dass die regierende AKP Justiz und Medien weitgehend unter Kontrolle hat. Wenn Erdoğans Gegenkandidat frühzeitig feststünde, müsste dieser damit rechnen, von undemokratischen Praktiken behindert und von der Justiz behelligt zu werden.

Weil die Wahlen im kommenden Jahr knapp ausgehen dürften, werden »die Stimmen der türkischen Staatsangehörigen hier in Deutschland wahlentscheidend sein«, vermutet Güvercin. Deshalb seien »Strukturen wie die ­Ditib und andere türkisch geprägte Verbände in Deutschland für die ­Mobilisierung der Stimmen hier aus Deutschland sehr wichtig«. In diesem Kontext sei »die Entscheidung Ankaras, Kemaneci zum Imam der Ditib-Zentralmoschee, der wichtigsten Moschee der Ditib in Deutschland, zu ernennen, kein Zufall«. Denn auch in Deutschland laufe der türkische Wahlkampf schon längst. Rund 1,4 Millionen türkische Staatsbürger, die in Deutschland leben, sind in der Türkei wahlberechtigt. Ihre Stimmen können sie in den Konsulaten und der Botschaft abgeben, 46 Prozent machten bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren davon Gebrauch. Auf Erdoğan entfielen 64,8 Prozent der in Deutschland abgegeben Stimmen, das Ergebnis lag deutlich über seinem Gesamtergebnis von 52,6 Prozent. Der angeblich un­politische Kemaneci hätte wohl nichts dagegen, wenn sich dieses Ergebnis wiederholen würde.