Der Widerstand gegen die Taliban in Afghanistan ist zersplittert

Zersplitterter Widerstand

Der bewaffnete Widerstand gegen die Taliban in Afghanistan nimmt ab, die Oppositionsgruppen im Exil sind uneins und die Unterdrückung der Zivilbevölkerung, insbesondere der Frauen, hat sich weiter verschärft.

Auf dem Video sind Lichter von Gebäuden oder Fahrzeugen zu sehen, dann zwei von Lichtblitzen begleitete Explosionen. Mehr kann man auf der 21 Sekunden langen Aufnahme bei nächtlicher Dunkelheit nicht erkennen. Nach Angaben von Nasrullah Fateh, der sich auf seinem Twitter-Profil als Sprecher der Freiheitsfront Afghanistans (AFF) bezeichnet, zeigt das Video einen Angriff von AFF-Kämpfern auf einen Kontrollposten in Kabul. Fateh verbreitete es ab dem 16.Februar über seinen Twitter-Account. Ihm zufolge sollen bei der Aktion ein Taliban getötet und zwei weitere verletzt worden sein. Den Vorfall bestätigten jedoch weder in Afghanistan verbliebene unabhängige Beobachter noch afghanische Medien.

Die AFF gehört zu etwa einem Dutzend Gruppen, die im Zuge der Machtübernahme der Taliban im August 2021 entstanden. Sie behaupten, bewaffnet gegen deren Regime zu kämpfen. Die Islamische Nationale Befreiungsbewegung Afghanistans (Afghanistan Islamic National & Liberation Movement, AINL) beispielsweise bildete sich laut ihrem Anführer Abdul Matin Sulei­man­khel, der in der alten Regierungsarmee Kommandant im Korps für Spezialoperationen war, als Reaktion auf die systematische Verfolgung früherer Armeeangehöriger oder anderer Mitarbeiter des Vorgängerstaats durch die Taliban. Angeblich leitet der frühere Armeestabschef und stellvertretende Verteidigungsminister General Yasin Zia die AFF. In einem Länderreport aus dem Herbst 2022 kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) neben AFF und AINL lediglich die Aktivitäten vierer weiterer Gruppen örtlich zuordnen – wohlgemerkt auf der Grundlage von Aussagen dieser Gruppen selbst, die sich meist nicht unabhängig überprüfen lassen.

Der »Islamische Staat – Provinz Khorasan« (ISKP) wirft den Taliban vor, den Abzug der westlichen Truppen durch eine Vereinbarung und nicht durch einen siegreichen Jihad erreicht zu haben.

Bekannter ist die Nationale Widerstandsfront (National Resistance Front of Afghanistan, NRF), die durch ihre erfolgreiche Lobbyarbeit in westlichen Staaten und Medien sehr präsent ist. Die NRF ist vor allem im Panjshir-Tal aktiv, einer ehemaligen Hochburg des Kampfs sowohl gegen die sowjetische Besatzung (1979–1989) als auch gegen das erste Taliban-Regime (1996–2001). Die Gruppe führt der 1989 geborene Ahmad Massoud an. Er ist der Sohn des bekannten Mujahedin-Kommandanten Ahmad Schah Massoud, der sich im Kampf gegen die Rote Armee einen Namen machte und 2001 von al-Qaida-Agenten 2001 ermordet wurde. Massoud Junior soll sich in Tadschikistan aufhalten, wo die Ahmad-Schah-Massoud-Stiftung ein Büro unterhält. Seiner Gruppierung sollen sich nach deren eigenen Angaben auch lokale Gruppen afghanisch-tadschikischer Kämpfern in weiteren Provinzen im Nordosten Afghanistans angeschlossen haben.

Während die Online-Medien der NRF nach ihrer Entstehung im Sommer 2021 fast täglich Angriffe auf die Taliban meldeten, wurden derartige Meldungen seit Juli vergangenen Jahres immer seltener. Die NRF berichtete damals über eine angeblich gescheiterte Offensive der Taliban in dreien ihrer Hochburgen. Das Ausbleiben weiterer Meldungen kann daran liegen, dass der Winter im afghanischen Hochgebirge Kampfhandlungen erschwert und die bewaffneten Auseinandersetzungen zum Erliegen gekommen sind – ein aus vergangenen Jahrzehnten bereits bekanntes Phänomen. Eine andere Erklärung könnte sein, dass die NRF Rückschläge einstecken musste. Sie könnte an Unterstützung verlieren, weil die Taliban nach Angriffen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen vornehmen, angeblich beteiligte Dorfgemeinden vertreiben und Zivilist:innen umbringen, aber auch, weil die oppositionellen Kämpfer in Wohngegenden agierten, wo die kriegsmüde Bevölkerung erneut in Mitleidenschaft gezogen wird. Einziges Anzeichen dafür, dass Gefechte weitergehen, war eine Meldung im Dezember, der zufolge der der hochrangige NRF-Feldkommandeur Khair Mohammad Khairkhwah Andarabi im Kampf gefallen sei.

Erste Berichte zur Größe und Aktivität des bewaffneten afghanischen Widerstands vom Swiss Institute for Global Affairs (Siga), der Observer Research Foundation in Delhi sowie des erwähnten BAMF-Dossiers konstatieren, dass ethnische Spaltung und fehlende Koordination dessen Effektivität behindern. In der Tat berichtet keine der Gruppen online über die Aktivitäten der anderen. Auch im Ausland mangelt es wegen des im Resultat drohenden neuen Bürgerkriegs an Motivation, sie zu unterstützen, auch wenn es im Siga-Bericht heißt, Fotos von NRF-Kämpfern zeigten diese »mit neuen russisch gefertigten Waffen, die, soweit dies bestimmt werden konnte, kaum in Afghanistan erhältlich sind«.

Die NRF verwendet die schwarz-weiß-grüne Flagge des 1992 bis 1996 bestehenden, von den Mujahedin geführten Islamischen Staats Afghanistan und zugleich die der tadschikisch dominierten sogenannten Nordallianz, nicht aber die in den zwanziger Jahren eingeführte schwarz-rot-grüne Staatsflagge. Das lehnen viele andere Taliban-Gegner ab. Die seit 2007 im Exil erscheinende afghanische Zeitung Hasht-e Subh bemängelt deshalb die »tadschikische Kirchturmpolitik« der NRF und wirft den Oppositionellen generell vor, »ihre kollektive Energie in niemals endenden Debatten auf Facebook und Twitter« zu vergeuden.

Unbewaffnete Oppositionelle in Afghanistan sehen sich der ständigen Gefahr von Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Nach Verhaftungen und Misshandlungen in der Haft, die bis zu sexuellen Übergriffen gehen sollen, wagen sich seit einigen Monaten selbst die mutigen Frauenrechtlerinnen nicht mehr auf die Straße, die nach der Machtübernahme der Taliban in verschiedenen Städten immer wieder in kleinen Gruppen gegen ihre Entrechtung protestiert hatten. Zuletzt taten sie das nur noch online von privaten Räumlichkeiten aus, und selbst dort mit verdeckten Gesichtern. Haftentlassene berichten, dass sie Erklärungen hätten unterschreiben müssen, sich nicht mehr an Protesten zu beteiligen – unter Androhung von Repressalien gegen ihre Familien. Die paar Dutzend im Land verbliebenen unabhängigen Medien, vor allem private Fernseh- und Radiosender, wagen nicht, über bewaffnete Aktionen zu berichten. Die Internetseiten wichtiger Exilmedien sind in Afghanistan gesperrt.

Vorhaben wie die Bildung eines Exilparlaments, eines Exilfrauenparlaments oder gar einer Exilregierung sind bisher nicht verwirklicht worden. Ein Oppositioneller im Exil, der anonym bleiben möchte, führte das im Gespräch mit Jungle World auf die widrigen Lebensumstände zurück, mit denen viele Exilierte in ihren Gastländern zu kämpfen hätten. Das lasse ihnen kaum Zeit für politische Aktivität. Dazu kämen rivalisierende Führungsansprüche. Bei einem Treffen von Oppositionellen im vergangenen September in Wien etwa sei Ahmad Massoud von NRF-Vertretern und mit ihr sympathisierenden Organisa­to­r:innen bereits wie der designierte Anführer des angestrebten Dachverbandes präsentiert worden, weswegen das Treffen scheiterte und der Dachverband nicht zustande kam. Die zahlreichen neuen Exilparteien tragen zu weiterer Zersplitterung bei.

Einen gänzlich anderen Kampf führt der regionale Ableger des »Islamischen Staats« (IS), der bewaffnet und mit Terroranschlägen versucht, das Taliban-Regime zu stürzen. Der »Islamische Staat – Provinz Khorasan« (ISKP), der in Afghanistan und den Paschtunengebieten Nordwestpakistans agiert, wirft den Taliban vor, nicht konsequent genug die Errichtung eines islamischen Systems zu betreiben, den Abzug der westlichen Truppen durch eine Vereinbarung und nicht durch einen siegreichen Jihad erreicht zu haben sowie um internationale Anerkennung zu buhlen. Zuletzt ging der ISKP mit Anschlägen auf die Botschaften Russlands und Pakistans sowie chinesische Geschäftsleute in Kabul auch gegen die wichtigsten internationalen Verbündeten der Taliban vor. Hauptangriffsziele bleiben jedoch die schiitische und andere religiöse Minderheiten.

Der ISKP verfügt in Afghanistan allerdings über keine nennenswerte soziale Basis mehr, seit die Gruppe salafistische Dorfgemeinden in Teilen Ostafghanistans durch eine mehrjährige Schreckensherrschaft so sehr gegen sich aufbrachte, dass diese Ende 2019 und Anfang 2020 die Taliban und die Truppen der damaligen Regierung zu Hilfe riefen. Allerdings verfügt die Gruppe in der Region weiterhin über entlegene Rückzugsgebiete, Geld aus dem Ausland und, so meinen manche Beobachter, Unterstützung aus dem »tiefen Staat« in Pakistan. Dort misstraut man den afghanischen Taliban trotz aller Unterstützung in den vergangenen 20 Jahren – verfolgt im Umgang mit ihnen also eine Doppelstrategie. Zum einen, weil sie die umstrittene Grenze, die sogenannte Durand-Linie, nicht anerkennen, mit der die Briten Ende des 19. Jahrhunderts Pakistan von Afghanistan trennten. Zum anderen wegen des engen Verhältnisses der afghanischen Taliban zu den pakistanischen Taliban (TTP), die ihnen nacheifern und das vom Militär geprägte Regierungssystem Pakistans beseitigen ­wollen.

Zulauf erhält der ISKP auch aus militanten antischiitischen Gruppen aus Pakistan, die seit Jahrzehnten im Grenzgebiet beider Länder operieren. Größter Rekrutierungsfaktor dürfte allerdings die Gewalt der Taliban sein. Diese gehen systematisch gegen das Milieu vor, das mit dem ISKP sympathisiert, salafistische Prediger, Moscheen und Gemeinden in Afghanistans Städten, darunter Kabul. Dabei kam es auch zu Gruppenhinrichtungen.