22.09.2022
Im postkolonialistischen Milieu hält man das Shoah-Gedenken für provinziell

Das künstlerische Argument

In der postkolonialen Szene gilt das Gedenken an die Shoah als provinziell, Israel wird als letzte Kolonialmacht angesehen. Der Anti­semitismus auf der Documenta fifteen ist auch die praktische Konsequenz aus jener Debatte, die als »Historikerstreit 2.0« firmiert.

Wenige Tage vor dem Ende der Documenta fifteen in Kassel hat sich die Auseinandersetzung über den Antisemitismus bei der Kunstschau noch einmal zugespitzt. Fünf von acht Mitgliedern des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Ausstellung, das von den Gesellschaftern der Documenta mit der Aufarbeitung der antisemitischen Inhalte betraut wurde, schrieben in einer Erklärung, »dass die gravierenden Probleme der Documenta fifteen nicht nur in der Präsentation vereinzelter Werke mit antisemitischer Bildsprache und antisemitischen Aussagen bestehen, sondern auch in einem kuratorischen und organisationsstrukturellen Umfeld, das eine antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen hat«.

Am dringlichsten sei es, die Vorführung von »pro-palästinensischen Propagandafilmen« aus den sechziger bis achtziger Jahren zu beenden, die das Kollektiv Subversive Film zeigt. Denn »hoch problematisch an diesem Werk sind nicht nur die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren«. Die Filme stellten »in ihrer potenziell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk ›People’s Justice‹« von Taring Padi, so die Wissenschaftler in der gemeinsamen Erklärung.

Die Aktivisten plädieren für eine »multidirektionale Erinnerung« und finden alles andere »provinziell«, darunter auch und vor allem das Gedenken an die Vernichtung der Juden.

Dieses Urteil ist eine schallende Ohrfeige für die Documenta und vor allem für die künstlerische Leitung, die dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa übertragen worden war. Doch die Gruppe denkt gar nicht daran, die Vorführung der Filme einzustellen. In einer Erklärung, die sie gemeinsam mit anderen bei der Documenta vertretenen Künstlern und Kollektiven veröffentlichte, bezeichnet Ruangrupa die Stellungnahme des Gremiums als »rassistisch« und dessen Empfehlungen als »Zensur«. »Widerstand gegen den Staat Israel« sei »Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus, Apartheid, ethnische Säuberung und Besatzung«, heißt es inder Stellungnahme. Man werde sich nicht von den Wissenschaftlern »re-kolonisieren« lassen.

Die Findungskommission der Documenta, die Ruangrupa mit der künstlerischen Leitung beauftragt hatte, unterstützte diese Erklärung ausdrücklich. Eines ihrer Mitglieder, der indische Künstler und Filmemacher Amar Kanwar, hatte 2013 einen Protestaufruf gegen die wissenschaftliche Kooperation des indischen Bundesstaates Gujarat mit Israel unterschrieben; der Protest war Teil der »Indian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel«. Ein weiteres Mitglied, der Museumsdirektor Charles Esche, zählte im Dezember 2020 zu den Unterzeichnern eines Aufrufs zur Unterstützung der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, die den Bundestagsbeschluss vom Mai 2019 ablehnt, der die BDS-Kampagne unumwunden als antisemitisch bezeichnet.

Auch Ade Darmawan und Farid ­Rakun, zwei Ruangrupa-Mitglieder, haben antiisraelische Boykottaufrufe ­unterschrieben: Darmawan unterzeichnete den »Letter Against Apartheid«, den 2021 angeblich ein anonymes palästinensisches Künstlerkollektiv verfasst haben soll, Rakun den »Open letter to the Fundação Bienal de São Paulo«, der sich gegen die finanzielle Unterstützung des israelischen Staates für die bedeutende Kunstausstellung in der brasilianischen Stadt São Paulo richtete. All das war schon seit Januar bekannt, weil das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel es recherchiert und öffentlich gemacht hatte; viele Medien verbreiteten diese Informationen weiter. Nicht erst die Documenta hat gezeigt: Wo man vermeintlicher »Israelkritik« Raum gewährt, kommt Antisemitismus heraus. Der Skandal war vorhersehbar, er hätte sich verhindern lassen, doch die Verantwortlichen der Kunstschau unternahmen genauso wenig etwas dagegen wie die Stadt Kassel, das Bundesland Hessen und die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) als Geldgeber.

Die Documenta fifteen sollte eine Plattform des sogenannten Globalen Südens werden, eine politische Stellungnahme. Der Kolonialismus sollte eines der zentralen Themen sein, und was dabei herauskam, ist so etwas wie die praktische Konsequenz jener Debatte, die seit über zwei Jahren als »Historikerstreit 2.0« firmiert. In diesem vertreten postkoloniale Wissenschaftler wie Dirk Moses, Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer die Position, der Holocaust sei kein singuläres Verbrechen, sondern reihe sich ein in die umfangreichen Verbrechen des Kolonialismus. Das Gedenken an die Shoah in Deutschland verstelle, so ihre Kritik, zum einen den Blick auf die Untaten, die Deutschland in seinen Kolonien begangen habe. Zum anderen werde die Vernichtung der Juden instrumentalisiert, um die besondere deutsche Verpflichtung ­gegenüber dem jüdischen Staat zwecks Erlösung von historischer Schuld für sakrosankt zu erklären und die israelische Unterdrückung der Palästinenser zu beschweigen. Israel gilt unter Postkolonialen gemeinhin als Kolonialstaat, und wenn die Shoah nur eines von vielen kolonialen Verbrechen ist, gibt es folglich keinen Grund, dem jüdischen Staat ein besonderes Existenzrecht zuzusprechen.

Was die postkolonialen Wissenschaftler und ihre Anhänger vorbringen, ist weniger wissenschaftlich als vielmehr politisch motiviert. Sie sind Aktivisten, die für eine »multidirektionale Erinnerung« plädieren und alles andere »provinziell« finden, darunter auch und vor allem das Gedenken an die Vernichtung der Juden. Die deutsche Übersetzung von Rothbergs Buchs »Multidirektionale Erinnerung.

Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung« wurde unter anderem vom Goethe-Institut und vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin gefördert – beide gehören zu den Unterstützern der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«. Zu dieser »Weltoffenheit« gehört es auch, Israelhasser nicht einzuschränken, erst recht nicht, wenn sie aus dem Nahen Osten oder dem »Globalen Süden« kommen. Das Plädoyer der Initiative beinhaltet die »Öffnung für alternative Weltentwürfe«, auch wenn darin kein Platz für einen jüdischen Staat ist.

In diesem postkolonialen Milieu tummelt sich auch BDS, und so ist es nur folgerichtig, dass auf der Documenta diverse Exponate ausgestellt wurden, die Israel dämonisieren und vielfach auch einen darüber hinaus­gehenden, klassisch antisemitischen Charakter aufweisen wie das Schlachtengemälde von Taring Padi. Israel wird in Kassel als Kolonialmacht präsentiert; Ruangrupa hat in seiner Reaktion auf die Stellungnahme des wissenschaftlichen Gremiums betont, wie wichtig den Künstlerkollektiven der »antikoloniale Kampf« der Palästinenser sei. Die Kunstschau ist insoweit auch ein Angriff auf die Erinnerung an die Shoah, sie stellt die Singularität des Holocaust in Frage und setzt mit künstlerischen Mitteln um, was die postkoloniale Seite im »Historikerstreit 2.0« proklamiert.

Die Kritik an den antisemitischen Werken auf der Documenta als »rassistisch« und als Versuch einer »Rekolonisierung« zu bezeichnen, wie nicht nur Ruangrupa es getan hat, ist ein üblicher Reflex, wenn es um Antisemitismus geht, der nicht von rechtsaußen kommt, sondern von postkolonialer Seite. So war es bereits in der Debatte über den kamerunischen Philosophen und Historiker Achille Mbembe im Frühjahr und Sommer 2020. Als ob eine antisemitische Haltung, Äußerung, Darstellung oder Handlung weniger oder gar nicht antisemitisch wäre, wenn sie von jemandem aus dem Nahen Osten oder dem »globalen Süden« kommt. Und als ob es von der Herkunft oder der Hautfarbe abhinge, ob Kritik begründet ist, und nicht vom Antisemitismus.