Italien ­erschwert Seenotrettung von Flüchtlingen im ­Mittelmeer

Strategiewechsel gegen Menschenrettung

Ein Regierungsdekret in Italien erschwert zivile Seenotrettungen. Behörden können nun entscheiden, dass Schiffe mit geretteten Migrant:innen an Bord weit entfernte Häfen ansteuern müssen. Hilfsorganisationen kritisieren die neuen Auflagen der Regierung.
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Wenige Tage vor Weihnachten legten zum ersten Mal zwei private Schiffe, die im Mittelmeer Such- und Rettungsaktionen durchführen, in Livorno in der norditalienischen Toskana an. Das italienische Innenministerium, das seit Oktober von Matteo Piantedosi (parteilos) geführt wird, hatte noch nie ­einen so weit nördlich auf der italienischen Halbinsel gelegenen Hafen als »sicheren Ort« angegeben, in dem Schiffbrüchige angelandet werden können, ihr Leben nicht mehr in Gefahr ist und ihre Grundbedürfnisse gedeckt werden können. Die Schiffe »Life Support« der bereits 1994 in Mailand gegründeten Nichtregierungsorganisation (NGO) Emergency und »Sea-Eye 4« der deutschen Hilfsorganisation Sea-Eye mit Sitz in Regensburg hatten insgesamt 250 Schiffbrüchige an Bord, die viel weiter südlich, in libyschen und maltesischen Gebieten, gerettet worden waren. Die beiden Schiffe mussten drei oder vier Tage lang Hunderte Seemeilen zusätzlich zurücklegen, um den Hafen von Livorno von den Orten der Seenotrettung aus zu erreichen. In der Regel sollen Überlebende von Schiffswracks in der Nähe des Orts ausgeschifft werden, an dem sie gerettet wurden, und keine weiten Reisen auf dem Meer mehr auf sich nehmen müssen. Die NGOs prangern an, dass dies im ­Gegensatz zur bisher häufig angewendeten Verzögerungstaktik bei der ­Zuweisung von Häfen eine neue Strategie der neuen rechten italienischen Regierung sei, um ihre Such- und Rettungsaktionen zu beschränken und die Organisationen in Schwierigkeiten zu bringen.

Jede Rettung muss unverzüglich der zuständigen Koordinierungsstelle und dem Flaggenstaat des Schiffs gemeldet werden. Zudem ist der zugewiesene Hafen so schnell wie möglich anzusteuern.

Für die Koordinierung der Aufnahme von Geretteten ist derjenige Staat verantwortlich, in dessen »Search and Res­cue«-(SAR)-Zone die Schiffbrüchigen aufgegriffen wurden. Das italienische Kabinett der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia), die in ihrem Wahlkampf versprochen hatte, die Zahl der ankommenden Migrant:innen stark zu reduzieren, hatte am 28. Dezember per Dekret einen sogenannten Verhaltenskodex verabschiedet, der strenge Beschränkungen für die zivile Seenotrettung vorsieht; das Dekret hat Gesetzeskraft. Für Verstöße hat die Regierung einen umfangreichen Bußgeldkatalog beschlossen. Es ist nicht geplant, neue Straftatbestände einzuführen, aber Kapitäne, die sich nicht an den Verhaltenskodex halten, könnten mit Geldbußen zwischen 10 000 und 50 000 Euro belegt werden. Bei den beschlossenen Geldbußen handelt es sich um sogenannte Administrativstrafen, die von den Regionalverwaltungen verhängt werden können, ohne dass es zu einem Gerichtsverfahren käme; die Bußen müssen sofort bezahlt werden, man ist gezwungen, die Zahlungen gegebenenfalls langwierig wieder zurückzuklagen. Vorgesehen ist unter anderem, dass Rettungsschiffe für mehrere Wochen beschlagnahmt und ihre Aktivitäten blockiert werden, wie im Jahr 2017, als Marco Minniti (Partito Democratico, PD) an der Spitze des Innenministeriums stand.

Die Regeln können noch geändert werden, nicht zuletzt, weil einige Mitglieder der Regierung nicht riskieren wollen, dass das Dekret von Gerichten wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben wird. Vorerst wird es ein – wenn auch nicht explizites – Verbot von Mehrfachrettungen geben. Jede Rettung muss unverzüglich der zuständigen Koordinierungsstelle und dem Flaggenstaat des Schiffs gemeldet, der dann zugewiesene Hafen muss so schnell wie möglich angesteuert werden. Jede Ausführungsverzögerung und jede Nichtbeachtung der Anweisungen der Behörde stellt einen Verstoß gegen den Verhaltenskodex dar, der Sanktionen nach sich zieht. De facto gibt es eine Obergrenze für die Bergung Schiffbrüchiger, da die Schiffe nur noch einmal pro Einsatz Menschen aufnehmen und keinem weiteren Notruf folgen dürfen. Die geretteten Menschen dürfen nicht auf See auf andere, größere Schiffe gebracht werden. Ein weiterer Punkt des Dekrets beinhaltet die Verpflichtung, bereits an Bord des Rettungsschiffs eine sogenannte Interessenbekundung für die Beantragung von Asyl vorzulegen, um die Zuständigkeit dem Staat zu übertragen, unter dessen Flagge das Schiff segelt. Das Dubliner Abkommen sieht vor, dass Geflüchtete ihr Bleiberecht in dem Land beantragen, in dem sie erstmals die EU betreten. Italien und Griechenland fühlen sich mangels eines geregelten Verteilungsschlüssels alleingelassen mit der Betreuung der vielen Geflüchteten, die über über das Mittelmeer in die EU kommen. Schon zuvor hatte Italien angeregt, die Länder in die Pflicht zu nehmen, unter deren Flagge die Schiffe im Mittelmeer unterwegs sind.

An der mit Wellenbrechern bewehrten Mole »Molo Novo« an der Einfahrt zum Hafen von Livorno steht in schwarzen Buchstaben auf weißem Tuch geschrieben: »Refugees Welcome«. Das über 20 Meter lange Banner wirkt in den Weiten des Hafens klein, aber es sticht im Grau des Himmels und des Meeres ins Auge. »Als wir in den Hafen einliefen und es sahen, waren wir sehr bewegt«, sagt Pietro Parrino, Leiter der Einsatzabteilung der NGO Emergency an Bord der »Life Support«, die am Morgen des 22. Dezember in Livorno eintraf. In seinen Worten schwingt die Genugtuung mit, 142 Menschen in ­Sicherheit gebracht und den ersten Einsatz der »Life Support« abgeschlossen zu haben. Aber er spart auch nicht mit Kritik: »Die Zuweisung weit entfernter Häfen und die Begrenzung auf eine einzige Rettung pro Einsatz würde bedeuten, die Einsatzfähigkeit der NGO zu verringern und in Kauf zu nehmen, dass die Zahl der Todesopfer in unseren Meeren steigt.« Dies werde von der Regierung mit der Notwendigkeit begründet, die geretteten Menschen so schnell wie möglich weiterzuleiten. »Sobald aber ein Hafen festgelegt wird, den anzulaufen drei Tage dauert, besteht hier ein klarer Widerspruch«, sagt Parrino.

Die »Life Support« hat in der Nacht des 18. Dezember eine erste Rettungs­aktion im libyschen SAR-Gebiet vorgenommen. Von einem Boot wurden 70 Schiffbrüchige aufgenommen. Unter den Überlebenden befanden sich »fünf Frauen, von denen eine im siebten Monat schwanger war, zwei Kinder unter zwei Jahren und 24 unbegleitete Minderjährige ab 13 Jahren«, heißt es in der Erklärung der NGO Emergency. Die Nationale Koordinierungsstelle für die Seenotrettung hat der »Life Support« Livorno in kürzester Zeit als sicheren Hafen zugewiesen. Hierin liegt der Unterschied zur bisherigen Strategie des Innenministeriums, die darauf zielte, den Rettungsschiffen keinen Hafen zuzuweisen oder die Zuweisung zu verzögern. Noch im September ließen die italienischen Behörden beispielsweise die »Sea-Watch 3« viele Tage lang mit 428 Geflüchteten an Bord warten, bis sie ihr den Hafen von Reggio di Calabria zum Anlegen nannten. Ein Baby habe Sea-Watch zufolge sogar ein Drittel seines Lebens damit verbracht, auf dem Schiff auszuharren. Aber fast immer hat die Koordinierungsstelle Häfen in Sizilien und Kalabrien zugewiesen – weil diese am schnellsten nach Einsätzen im zentralen Mittelmeer zu erreichen sind.

Die zweite Rettung fand im maltesischen SAR-Gebiet statt, 24 Stunden nach der ersten, während das Schiff bereits auf dem Weg nach Livorno war. In diesem Fall wurden 72 Personen gerettet, darunter zwei unbegleitete Minderjährige. Seit dem 21. Dezember hat der regionale Zivilschutz Italiens am Kai 75 im Hafen von Livorno ein Lager eingerichtet. »Wir haben versucht, Effizienz und Menschlichkeit miteinander zu verbinden, denn diese Reise war besonders anstrengend, und die Wahl des Hafens von Livorno durch die Regierung hat sie noch länger gemacht«, sagt die zuständige toskanische Regional­rätin Monia Monni (PD). Der parteilose Bürgermeister von Livorno, Luca Salvetti, ist ebenfalls an der Anlegestelle anwesend und erklärt, welche Maßnahmen bei der Ausschiffung vorgenommen werden: »Identifizierung, Gesundheitscheck, erste Hilfe mit Verband und Essen.« Abgesehen von den wenigen Leuten, die ins Krankenhaus gebracht wurden, wurden die von Bord gegangenen Personen in Centri di Accoglienza Straordinaria (CAS, Außerordentliche Empfangszentren) in der Toskana oder in benachbarte Regionen gebracht, die Minderjährigen in Einrichtungen in der Region. Abgesehen von der Identifizierung wird alles, was mit dem Asylverfahren zu tun hat, später in den Zielzentren beginnen.

Der starke Wind riss in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember das große Banner vom Wellenbrecher herunter, das die Ankunft von »Sea-Eye 4« begrüßen sollte. Während das Schiff der deutschen NGO andockt, wird einige Meter vom Kai entfernt ein weiteres Transparent gehisst: »Freiheit! Kein Mensch ist illegal«. Viele weitere Transparente tauchen in der Stadt auf, verschiedene politische Kräfte und Gewerkschaften ergreifen Partei, und eine spontane Kundgebung am Eingang des Hafens gibt es an jedem der beiden Tage. Das Netzwerk Livorno solidale e antirazzista (Livorno für Solidarität und Antirassismus) betont in seiner Erklärung, dass »die Rettung der Schiffbrüchigen nicht in Frage steht«, und kritisiert scharf die Absicht des Bürgermeisters von Florenz, Dario Nardella (PD), in der Toskana ein Centro di permanenza per i rimpatri (CPR, etwa: Zentrum für Abschiebehaft) für Migranten ohne Papiere einzurichten, dessen Eröffnung in der Region bis heute durch öffentliche Mobilisierung verhindert wurde.

Die »Sea-Eye 4« führte ebenfalls zwei Rettungsaktionen aus, bevor sie den Hafen von Livorno erreichte. Bei der ersten, am 16. Dezember, wurden in Zusammenarbeit mit dem Rettungsschiff »Rise Above« des Dresdner Vereins Mission Lifeline 63 Menschen, darunter zwölf Minderjährige, aus einem seeuntüchtigen Schlauchboot gerettet. In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember fand die zweite Rettungsaktion statt, bei der 35 Stunden Fahrt entfernt 45 Menschen in Seenot geraten waren. Die Zuweisung des sicheren Hafens erfolgte, während die »Sea-Eye 4« noch mit diesen letzten Rettungsmaßnahmen beschäftigt war. »Obwohl die italienischen Behörden von dem Fall und der akut lebensbedrohlichen Situation der Menschen wussten«, heißt es in einer Erklärung von Mission Lifeline, »wiesen sie uns an, sofort nach Livorno zu fahren.« Die zweite Rettungsaktion wurde mit Hilfe des Handelsschiffs »MTM Southport« ausgeführt, obwohl die maltesische Rettungsleitstelle dieses angewiesen hatte, seinen Kurs fortzusetzen und alle Rettungsaktionen einzustellen. Wäre das neue Dekret bereits in Kraft gewesen, wäre diese Rettung wahrscheinlich streng sanktioniert worden.

Durch die schnell zugewiesenen ­sicheren Häfen hält die italienische Regierung sich an internationales Recht, die Zuweisung von Livorno anstelle eines Hafens in Sizilien im Süden Italiens lässt aber die Kosten einer Rettung drastisch ansteigen. »Allein die Reise von Sizilien nach Livorno hat den Rettungsdienst rund 25 000 Euro gekostet«, sagt Parrino. An Bord von »Sea-Eye 4« sehen es Besatzungsmitglieder genauso. »Seit einigen Wochen verfolgt die italienische Regierung eine neue Strategie«, erklärt Jan Ribbeck, Einsatzleiter der »Sea-Eye 4«, »sie versucht zu verhindern, dass die Menschen Land erreichen, und verursacht eine Kostenexplosion, indem sie die NGO-Schiffe so weit wie möglich von den Einsatzgebieten fernhält. Das ist ein klarer Angriff auf alle, die auf See Leben retten.« Aber die Antwort sei ebenso klar. »Denen, die uns unterstützen, sagen wir, dass wir weiterhin für das Recht auf Leben eintreten und die geflüchteten Menschen willkommen heißen müssen, ohne müde zu werden«, sagt Emergency-Einsatzleiter Parrino. Vom Deck der »Sea-Eye 4« aus versichert Einsatzleiter Ribbeck, dass »diese Angriffe unseren Willen, weiterhin ­Leben zu retten, nicht beeinträchtigen werden«. Es spiele keine Rolle, ob Weihnachten sei oder nicht, es spiele keine Rolle, welche Regierung da sei, »wir werden unsere Arbeit weiter machen«. Anfang Februar kritisierte der Europarat, eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Straßburg, in einem Brief an Innenminister Piantedosi Italiens neue Strategie der fernen Häfen und forderte eine Rücknahme des Dekrets. Riccardo Gatti, der für ein Rettungsschiff von »Ärzte ohne Grenzen« verantwortlich ist, sagte der Tageszeitung La Repubblica, dass das Dekret zu einer Strategie gehöre, die »das Todesrisiko für Tausende von Menschen erhöht«. Die neuen Regeln könnten gegen internationale Konventionen verstoßen und seien »ethisch inakzeptabel«. An­wält:innen prüften bereits mögliche Klagen gegen das Dekret.