Katharine Quinn-Judge, Analystin, über die Lage der ukrainischen Bevölkerung in den Kriegsgebieten

»Die Leute wissen nicht, was als Kollaboration gelten könnte«

Die Analystin ­Katharine Quinn-Judge berät Nichtregierungsorganisationen und staatliche Organisationen bei ihrer Arbeit in vom Krieg betroffenen Gebieten der Ukraine. Mit der Jungle World sprach sie über die ukrainische Bevölkerung zwischen den Fronten.
Interview Von

Wozu recherchieren Sie genau?

Vor der Invasion konzentrierte sich unsere Arbeit auf die sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk. Vielen galten die Menschen dort als zu gehirngewaschen, als dass es sich lohnen würde, ihre Ansichten zu erforschen, aber die Mehrheit der Menschen dort sah sich nach wir vor als ukrai­nische Bürger und als unpolitisch, sie empfand eine tiefe Wut auf beide Seiten in diesem Konflikt. Meine Kollegen und ich verfassten Berichte über die Stimmung in der Bevölkerung, die sozioökonomische Situation und politische Entwicklungen. Wir suchten auch nach Anzeichen von Arbeitskämpfen aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage, doch die Situa­tion war zwar schlimm, aber stabil – die Menschen waren zu sehr am Boden, um sich aufzulehnen, obwohl viele ihre Bosse hassten. Die lokalen Machthaber wussten, dass sie verhasst waren, aber es war eine Art stabile Antipathie, weil die Angst der Menschen größer war als ihr Hass.

»Menschen verstecken sich seit Monaten in ihren Wohnungen, um den Zwangsrekrutierungen zu entgehen.«

Wie sammeln Sie Ihre Informa­tionen?

Unsere Recherchen basieren auf Informationen, die von Menschen vor Ort gesammelt werden. Nach der Invasion haben wir so ein Netzwerk in über einem Dutzend vom Krieg betroffenen Regionen aufgebaut, beispielsweise in von Russland im Zuge der diesjährigen Invasion besetzten Teilen der Oblast Luhansk, in Mariupol, Tschernihiw, Sumy, Odessa, Charkiw und Cherson. Wir rekrutieren Menschen, die keinen politischen oder aktivistischen Hintergrund haben und unbemerkt arbeiten können, beispielsweise eine ehemalige Betreiberin einer Konditorei oder ein Mann, der früher in der Bergbauverwaltung gearbeitet hat. Die führen lange Interviews mit unterschiedlichen Menschen, damit wir Meinungsbilder erstellen können, oder sammeln Informationen in ihrem Umfeld.

Wie sicher können Sie sich sein, dass Ihre Meinungsumfragen repräsentativ sind?

Nicht sehr sicher, dessen müssen wir uns bewusst sein. Um ein extremes Beispiel zu nennen: Unsere Meinungsumfragen in den kürzlich von der ­ukrainischen Armee befreiten Gebieten von Cherson und Charkiw basierten auf 20 Interviews. Die Gebiete waren gerade erst befreit worden, die Internet- und Handyverbindung war schlecht, und viele Menschen waren verunsichert und zögerten, mit uns zu sprechen. ­Außerdem war ein Teil der Bevölkerung in die von Russland kontrollierten Gebiete ausgereist, diese Menschen waren nicht mehr erreichbar.

Wie viel wussten die Menschen in den besetzten Gebieten darüber, was in der Ukraine passierte?

Ich würde sagen, dass vielleicht knapp die Hälfte der Menschen sehr wenig Informationen über die Ereig­nisse außerhalb hatte. Andere wussten beispielsweise, auf welchen Hügel am Stadtrand sie fahren mussten, um ein Handysignal zu bekommen, um mit ihrem Cousin jenseits der Front zu telefonieren und an Informationen über die Außenwelt zu kommen.

Wie haben sich die Einstellungen zum Krieg in diesen Gebieten entwickelt?

Eine interessante Dynamik in der Re­gion Charkiw und auch in Cherson war, dass oft jene Orte, die während des ­Beginns der russischen Besatzung am meisten gelitten hatten, am wenigsten während der Befreiung litten und andersherum. Isjum in der Oblast Charkiw beispielsweise erlebte eine schreckliche Belagerung durch die russische Armee und wurde dabei völlig zerstört; als die Befreiung durch die Ukraine stattfand, wurden die Kämpfe im Vergleich nicht mehr als so schlimm empfunden. Kupjansk oder Wowtschansk wiederum wurden fast ohne Gegenwehr von Russland besetzt; viele dort erlebten zum ersten Mal schwere Kämpfe, als die ukrainische Armee anrückte. Aus Dörfern um ­Kupjansk wurde nach der Befreiung berichtet, dass viele Menschen feind­selig und verstört waren. Sie sagten, sie hätten in diesen Wochen zum ersten Mal in Kellern sitzen und um ihr Leben fürchten mussten. In Isjum gab es aufgrund der schrecklichen russischen Belagerung und Besatzung eine dementsprechend große Dankbarkeit, als dieser Alptraum mit der Ankunft der ukrai­nischen Soldaten zu Ende ging. Solche unterschiedlichen Erfahrungen können zu sehr unterschiedlichen Einstellungen zur Besatzungszeit führen.

Sind diese Erfahrungen also entscheidender als politische Positionen, die Menschen schon vor der ­Invasion hatten?

Direkt nach der Invasion schien es tatsächlich so, als seien die bisherigen politischen Spaltungen irrelevant geworden: Menschen, die vorher sozusagen »Watniks« waren (meist abwertende Bezeichnung für Menschen mit prorussischen Einstellungen, Anm. d. Red.), identifizierten sich klar mit der Ukraine und wurden auch als zur Ukraine gehörig akzeptiert. Das hat aber nicht lange angehalten – zumindest in den sozialen Medien und in der Öffentlichkeit. Auf der lokalen Ebene kann man aber immer noch beobachten, dass bisherige politische Spaltungen an Bedeutung verloren haben.

Wie haben sich die Ansichten der Menschen in den sogenannten Volksrepubliken seit der Invasion verändert?

Es gibt Hinweise, dass Menschen, die keine starke ideologische prorussische Position hatten, schockiert und wütend über die Invasion waren. Eine unserer Quellen ist beispielsweise ein Mann, der eine ungefestigte oder kulturell grundierte prorussische Position hatte, aber heute in jedem Interview Putin verflucht und alles tut, um nicht in die Streitkräfte einberufen zu werden. Andererseits hat er auch Angst, dass die ukrainische Armee nach ­Donezk kommt und, wie er es ausdrückt, »Rache übt für Mariupol«.

Vielleicht eines der hervorstechendsten Beispiele für jemanden, der seine Einstellung nach der Invasion geändert hat, ist ein Mann, der immer gehofft hatte, dass die Ukraine eines Tages Donezk zurückholen werde, aber heute sagt, dass er sich nur noch wünscht, dass der Krieg aufhört, damit nicht mehr seiner Nachbarn sterben müssen.

Wie hat sich das Leben in den s­ogenannten Volksrepubliken seit Februar verändert?

In den westlichen Medien wird darüber kaum berichtet, aber die Situation in der umkämpften Stadt Donezk ist sehr prekär. Es gibt regelmäßigen Beschuss – unklar von welcher Seite – mit zivilen Opfern, das Wasser droht auszugehen. Ohne Wasser kann man auch die Heizungen nicht betreiben. Es ist nicht so schlimm wie in Mariupol, wo die Menschen in den Wohnungen frieren, aber Teile der Stadt Donezk haben schon jetzt keine Heizung mehr.

Russland hat in den sogenannten Volksrepubliken in großem Maßstab Männer für den Kampf gegen die Ukraine rekrutiert. Wie viele ­gehen dort freiwillig zur Armee?

Selbst unsere klar antiukrainischen Informanten in den Volksrepubliken sagen alle, dass sie niemanden kennen, der sich seit Februar freiwillig zur Armee gemeldet hätte. Aber sie alle kennen viele, die gezwungen wurden, und viele, die sich seit Monaten in ihren Wohnungen verstecken, um den Zwangsrekrutierungen zu entgehen. Fast alle unsere Informanten haben ­jemanden in ihrem engeren sozialen Umfeld, der kämpft, und vielleicht die Hälfte von ihnen haben jemanden, der gestorben ist.

Wie reagieren die Menschen in den Volksrepubliken auf die Nachrichten von ukrainischen Rückeroberungen?

Allgemein reagieren sie besorgt. Sehr prorussisch eingestellte Menschen ­sagen beispielsweise: »Ich verstehe die russische Strategie einfach nicht, sie haben die Menschen in der Region Charkiw den Nazis ausgeliefert.« Und eher proukrainisch eingestellte Menschen sagen beispielsweise, dass die ukrainischen Erfolge sie zwar freuen, sie aber auch nicht wollen, dass noch mehr Menschen um sie herum im Krieg sterben müssen.

Wie geht die Ukraine mit Kollabo­rateuren in den Gebieten um, die sie zurückerobert hat?

Wir versuchen derzeit, mehr darüber herauszufinden. Einer unserer Auftraggeber argumentiert beispielsweise, dass es für den zukünftigen Zusammenhalt der Ukraine entscheidend ist, wie fair die Menschen in den zurückeroberten Gebieten behandelt werden.

Was ist die Position der ukrainischen Regierung?

Die offizielle Position ist unklar. Das ukrainische Parlament berät derzeit zu Gesetzesentwürfen über die Bestrafung von Kollaborateuren, einige davon sind ziemlich furchtbar, andere sind vernünftiger. Grob scheint die bisher kommunizierte Linie derzeit zumindest zu sein, dass Ärzte, Arbeiter in Notdiensten und in der Infrastruktur nicht bestraft werden sollen, wenn sie für die Besatzungsmacht gearbeitet ­haben, aber Lehrer und Menschen in sozialen Berufen wahrscheinlich schon. Eine sehr pro­ukrainisch eingestellte Frau, die die ganze Besatzungszeit in Cherson erlebt hat, empörte sich über die Einstellung der Regierung zu Lehrern: »Es ist gut zu wissen, dass man in hohen Positionen in unserem Land Millionen stehlen kann, aber wer Kinder unterrichtet, die einen brauchen, wird wie ein Verbrecher behandelt!« Einige Lehrer scheinen tatsächlich aus Über­zeugung den von Russland auferlegten Lehrplan unterrichtet zu haben, der den Kindern das »richtige« Denken beibringen soll, und außerdem noch, wie sie aufhören können, schwul zu sein, aber andere Lehrer waren der Ansicht, es gehe bei ihrer ­Arbeit bloß darum, bei den Kindern zu bleiben.

Wie wirkt sich die Erwartung, dass die Ukraine Gebiete zurückerobern könnte, auf Entscheidungen zur Kollaboration aus?

Eine interessante Gegend, um sich das anzuschauen, sind die Teile der Oblast Luhansk, die seit Februar von Russland erobert worden sind. Nach der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive in der Region Charkiw gab es Berichte von dort, dass viele Menschen wieder mehr proukrainische Einstellungen äußerten, sei es aus Opportunismus oder weil sie sich wieder trauten. Aber es scheint ein Ort zu sein, wo die Menschen unsicher sind, welches Verhalten für sie sicher ist und welches nicht. Dieser Teil von Luhansk ist sehr arm und eine schlechte Ernte – und dieser Sommer war sehr heiß und trocken – kann für viele schon existenzbedrohend sein. Viele Menschen, die sich von den Besatzungsbehörden fernhalten und finanzielle Transaktionen mit ihnen vermeiden wollen, sind in einer Notlage.

Also kann selbst die Annahme von Hilfsleistungen als Kollaboration gelten?

Die Leute wissen nicht genau, was als Kollaboration gelten könnte. Wir hatten beispielsweise Gespräche mit älteren Menschen in Cherson, die das Gefühl hatten, sie hätten ihr Land verraten, und die befürchteten, angeklagt zu werden, weil sie Hilfe oder Zahlungen von den Russen angenommen hatten.

Was ist denn die offizielle Haltung der ukrainischen Regierung dazu?

Das ist es ja, wir wissen es nicht genau. Ukrainische Regierungsvertreter haben Berichte darüber, dass die Annahme von Hilfsgütern als Kollaboration eingestuft werde, welche oft von prorussischen Quellen oder in den sozialen Medien verbreitet wurden, dementiert. Aber sie haben ihre Position nicht eindeutig genug öffentlich gemacht und sie nicht effektiv an die Menschen in den besetzten Gebieten kommuniziert. Es ist unklar, ob das eine bewusste ­Ambivalenz ist oder nur Inkompetenz, aber dass die ukrainische Regierung da nicht eindeutiger ist, ist ein Fehler. Denn die Menschen, die unter der Besatzung gelebt haben, müssen wissen, dass sie noch einen Platz in der ukrainischen Gesellschaft haben.

Kürzlich berichtete Open Demo­cracy davon, dass einige ukrainische Bürger, die in Donezk oder Luhansk zum Kampf gegen die ­ukrainische Armee zwangsrekrutiert worden sind, von ukrainischen Gerichten wegen Landesverrat zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden – obwohl die ukrainische Regierung versprochen hatte, ihnen eine Amnestie zu gewähren.

Ja, das ist schrecklich. Wenn das die Richtung ist, in die sich die Dinge ­entwickeln, wäre das sehr besorgnis­erregend.

Katharine Quinn-Judge berät Nichtregierungsorganisationen und staatliche Organisationen bei ihrer Arbeit in vom Krieg betroffenen Gebieten der Ukraine. Davor war sie Senior Analyst der International Crisis Group und erforschte den Krieg im Donbass.