Über Korruption bei der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft der Männer 2006 an Deutschland

Korrupte Bastarde und das Sommermärchen

Für eine erfolgreiche Bewerbung um die Austragung einer Fußballweltmeisterschaft ist Bestechung schon seit Jahrzehnten das Mittel der Wahl.

Die Funktionäre des Verbands Fifa, der unter anderem die Weltmeisterschaften im Fußball ausrichtet, gelten den Fans ganz unterschiedlicher Vereine als »korrupte Bastarde«. So ist es seit Jahren auf Stickern in Stadiontoiletten oder großen Bannern auf den Rängen zu lesen. Doch die Kritik am abgehobenen und korrupten Funktionärswesen der Fifa wird nicht mehr nur in subkulturellen Sphären der Ultrabewegung und Fanvereinigungen geübt, sie ist über die Sportberichterstattung in den medialen Mainstream gelangt. Nun, kurz vor der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht längere Reportagen in Printmedien und im Fernsehen über die Vergabe der Weltmeisterschaft an den Golfstaat oder die gesellschaftliche Situation dort erscheinen. Diese Reportagen haben es oft in sich und werfen nicht nur ein schlechtes Licht auf einzelne Fußballfunktionäre, sondern lassen vielen bereits im Vorhinein das Vergnügen am WM-Gucken vergehen.

Derzeit fragen sich daher nicht nur die üblichen kritischen Fußballgeister, wie es zu der Entscheidung kommen konnte, eine Fußballweltmeisterschaft der Männer an das autoritäre Emirat zu vergeben, einen Kleinstaat ohne Fußballtradition mit knapp 2,7 Millionen Einwohnern, von denen aber nur zehn Prozent Staatsbürger und die restlichen 90 Prozent weitgehend rechtlose Arbeitsmigranten sind. Die banale Antwort lautet: Korruption.

Warum findet in einem Land, in dem Menschenrechte nicht geachtet werden, überhaupt eine Fußballweltmeisterschaft statt? Die banale Antwort lautet: Korruption.

Der damalige Fifa-Präsident Joseph Blatter hatte am 1. Dezember 2010 in Zürich verkündet, die Fußballweltmeisterschaft der Männer werde 2022 in Katar stattfinden. Es war eine Doppelvergabe: Russland erhielt gleichzeitig den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft der Männer im Jahr 2018.

Im selben Jahr hatte die Irish Times mit versteckter Kamera dokumentiert, wie ungeniert Fifa-Funktionäre der Korruption frönten, wenn es um die Vergabe dieses Sportereignisses geht. Seither legten andere große Medien nach, zum Teil mit Informationen, die vermutlich von Konkurrenten in den Fifa-internen Machtkämpfen durchgestochen worden waren. Diese Informationen warfen auch auf vorherige WM-Vergaben ein neues Licht. Unter anderem geriet die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft der Männer 2006 an Deutschland in den Fokus, die hierzulande als »Sommermärchen« glorifiziert wird. Es folgten Aufklärungsversuche der Fifa und strafrechtliche Ermittlungen in mehreren Ländern.

Dabei hatte schon zehn Jahre vor der Verkündung Katars als WM-Gastgeber das deutsche Satiremagazin ­Titanic bewiesen, dass Korruption unverzichtbarer Bestandteil der WM-Vergabe ist. Es war der größte Scoop, der dem aktionistischen Humorblatt jemals gelungen war. Titanic nahm Einfluss auf die Entscheidung, ob die WM 2006 in Südafrika oder Deutschland ausgetragen wurde. Am Abend des 5. Juli 2000, dem Tag vor der Wahl des Gastgeberlands durch die Mitglieder des Fifa-Exekutivkomitees, sandte der damalige Chefredakteur der Titanic, Martin Sonneborn, nacheinander zwei Faxe an ein Hotel in Zürich, in dem die Tagungsteilnehmer abgestiegen waren. Er bat die Rezeptionistin, das als »hochwichtige Nachricht« deklarierte Schreiben den Komiteemitgliedern zukommen zu lassen. Die Hotelangestellte steckte die Faxe in Umschläge und schob sie umgehend unter den Zimmertüren der Empfänger durch. Mit diesem zuvorkommenden Aktionismus sorgte sie, wie Sonneborn später in seinem Buch über diese Ereignisse schrieb, »für den letzten Schliff, der der Aktion endgültig Authentizität verlieh«.

In dem Schreiben wurde den sieben Männern in rumpeligem Englisch ein kleiner Geschenkekorb (»specialities from the black forest, including some really good sausages, ham and – hold on to your seat – a wonderful KuKuClock«) für den Fall angeboten, dass sie für die deutsche Bewerbung stimmen. Das Fax irritierte den neuseeländischen Delegierten Charles Dempsey so sehr, dass er sich am folgenden Tag enthielt und damit Deutschland einen Sieg mit zwölf zu elf Stimmen bei der Abstimmung bescherte, wie Spiegel Online im November 2005 berichtete. Die anderen Adressaten fanden solche Angebote anscheinend nicht ungewöhnlich.

Knapp 17 Jahre später, im vergangenen Oktober, erklärten zwei der Verantwortlichen für das »Sommermärchen« in einem Gespräch mit der FAZ, dass mit Titanic-ähnlichen Mitteln die WM 2006 nach Deutschland geholt worden sei. Das Motiv des Geständnisses war vermutlich, Druck auf die hessische Justiz auszuüben. Theo Zwanziger, DFB-Präsident von 2006 bis 2012 sowie Vizepräsident des Organisationskomitees der WM 2006, und Horst Schmidt, von 1992 bis 2007 DFB-Generalsekretär und als geschäftsführender Vizepräsident ebenfalls wichtiger Funktionär in dem entsprechenden Organisationskomitee, wollten mit ihren Äußerungen wohl den nur noch in Deutschland laufenden Strafermittlungen die Dringlichkeit nehmen. In der Schweiz, dem Sitz der Fifa, waren die Vorwürfe beispielsweise bereits verjährt. Neben der strafrecht­lichen Komponente ging es den ehemaligen Funktionären darum, sich von dem »Stigma« reinzuwaschen, dass man »einer mit krimineller Energie« sei, so Schmidt. Die beiden räumten ein, bei Sponsoren unter der Hand 20 Millionen DM aufgetrieben zu haben. So hätten sie »in der Mittelverwendung ganz anders handeln« können, sagte Schmidt.

Zwanziger räumte ein: »Natürlich ist es in dem einen oder anderen Fall zu Geldflüssen gekommen. Das lässt sich doch gar nicht leugnen.« Da­neben soll es laut Zwanziger noch zu Zahlungen rund um »Fernsehrechte aus einem anderen Bereich, damit man asiatische Stimmen bekommt«, gekommen sein; der Inhaber der WM-Fernsehrechte 2006, die Kirch-­Mediengruppe, soll Fifa-Funktionäre aus Asien bestochen haben. »Doch die 6,7 Millionen Euro, die später als Zahlung wie die zehn Millionen Schweizer Franken von Franz Beckenbauer für den WM-Kauf dargestellt wurden, haben mit der WM-Vergabe nichts zu tun«, so Zwanziger.

Die Vorwärtsverteidigung basierte auf drei Strategien: Erstens, mit dem Finger auf andere zu zeigen, zweitens, die positiven Effekte des »Sommermärchens« hervorzuheben, und drittens, so zu tun, als ob vor 20 Jahren Korruption ein Kavaliersdelikt gewesen wäre.

Die erste Strategie geht so: Katar sei der eigentlich Schurkenstaat in der Sportwelt, das Zwanziger-Zitat »Hinter allem steckt Katar« wählte man bei der FAZ als Überschrift für das komplette Interview aus. Katar habe schließlich schon seit den späten neunziger Jahren alles daran ­gesetzt, irgendwann eine WM auszurichten. Das eigene Verhalten soll im Vergleich wohl eine Lappalie sein, denn andere, also die Katarer, hätten es viel schlimmer getrieben. Ein bisschen klingt das schon nach einem Verschwörungsmärchen.

Ganz abwegig ist die Geschichte Recherchen des Magazins »Investigativ« des Schweizer Fernsehsenders SFR zufolge jedoch nicht. Höchste katarische Regierungskreise, darunter das derzeitige Staatsoberhaupt, hatten demnach eine Spionagefirma für Hunderte Millionen US-Dollar beauftragt, für die erwünschte WM-Vergabe potentiell bedrohliche Personen auszuspähen und, wenn möglich, zu diskreditieren. »Investigativ« schrieb dazu Anfang November: »Die Opfer waren den Spionen ausgeliefert. E-Mail-Accounts, Computer, Telefone, bis in den Freundeskreis, sogar bis in die Familie – überall hin drangen die Schattenkrieger Katars vor.« Die Recherche lasse »den Schluss zu: In den letzten zehn Jahren gab es in der Fifa-Politik eine unsichtbare Hand, die versuchte, die Fäden zu ziehen. Die Spione behaupten, in das höchste Gremium des Weltfußballs vorgedrungen zu sein.« Ein bedeutendes Ziel sei Zwanziger gewesen, der nicht nur DFB-, sondern bis 2015 auch Fifa-Funktionär war. In dem »Investigativ«-Beitrag heißt es, dass »sich Katar die Bespitzelung und Beeinflussung Zwanzigers zehn Millionen Dollar kosten« ließ – also ganz andere Summen, als für die Vergabe der WM 2006 an Deutschland ausgegeben worden sein sollen.

Schmidt wiederum benutzt Methode zwei: Er argumentiert, dass die WM einen positiven Effekt (»das Sommermärchen«) für den Bundesliga-Fußball gehabt habe. So habe »praktisch jede Stadt ihr Stadion erneuert«. Und als Drittes wird schließlich vorgebracht, dass in der Zeit der deutschen WM-Bewerbung laut Zwanziger noch ganz anders über Korruption gedacht und geurteilt worden sei.
Sylvia Schenk, Juristin, ehemalige Olympionikin und seit 2014 Leiterin der Arbeitsgruppe Sport bei Transparency Deutschland, hat zu den Aussagen der ehemaligen DFB-Funktionäre eine ganz andere Meinung. Dass diese »meinen, das Verhalten damals sei akzeptabel gewesen«, verwundert sie. Der FAZ sagte sie über Zwanziger: »Seine Argumentation, die Katarer hätten alles eingefädelt, weil sie 1998 schon gewusst hätten, dass sie 2022 die WM ausrichten würden, halte ich für abenteuerlich.«

Ende Oktober verkündete die FAZ dann: »Es ist wieder ein Sommermärchen« – das Landgericht Frankfurt hatte die Verfahren zur Verga­be der WM 2006 eingestellt.