Offene Fragen nach den Urteilen im Prozess zum Anschlag von Nizza

Urteile im Attentatsprozess

Den Haupttäter des Terroranschlags von Nizza mit 86 Toten hatte die Polizei erschossen. Nun wurden drei Angeklagte in erster Instanz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

»Es wird notwendig Frustrationen geben«, hatte die auf Terrorismusstraf­traten spezialisierte französische Staatsanwaltschaft PNAT am 6. Dezember zur Einleitung ihrer Strafforderungen ausgeführt. Am Dienstag voriger Woche nun fiel das Urteil im jüngsten Terrorismusverfahren; es ging um den Massenmord am 14. Juli 2016, bei dem der zum unmittelbaren Tatzeitpunkt allein agierende Mohamed Lahouaiej Bouhlel insgesamt 86 Menschen mit einem als Mordwerkzeug eingesetzten LKW zu Tode fuhr und rund 400 weitere verletzte.

Den Haupttäter konnte man nicht mehr verurteilen, er war am Steuer von der Polizei erschossen worden. Vor Gericht standen drei Hauptangeklagte, bei denen vermutet wurde, sie hätten um die Mordabsichten gewusst (Jungle World 38/2022): Ramzi Arefa, ein in Nizza geborener Kleinkrimineller, der tunesische Bauarbeiter Chokri Chafroud und der tunesische Hotelangestellte Mohammed Walid Ghraieb. Zum Abschluss des drei Monate dauernden Prozesses hielt die Staatsanwaltschaft fest, Arefa habe dem Täter lediglich aus kriminellen finanziellen Motiven eine Pistole geliefert, jedoch nichts von seinen Plänen gewusst, die beiden anderen hätten seine Absichten gekannt.

2016 schrieb Chafroud über einen Strand in der tunesischen Stadt Sousse: »Boujaafar ist voll von Leuten, da hast du Lust auf einen Sattelschlepper voll mit Zement, der ihnen in den Arsch fährt.«

Chafroud und Ghraieb wurden wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zu je 18 Jahren Haft verurteilt, Arefa zu zwölf Jahren wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, ohne die Qualifikation terroristisch. Insgesamt fünf weitere Angeklagte, überwiegend albanischer Nationalität, erhielten zwischen zwei und acht Jahren wegen Waffenhandels und Beihilfehandlungen ohne ideologischen Hintergrund.

Gewiss ist, dass der Täter mit Absicht und bewusst einige Mitglieder seiner Umgebung belastete. Genau sechs Minuten vor Beginn seiner Mordfahrt sandte er beispielsweise eine SMS folgenden Wortlauts an den nun verurteilten Arefa: »Hallo Ramzi, vorher ging ich bei dem Cybercafé in der Rue Marceau Nummer 16 vorbei und traf dich nicht an. Ich wollte dir sagen, dass die Pistole, die du mir gestern gegeben hast, sehr gut ist. Bringe also fünf davon bei deinem Freund in der Rue Miollis Nummer 7 im fünften Stock vorbei. Die sind für Chokri und seine Freunde.«

Es ist ausgeschlossen, dass Lahouaiej Bouhlel seinen Tatentschluss erst in den fraglichen sechs Minuten gefasst hat. Der LKW war zu dem Zeitpunkt schon seit Tagen angemietet, der spätere Täter hatte Probefahrten unternommen und keinen anderen Verwendungszweck für das Fahrzeug. Es bleibt also die Frage, warum er so viele detaillierte Informationen streute, über deren spätere Verwendung durch die Ermittler er keinen Zweifel haben konnte. Alles deutet darauf hin, dass Lahouaiej Bouhlel absichtlich seine Gesinnungskumpane und sonstigen Weggefährten belastete.

Chafroud, Ghraieb und Arefa sandte er im Übrigen kurz nach Anmietung des später eingesetzten Tatfahrzeugs eine Textnachricht mit den drei Buchstaben »ADA« zu, das Kürzel der Autovermietung. Die Staatsanwaltschaft betrachtet es als erwiesen, dass Chafroud und Ghraieb gewusst haben könnten, warum er diese Nachricht schrieb, bei Arefa geht sie hingegen nicht davon aus. Dies zählt zu den ungelösten Widersprüchen in dem Prozess, die jedoch unvermeidbar scheinen.

Chafroud und Ghraieb teilten vielleicht nicht den letztlich ausgeführten Tatplan des Massenmörders, jedoch nach Auffassung von Staatsanwaltschaft und Gericht seine grundsätzlichen Absichten und auch seine Tötungsphantasien. Dies gilt insbesondere für Chafroud; von ihm liegt ein über Monate hinweg dokumentierter, aus dem tunesischen Arabisch übersetzter, detaillierter Austausch von Nachrichten auf Facebook mit dem späteren Täter vor.

Chafroud, der als illegaler Einwanderer in Nizza lebte und dort auf dem Bau arbeitete, beschwerte sich wiederholt bei seinem Kumpan über die Arbeitsmarktsituation in Tunesien. Am 11. März 2016, also gut vier Monate vor der Mordfahrt an der Strandpromenade von Nizza, schrieb er an Lahouaiej Bouhlel eine Nachricht, in der er eine Baustelle in Tunesien erwähnt und, scheinbar grund- und zusammenhanglos, einen »großen LKW«. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine Anspielung auf eine Unterhaltung, die beide zuvor mündlich hatten und die an der Stelle schriftlich nicht näher ausgeführt wurde. Doch kommt die Rede in den darauffolgenden Wochen erneut auf Lastwagen und sogar auf einen Panzer. Zehn Tage später beispielsweise erwähnte Chafroud zunächst einen Strand in der tunesischen Stadt Sousse: »Boujaafar ist voll von Leuten, da hast du Lust auf einen Sattelschlepper voll mit Zement, der ihnen in den Arsch fährt.« Kurz darauf geht es dann um einen Markt in Nizza mit Leuten, die Chafroud als unehrliche Araber bezeichnet und zu denen er sinngemäß schreibt: »Dieser verfickte (Anm. d. Red.: Straßenmarkt) El-Oued, da würde ich mit einem Panzer hineinfahren und ihn ficken!«

Die Anklagebehörde zeigte sich überzeugt davon, dass solche Themen zwischen Lahouaiej Bouhlel und seinen beiden engsten Vertrauten erörtert wurden, auch wenn ihnen vielleicht nicht klar war, dass das Attentat genau am 14. Juli 2016 auf der Strandpromenade stattfinden sollte.

Chafroud und Ghraieb teilten über ihre Anwälte mit, sie wollten Berufung gegen das Urteil einlegen. Damit dürfte es zu einem weiteren Berufungsprozess wegen der seit 2015 in Frankreich verzeichneten jihadistischen Terroraktionen kommen. Der Berufungsprozess wegen der Morde in der Redaktion von Charlie Hebdo und im koscheren Supermarkt Hyper Cacher war am 20. Oktober zu Ende gegangen. Der Hauptangeklagte Ali Riza Polat, erstinstanzlich zu 30 Jahren Haft verurteilt, erhielt in zweiter Instanz lebenslänglich. Hingegen wurde das Strafmaß für Amar Ramdani von zuvor 20 auf nunmehr 13 Jahre ­reduziert. Die übrigen Angeklagten hatten keine Berufung eingelegt. Im größten Verfahren, in dem es um die Massenmorde vom 13. November 2015 unter anderem im Konzertsaal Bataclan ging, verzichteten letztlich alle Verurteilten auf einen Berufungsprozess.