Die Klimabewegung hat keinen Begriff von Gesellschaft

1,5 Prozent Systemwandel

Die Klimabewegung hat keinen Begriff von Gesellschaft. Die Einsicht, dass tatsächlich ein Bruch mit dem System her muss, um den Klima­wandel aufzuhalten, könnte ihr zu spät kommen.
Disko Von

Schlagzeilen zu produzieren, ist den Klimaaktivist:innen der Letzten Generation in den vergangenen Wochen mehrfach gelungen. »Autofahrer rasten aus«, hieß es, von »Eskalation«, »Sicherheitsgefährdung«, »Fanatismus« und vom »Terror« der »Klima-RAF« war die Rede. Grund der Aufregung war neben Straßenblockaden auch eine Aktion am Münchner Flughafen, wo Aktivist:innen sich auf die Start- und Landebahn geleimt und so den Betrieb für eine Dreiviertelstunde unterbrochen hatten. Die geifernden Straßenpanzerfahrer und die ihnen angeschlossenen Redaktionen der bürger­lichen Presse bekommen es offenbar bereits bei solch geringfügiger Irrita­tion des Normalbetriebs mit der Angst zu tun.

Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hingegen findet nichts Extremistisches an den Störaktionen: »Extremistisch ist immer dann, wenn der Staat, die Gesellschaft in Frage gestellt wird. Und genau das tun die Leute ja eigentlich nicht. Die sagen: Hey, Regierung, ihr müsstet jetzt endlich mal was tun.« Dies belege, dass die Aktivist:innen fest auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stünden und das bestehende System respektierten.

»Überzogener Konsum, Egoismus, Oberflächlichkeit und Gier« müssten nur irgendwie durch »Gemeinschaft, Solidarität und Liebe« ersetzt werden, meint Greta Thunberg.

Auch andere Teile der Klimabewegung wie die radikalere Organisation Extinction Rebellion hoffen auf die Einsichtsfähigkeit ihrer gewählten Ver­treter:innen in der Politik. Zum Jahreswechsel verkündete der britische Zweig der Organisation, er wolle künftig von Straßenblockaden absehen, da diese wenig verändert hätten. Hingegen plant er eine Massenversammlung von 100 000 Menschen, die sich am 21. April vor dem Westminster-Palast, dem Sitz des britischen Parlaments, einfinden sollen. Da friedlicher Protest eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz besitze, baue man in Zukunft auf Demonstrationen und »Beziehungsarbeit«.

Die zahlenmäßig größere und noch harmloser agierende Gruppierung Fridays for Future skandiert zwar ebenfalls »System change not climate change«. Doch worin das derzeitige »System« bestehe und wie es verändert oder wodurch es ersetzt werden solle, von wem und mit welchen Mitteln, darüber weiß man auch dort nicht viel. »Überzogener Konsum, Egoismus, Oberflächlichkeit und Gier« müssten nur irgendwie durch »Gemeinschaft, Solidarität und Liebe« ersetzt werden, schreibt die prominente Frontfrau der Klimabewegung, Greta Thunberg, im von ihr gemeinsam mit Expert:innen geschriebenen »Klima-Buch«, das kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Gewaltfrage stellen sich die Klima­schützer:innen jedenfalls nicht: Sie lehnen jegliche Gewalt kategorisch ab, verzichten jedoch darauf zu definieren, was sie überhaupt darunter verstehen.

Die Definitionslosigkeit der Klima­streikenden ist auffällig. Auch was Demokratie sei (und was nicht), was sie unter »nachhaltig« verstehe (und was nicht), definiert Thunberg in ihrem »Klima-Buch« nicht. Die »Klimakrise« sei Teil einer größeren »Nachhaltigkeitskrise«. Von einer Krise der kapitalistischen Gesellschaft scheint sie seit der Veröffentlichung ihrer Reden zum Klimaschutz (»Ich will, dass ihr in Panik geratet!«, 2019) noch immer nichts gehört zu haben.

Hingegen hat sie im November 2022 gemeinsam mit der Jugendinitiative Aurora eine Klage gegen den schwedischen Staat eingereicht. Schweden verfolge eine Klimapolitik, die nach Ansicht der Forschung eindeutig zu einer künf­tigen Klimakatastrophe beitrage, werfen sie der Regierung vor. Die kindliche Enttäuschung verdeutlicht sich an wiederkehrenden Formulierungen wie »unsere Regierenden haben völlig versagt«. Freilich haben »unsere Regierenden« nur getan, was sie sich nicht aussuchen können: dafür gesorgt, dass die stetige Verwertung des Werts möglichst unbehindert vonstattengehen kann. Die Sehnsucht nach dem starken, guten Vater Staat, der Mutter Erde retten solle, offenbart sich hier einmal mehr.

Viel ist im »Klima-Buch« die Rede vom rasch kleiner werdenden »Kohlenstoff-Budget«. Der betriebswirtschaft­liche Begriff verweist darauf, dass auch die Wissenschaftler:innen und Journa­list:innen, die ihn in ihren Beiträgen in Thunbergs Buch wie selbstverständlich verwenden, sich mehr als Bilanz­buch­halter:innen des Klimas verstehen denn als Kritiker:innen der bestehenden Verhältnisse. Von der notwendigen Entmachtung der Konzerne (womöglich mit Gewalt?), von einer Vergesellschaftung und Neuausrichtung der Produk­tion nach tatsächlichen menschlichen Bedürfnissen liest man dort nichts. Sie erkennen nicht, dass der Nationalstaat niemals ihr Verbündeter sein wird, weil er gar nicht anders kann als im Kampf um Ressourcen und Marktanteile die In­teressen seiner nationalen Wirtschaft zu vertreten, wenn er nicht selbst untergehen will.

Immerhin aber ist dort nicht ständig die Rede davon, dass »die Einzelnen« ihren Beitrag leisten müssten, was in antihumaner grüner Ideologie in aller Regel bedeutet, dass die armen und verarmenden Bevölkerungsschichten überhaupt nicht mehr konsumieren sollen, damit die anderen so weitermachen können wie bisher. Im Gegenteil macht Thunberg deutlich, dass individuelle Konsumentscheidungen beziehungsweise der Verzicht auf bestimmte, besonders umweltschädliche Konsumgüter wie Flugreisen oder Fleischessen zwar eine legitime und sinnvolle Praxis persönlichen Widerstands mit einer gewissen Wirkung im persönlichen so­zialen Umfeld sein können. Solche Entscheidungen seien jedoch nicht dazu geeignet, die größeren globalen Zusammenhänge beispielsweise von post­kolonialen Ausbeutungsstrukturen zu verändern.

Es ist Thunberg außerdem anzurechnen, ­darauf aufmerksam zu machen, dass die vom Militär und der Rüstungsindustrie verursachten Emissionen und Umweltschäden so gut wie nie in öffentlichen ­Debatten über Reduktionsziele und Energiesparmaßnahmen zur Sprache kommen. Die ­britische Wissenschaftlergruppe Scientists for Global Responsibility schätzt – da es diesbezüglich keine öffentlich zugänglichen Statistiken gibt –, dass sechs Prozent der klimawirksamen Emissionen in diesen Bereichen produziert werden.

Dennoch leidet das Buch an seinem Mangel an Theorie. Thunberg selbst verheddert sich in Widersprüchen und sprachlichen Ungenauigkeiten – mal scheint mit ihrem vielbeschworenen »wir« die gesamte Menschheit gemeint zu sein, dann wieder nur die Länder des »Globalen Nordens«, mal die Klima­bewegung, dann jedoch will sie das Kollektivpronomen verstanden wissen als Ausdruck für die »Reichen und Mächtigen«, die die Welt mit ihrer »Gier« und »Selbstsucht« zerstörten. »Selbstverständlich haben wir noch Zeit, die schlimmsten Auswirkungen dieser Krise abzuwenden«, schreibt sie, doch das scheint nicht so recht dazu zu passen, dass »wir uns« derzeit »sogar noch abhängiger von Öl, Kohle und Erdgas autoritärer Regime« machen.

Dieses »wir« meint auch die demokratisch gewählten Politiker:innen, die gerade neue, auf Jahrzehnte angelegte Verträge mit Katar, Saudi-Arabien und anderen sauberen Energieexportländern abschließen; also eben jene demokratischen Repräsentant:innen, deren Doppelzüngigkeit die Klima­aktivist:in­nen zwar lange schon erkannt haben, die sie jedoch immer noch auffordern, ihre klimaschädlichen »Entscheidungen« zu überdenken. Da Gewaltfreiheit oberstes Gebot sei, fokussieren Thunberg und ihre Mitstreiter:innen bei der Wahl ihrer Mittel auf »Streiks, Boykotte, Protestmärsche« gegen die Gierigen und Selbstgerechten. Die »besten Ideen, Taktiken und Methoden« warteten noch darauf, »ersonnen zu werden«, ist Thunberg sich sicher. Eine fertige Lösung für die »Nachhaltigkeitskrise« hat sie also nicht im Angebot, was durchaus sympathisch ist. Zukunft muss gemacht werden, daran führt kein Weg vorbei.

Am Ende des »Klima-Buchs« steht Thunbergs Aufruf »Sagt, was Sache ist«, worin ein leiser Anklang an Rosa Luxemburgs Wort »Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat« mitschwingt. Jedoch sagen die Klimaaktivist:innen eben nicht, was ist, weil sie sich dessen, was ist, selbst nicht bewusst sind. Eine fundamentale Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ökonomie fehlt ihnen. Auch dass eine irrationale, destruktive, unreflektierte »Herrschaft über die Natur« und eine ebensolche »Herrschaft des Menschen über den Menschen« sich wechselseitig bedingen, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« gezeigt haben, scheint ihnen bisher nicht gewahr geworden zu sein.

Bis – oder falls – die Aktivist:innen zu dieser Erkenntnis gelangen, mag es zu spät sein, um das Ziel, das sie so vehement zu verteidigen suchen, noch zu erreichen: die Erderwärmung auf 1,5 Prozent Grad über dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung zu begrenzen. Aber vielleicht gelangen sie schließlich zur Einsicht, dass radikales Handeln radikales Denken zur Voraussetzung hat. Von beidem ist die Klimabewegung noch weit entfernt.

Die Aufregung über die »­Klima-Kleber« hält an. Alexander Dobrindt (CSU) warnte im November 2022 vor der »Klima-RAF«, einige Aktivisten wurden in Bayern für mehrere Tage in Präventivhaft genommen. Dem Aktionismus fehlt eine Kapitalismuskritik, ist das Anliegen deshalb zu verwerfen? Es wäre die originäre Aufgabe einer Linken, eine kapitalismuskritische Antwort auf den Klimawandel zu formulieren, meint Peter Bierl in der »Jungle World« 50/2022.