Linke sollten nicht zu hart über die »Klima-Kleber« urteilen

Vor der eigenen Haustür kleben

Man mag die Klima-Kleber für ihre fehlende Kapitalismuskritik ­kritisieren, aber Linke haben bisher auch keine brauchbaren Antworten auf die Klimakrise geliefert. Es steht ihnen nicht gut zu Gesicht, zu hart mit den Jungen ins Gericht zu gehen.
Disko Von

Die Umweltzerstörung ist unübersehbar: Klimawandel, Erosion, Verschmutzung von Meeren, Luft und Trinkwasser, das Artensterben. Im Zuge dessen drohen der Zusammenbruch von Ökosystemen und die Unbewohnbarkeit weiter Teile der Landoberfläche des Planeten, sei es durch Hitze, Feuersbrünste und Überschwemmungen oder weil sie im Meer versinken. Die Landwirtschaft verliert Flächen, Nahrung wird für viele unerschwinglich, das Trinkwasser knapp. Das läuft auf »die Auslöschung eines Teils der armen Weltbevölkerung« hinaus, wie der Geograph Christian Zeller schreibt. Es droht eine Hölle aus Gewalt, Terror, Versklavung, Vergewaltigung, Krieg und Bürgerkrieg, von autoritären bis faschistischen Entwicklungen und in failed states die Herrschaft von Milizen und Gangs. Die Staaten des Globalen Nordens werden sich noch stärker gegen Flüchtende abschotten und mit Repression auf Massenverarmung und Opposition reagieren.

Längst beschäftigen sich die Inlandsgeheimdienste intensiv mit der Klima­bewegung, etwa mit dem Netzwerk Ende Gelände, das gegen Kohleabbau und Flüssiggasterminals protestiert. Schon der Slogan »System change not climate change« ist den Herrschenden zu Recht verdächtig. Die Innenministerkonferenz debattierte über das Umweltschutzbündnis Letzte Generation, CDU-Minister wollen prüfen, ob es sich um eine kriminelle Vereinigung handelt, der vormalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) spricht von einer »Klima-RAF«. In Bayern werden Klimaaktivist:innen ohne Verurteilung wochenlang in Präventivhaft genommen.

Solche Reaktionen sind Hinweise darauf, dass sich der Staatsapparat auf Unzufriedenheit und Unruhe einstellt. Eine Entwicklung nach links bedeutet das steigende Misstrauen in der Gesellschaft gegen Politiker:innen und Medien aber keineswegs. Stattdessen hat sich eine rechtsextreme Partei etabliert, es krakeelen der rechte Mob, breit verankert in der Gesellschaft, und eine öko-esoterische, dumpflinke Szene des Coronaprotests und der Putin-Pudel.

Eine politische Radikalisierung von Teilen der Umwelt- und Klimabewegung liegt zwar nahe, weil Staat und Kapital die Zerstörung nicht beenden. Mit Blick auf die strikt gewaltfreien Aktionen ist das Geschrei über Ökoterrorismus jedoch grotesk. Es lässt aber erahnen, welches Ausmaß an Desinformation, Überwachung und Repression droht, sollte es zu einer linken Massenbewegung kommen – wonach es aber derzeit nicht aussieht. Fridays for Future erlebt einen bewegungstypischen Niedergang mangels Erfolgs, Extinction Rebellion ist in Deutschland ebenfalls auf dem absteigenden Ast. Aufmerksamkeit erzielen Zerfallsprodukte dieser Bewegungen wie die Letzte Generation und Scientist Rebellion dank der Blockade von Straßen, Häfen und Flugplätzen, dem Versuch, eine Ölpipeline abzuschalten, Happenings in Kulturtempeln oder wenn sie Politikerauftritte und Sportevents stören.

Wenigstens nehmen diese Klima­akti­vist:innen, auch wenn sie dabei apokalyptisch überdrehen, die immer drastischeren Warnungen von Zehntausenden von Wissenschaftler:innen ernst – anders als Linke wie Bernd Riexinger oder Andreas Malm, die unter dem Label Green New Deal eine grüne Modernisierung des Kapitalismus unterstützen, eine Ankurbelung der nationalen Wirtschaft. Gruppen wie Letzte Generation haben aber keinen richtigen Begriff von Kapitalismus, weshalb sie die herrschenden Verhältnisse nicht verstehen und gedanklich auch nicht überschreiten. Es ist nur ein bescheidener Fortschritt, wenn sie nicht mehr bloß weggeworfene Lebensmittel retten wollen, sondern ein Tempolimit und das Neun-Euro-Ticket oder gleich den Nulltarif für den ÖPNV fordern. Zwar prangert die Gruppe ein »Regime der Ausbeutung« an und dessen Folgen für den Globalen Süden, aber Kapitalismuskritik ist das noch nicht. So rügt eine Sprecherin »das egoistische Verhalten einiger weniger Reichen und Schönen«, ein inhaftierter Aktivist beklagt das »Ende unserer freien Gesellschaft«. Der Regierung wurde im Sommer vorgehalten, in den Urlaub zu fahren, statt zu handeln. Umstürzler sind das nicht, wie sogar Thomas Haldenwang (CDU), der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, eingewandt hat. Die Letzte Generation zeige durch ihre Appelle vielmehr, »wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man eben die Funktionsträger zum Handeln auffordert«.

Bei aller berechtigten Kritik sollten diese couragierten Klimaaktivist:innen nicht zu hart beurteilt werden. Die Linke darf sich vor allem an die eigene Nase fassen, denn sie kommt seit Jahrzehnten nicht aus dem Quark. Es wäre ihre Aufgabe, Sozialismus neu zu definieren, nach Maßgabe ökologischer Gegebenheiten. Das Schwierige daran ist es, ­einen Ausgleich zu finden zwischen zwei Anforderungen: Einerseits braucht es ein Wachstum an Gütern und Dienstleistungen, um Milliarden von Menschen aus der Armut zu befreien, andererseits muss aus ökologischen Gründen der globale Gesamtverbrauch von Rohstoffen und Energie schrumpfen. Das ist nur jenseits von Kapitalverwertung, Konkurrenz und Lohnarbeit, in einer Ökonomie, die sich an materiellen Grundbedürfnissen orientiert, überhaupt denkbar. Dafür ist ein radikaler Bruch notwendig, den nur eine breite Mehrheit erkämpfen könnte, die aus Lohnabhängigen bestehen müsste, mit Kleinbäu­er:innen, Handwerker:innen und Selbständigen, die keine Lohnarbeit ausbeuten, im Schlepptau. Ein Problem ist, dass Segmente der Arbeit­er:innen­klasse durchaus vom Kapitalismus profitieren und dass die Ungleichzeitigkeit von ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen sowie rassistische und sexistische Spaltungen eine zumindest annähernd transnationale Bewegung behindern. Die Erfolgsaussichten sind also gering.

Ein Neuanfang der Linken muss von der Einsicht ausgehen, derzeit völlig marginal zu sein, und der Erkenntnis, dass die ökologische Zerstörung als Resultat von Kapitalverwertung die soziale Frage der Gegenwart darstellt. Immerhin sind in jüngster Zeit einige antikapitalistische Gruppen entstanden, die sich darauf konzentrieren, wie die Left Ecological Association (LEA). Diese geht davon aus, dass eine stimmige Theorie, die auf der Marx’schen Analyse basiert und wertvolle Beiträge von anderen aufnimmt, die Praxis fundieren müsse. Es gilt, Staat und Nation als Herrschaftsformen und Emanzipation als universalistisches Projekt zu verstehen. Befreiung muss gemeinsam erkämpft werden, ihr Ziel ist aber indi­viduelle Entfaltung, jenseits von kollektiven Identitäten und Kulturen. Patriarchat und Rassismus sollten analytisch in ihrer Funktion für die Kapitalverwertung begriffen werden, zugleich muss in der Praxis jede Form von Diskriminierung und Ausbeutung bekämpft und nicht als Nebenwiderspruch abgeschmettert werden, wie es die alte Neue Linke tat.

Notwendig ist eine verbindliche Organisierung, als Think Tank, der koordiniert und leitet und, wie Murray Bookchin, der US-amerikanische Theoretiker des Kommunalismus, betonte, der Bourgeoisie irgendwann die Machtfrage stellen kann. Eine Massenbasis dafür entsteht nur durch Arbeit in Betrieben und Wohnvierteln, die Alltagsprobleme und Konflikte aufgreift und konkrete Ziele setzt, um das Leben besser zu machen, dazu Kampagnen etwa zur Vergesellschaftung des Gesundheitssektors, von Wohnraum oder Mobilität, schließlich von Schlüsselindustrien und Landwirtschaft. Das kann zu Lernprozessen und Selbstorganisierung führen und die Kapitallogik sprengen.

Die Linke muss sagen, wie eine bessere Welt aussehen soll, ohne ein Utopia auszumalen. Dem Schwärmen für das Lokale und Regionale, dem small is beautiful und der agrarisch-handwerklichen Idylle ist eine schroffe Absage zu erteilen. Eine befreite Gesellschaft nutzt die Vorzüge fortgeschrittener Technik sowie kontinentaler und globaler Arbeitsteilung, wo immer das sozial und ökologisch sinnvoll ist. Das Ziel ist ein materiell sorgenfreies Leben, mit sehr viel weniger notwendiger Arbeit, die angenehm gestaltet, stressfrei, befriedigend und nicht entfremdet ist und dem Zweck dient, ein Leben in Muße zu ermöglichen.

Die Deutschen regen sich über ihre »Klima-Kleber« auf. Wie sind ihre Aktionen zu bewerten? Äußern sie trotz der Endzeitprophezeihungen notwendige Kritik? Auftakt einer Disko-Reihe zum Klimaaktivismus.