Margit Mayer, Politikwissenschaftlerin, über die Krise linker Strömungen in den USA

»Ohne Druck von der Straße geht es nicht«

Nach Bernie Sanders' überraschend gutem Abschneiden im Vorwahlkampf 2016 waren Linke in den USA im Aufwind. Die Democratic Socialists of America (DSA) haben ihre Mitgliedszahl vervielfacht, linke Kandidatinnen wie Alexandria Ocasio-Cortetz wurden ins Parlament gewählt, und 2020 kam es unter dem Banner "Black Lives Matter" zu enormen Straßenprotesten. Doch wenn man genau hinschaut, ist die Bilanz eher ernüchternd. Ein Gespräch mit Margit Mayer, Politikwissenschaftlerin und Autorin von "Die US-Linke und die Demokratische Partei".
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Als Joe Biden 2020 zum Präsidenten gewählt wurde, dachten viele, dass aus manchen seiner Positionen schon ein gewisser Erfolg der Linken in der Demokratischen ­Partei spreche. So äußerte er sich etwa äußerst positiv über Gewerkschaften. Hat man damals den Einfluss der Linken überschätzt?

Biden hat im Wahlkampf zum Teil an Forderungen linker Bewegungen angeknüpft. In seiner Amtszeit gab es dann jedoch ein wiederkehrendes Muster: Zu­nächst macht er wohlklingende Versprechungen, etwa auch bezüglich Einwanderungs- und Gefängnisreformen. Doch was dann später faktisch passiert, entspricht eher den politischen Präferenzen der Zentristen und Mo­deraten in der Demokratischen Partei.

»Ein zentrales Problem der US-Linken ist die Abhängigkeit vom philanthropischen Sektor und die Einbettung in einen amorphen progressiven NGO-Komplex.«

In den vergangenen Jahren zogen auch einige linke Abgeordnete ins Parlament ein – die sogenannte »Squad«. Vor allem Alexandria Ocasio-Cortez war sehr präsent in den Medien. Wie groß ist aber deren tatsächlicher Einfluss in der Demo­kratischen Partei und wie bedeutend war ihr damaliger Wahlerfolg?

Nachdem Bernie Sanders aus dem Vorwahlkampf ausgeschieden war, haben die meisten Linken und auch die Squad-Mitglieder Biden unterstützt. Die Partei hat Geschlossenheit demonstriert. Doch sobald die Wahlergebnisse vorlagen, sagte die zentristische Parteiführung der Linken den Kampf an. Politikerinnen wie die Sprecherin im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, haben die Linken für schlechte Wahl­ergebnisse verantwortlich gemacht. Sie warfen ihnen vor, mit Forderungen wie »Defund the Police« – also der Polizei Ressourcen zu entziehen – Wähler abgeschreckt und der Partei Schaden zugefügt zu haben. Überhaupt würden sie mit ihrem sozialistischen Gerede die Leute verprellen. Besonders Ocasio-Cortez wurde dann attackiert und diszipliniert, um ihren Einfluss in der ­Partei zu mindern.

Linke Sanders-Anhänger haben ja oft folgende These vorgetragen: Die einzige Chance, den Trumpismus zu besiegen, liege darin, sich auf ma­terielle Anliegen ärmerer Menschen zu konzentrieren, statt einem neo­liberalen Programm à la Hillary Clinton und Joe Biden zu folgen. Dadurch könnte man neue Wählerschichten erschließen, die bisher nicht von den Demokraten angesprochen wurden, und nur so könne man eine breite Basis schaffen, mit der man Trump besiegen kann. Aber wurde diese These nicht dadurch widerlegt, dass Sanders bei zwei Vorwahlkämpfen in Folge ­verloren hat und es mit dem relativ mode­raten Kurs von Biden ja möglich war, gegen Trump zu ge­winnen?

Das sehe ich anders. Sanders hat bei diesen Primaries durchaus gezeigt, dass er breite Wählerschichten erreichen kann, indem er sich auf die In­teressen ärmerer Menschen bezog – und zwar vor allem solche, die sonst von den Demokraten nicht erreicht werden oder sogar andernfalls als Protestwähler Trump wählen. Und Biden hat zwar (knapp) gegen Trump gewonnen. Doch was sich bei der letzten Prä­sidentschaftswahl und jetzt wieder bei den midterm-Wahlen bestätigt hat, ist lediglich, dass es keine Mehrheit für eine Faschisierung der USA gibt. Sehr viele Leute haben sich die Nase, Augen und Ohren zugehalten, um die Demokraten zu wählen, weil die von Trump unterstützten Kandidaten einfach so extrem rechts waren, dass die Menschen deren Wahlsieg verhindern wollten. Dass die Demokraten sich aber nicht einmal gegen einige ziemlich ex­treme Halbfaschisten bei den Republikanern klar durchsetzen konnten, zeigt, wie unpopulär sie eigentlich sind. Die Wahlergebnisse sind ja immer noch äußerst knapp gewesen.

Die Verarmung vieler Menschen hat nicht erst gestern angefangen, ist aber jetzt durch die Inflation – durch die derzeitige Krise des Kapitals muss man ­sagen – noch verschärft worden. Das neoliberale Modell hat seine Grenzen erreicht, seine Vertreter wissen selbst nicht, wie sie damit Hegemonie sichern könnten. In dieser Situation bieten sich die Maga-Republikaner (nach dem Slogan »Make America Great Again«; Anm. d. Red.) an und behaupten: Eure Eliten stecken mit den Bankern unter einer Decke, sie interessieren sich nicht für Eure Nöte, wir dagegen vertreten die Interessen des kleinen Mannes. Und da es stimmt, dass die Demokraten ­viele Menschen ärmer gemacht haben, kann so eine Rhetorik verfangen. Auch das steckt hinter dem Misserfolg beziehungsweise viel zu knappen Erfolg der De­mokraten.

Wie ist es denn um die US-Linke derzeit bestellt – zum Beispiel um die Democratic Socialists of America (DSA), die in den vergangenen Jahren stark gewachsen sind? Wie ist deren soziale Basis beschaffen und wie ist ihr Verhältnis zu den Arbeitskämpfen, die in den vergangenen zwei Jahren verstärkt statt­gefunden haben, etwa bei Amazon und derzeit Starbucks?

Im Vergleich zur europäischen Linken fällt erstens auf, dass die US-Linke insgesamt viel stärker elektoral orientiert ist. Auch bei DSA herrscht inzwischen mehrheitlich – nach langen Debatten – die Position vor: Die Organisationen und sozialen Infrastrukturen der Arbeiterklasse sind in den USA so defizitär und so lange kaputtgeschlagen worden, der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist so niedrig, dass Wahlen die einzige Möglichkeit für die Linke bieten, organisierend tätig zu werden. Wahlen stellen die einzige Bühne dar, auf der sie potentiell mobilisierungsfähige Bevölkerungsgruppen ansprechen können, die Arbeiterklasse und überhaupt die Enteigneten, Ausgebeuteten und Entrechteten der US-Gesellschaft.

Es stellt sich aber die Frage, ob es in einem Zweiparteiensystem eine gute Entscheidung ist, sich dermaßen auf Wahlkämpfe und das Erringen politischer Ämter zu fixieren – was ja notwendigerweise über die Demokraten laufen muss. Man kann immer wieder beobachten, dass die Bindung an die Demokratische Partei mit einer gewissen Deradikalisierung einhergeht. Je stärker die Bindung der US-Linken an die Demokra­tische Partei, um so mehr schwindet der Fokus auf gewerkschaftliche, betriebliche und Mieterkämpfe und auf soziale Bewegungen insgesamt. Diese enge Bindung an die Demokra­tische Partei ist eines der zentralen Probleme der US-Linken. Ein anderes ist die Abhängigkeit vom philanthropischen Sektor und die Einbettung in ­einen amorphen progressiven NGO-Komplex.

Was meinen Sie damit?

Diese Andersartigkeit der US-amerikanischen Linken gegenüber der europäischen wird oft übersehen. Ich stolperte schon in den siebziger Jahren darüber, als ich damit anfing, mich mit progressiven Bewegungen in USA zu beschäftigen. Es hat lange gebraucht, bis ich das verstanden habe, weil es in Deutschland einfach nichts Vergleichbares gab (inzwischen breiten sich allerdings ähnliche Trends aus), dass nämlich jede kleine Bürgerinitiative Anträge an alle möglichen Stiftungen und Konzerne schreibt und sich dadurch eine interne Betriebsstruktur aufbaut, die dann die Anstellung von »Organizern« und andern festangestellten Mitarbeitern erlaubt, inklusive »Fundraisern«. Dadurch verfügen diese Gruppen dann häufig über solide Strukturen, aber sie sind von externen Mitteln abhängig – und damit von den wechselnden Schwerpunkten und Programmen der Stiftungen. Eine eigenständige, langfristige Politik- und Strategieentwicklung wird dadurch erschwert. Einige der Organisationen, die aus der Bewegung Black Lives Matter (BLM) her­vorgegangen sind, sind heute noch viel stärker davon betroffen als etwa DSA; letztere sind zumindest noch eine Mitgliederorganisation, die sich zum Teil durch Mitgliedsbeiträge finanziert.

Wie funktioniert das bei Black Lives Matter?

Am problematischsten war es bei der bundesweiten Organisation Black Lives Matter, die schon Jahre vor den großen Demonstrationen nach der ­Ermordung von George Floyd im Sommer 2020 gegründet worden war. Allein 2020 hat die Organisation 90 Millionen Dollar an Spenden eingenommen. Was mit dem Geld passiert, wird nicht durch Mitglieder entschieden, sondern von der Führung. Es mehrten sich Vorwürfe der Intransparenz, Geldverschwendung und Vetternwirtschaft, und dass zu wenig bei den lokalen Gruppen vor Ort für ihre politische Arbeit ankommt.

Und wie beeinflusst das die politische Praxis?

BLM war von drei schwarzen Frauen in Anlehnung an die Black-Power-Bewegung gegründet worden, aber mit der Intention, dass die Führung diesmal nicht bei schwarzen Männern, sondern bei feministisch und queer orientierten Schwarzen liegen sollte. Was sie mit der früheren Black-Power-Bewegung der siebziger Jahre verbindet, ist das Verständnis, dass das Schwarzsein der entscheidende Grund für ihre Unterdrückung ist – davon leitet sich der Begriff black unity ab: Gemeint ist, dass die rassistische Unterdrückung alle Schwarzen vereint, ob arm oder reich, Chef oder Arbeiter.

Aus dieser Perspektive resultiert das politische Ziel, dass schwarze Menschen – so wie auch andere unterdrückte Gruppen – entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung auf allen Ebenen vertreten sein sollen. Wenn es zwölf Prozent Schwarze in den USA gibt, sollen zwölf Prozent der Konzernchefs schwarz sein – und zwölf Prozent der Obdachlosen. Es geht also nicht darum, die hierarchische Gesellschaftsstruktur an sich abzuschaffen oder auch nur abzubauen, sondern sie »gerechter« zu gestalten. Für die Konzerne und Stiftungen, die in den vergangenen Jahren Hunderte Millionen Dollar in die verschiedenen BLM-Strukturen gesteckt haben, ist dieser politische Standpunkt kein Problem.

Wie ist das Verhältnis von DSA zu BLM?

Die DSA sahen in BLM 2020 eine Mobilisierungsgelegenheit für sich als so­zialistische Organisation, eine Chance, endlich mehr junge nichtweiße Menschen anzusprechen. Bislang rekrutiert sich DSA eher aus urbanen, mehrheitlich weißen Aktivisten mit College-Abschluss – wenn auch viele junge Akademiker sehr prekär leben. Diese demographische Struktur machte es nicht gerade einfach, schwarze Communitys zu erreichen. Aber DSA hat auch sehr kreative Versuche unternommen, etwa eine Kampagne, bei der sie Studenten ermutigt und dabei unterstützt haben, bei Betrieben, die gerade viel Organizing-Aktivitäten oder Streiks erfahren, etwa bei Starbucks oder ähnlichen Betrieben, anzuheuern. Dabei wurden sie dezidiert von älteren, erfahreneren Linken begleitet, die Expertise und Erfahrungen in rank and file-Strategien besitzen (rank and file bedeutet auf Deutsch in etwa: basisgewerkschaftliches Organizing). Eine sehr gute Art, Erfahrungswissen an junge Generationen weiterzugeben und in die heu­tigen Kämpfe einfließen zu lassen.

Auch bei den midterms hat man mitbekommen, dass viele junge Menschen politisch sehr mobilisiert sind. Auch einige von DSA unterstützte Kandidaten waren erfolgreich. Aber ohne Basisaktivität, ohne Druck von der Straße, werden es diese elektoralen Bemühungen nicht reißen.

Margit Mayer ist Professorin für Politikwissenschaft. Sie lehrte bis 2014 nordamerikanische und vergleichende Politik an der Freien Universität Berlin, seither ist sie Senior Fellow am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. Im Oktober erschien ihr Buch »Die US-Linke und die Demokratische Partei – Über die Herausfor­derungen progressiver Politik in der Biden-Ära« im Verlag Bertz + Fischer.