In Russland soll ein neues Gesetz die Einberufung Wehrpflichtiger effektiver gestalten

Erfolgreiche Spezialoperation

Im Eilverfahren hat die russische Regierung ein Gesetz verabschieden lassen, das die Einberufung effektiver gestalten und es Wehrpflichtigen schwerer machen soll, dem Militärdienst zu entgehen.

Digitalisierung gilt als entscheidend für den Fortschritt einer modernen ­Gesellschaft. Oder besser gesagt, für effektive technische Abläufe, die den Menschen Zeit und Mühe ersparen und damit zu einer höheren Lebensqualität beitragen sollen. Geht es wie bei der Einziehung zum Militär im Kriegsfall um die nackte Existenz, bedeutet Digitalisierung das glatte Gegenteil. In Russland gehört die analoge Datenerfassung in Papierform bei den für die Rekrutierung zuständigen Militärkommissariaten nunmehr der Vergangenheit an. In der vorigen Woche verabschiedete die Duma ein Gesetz, das die Verschickung elektronischer Musterungsbescheide und die Einrichtung einer zentralen Datenbank mit allen ­relevanten Angaben über Wehrpflichtige vorsieht. Den wachsamen Augen der Rekrutierungsstellen soll dann fast nichts mehr entgehen.

Bislang wurden wehrpflichtige Personen ab 17 Jahren und Reservisten über die lokalen Militärkommissariate erfasst. Wer beispielsweise seinen Wohnort wechselte, war zwar verpflichtet, dies zu melden, aber die Teilmobilisierung im September vergangenen Jahres machte deutlich, dass viele Karteien unvollständige oder veraltete Angaben enthielten. Datenaktualisierung und der dazugehörige Schriftverkehr sind aufwendig, was die unter Druck arbeitenden Rekrutierungsstellen vor große Herausforderungen stellte. Nun werden alle Daten gebündelt, einschließlich Steuernummer und Immobilienbesitz. Das schaffe Transparenz und sorge dafür, dass alle Angaben immer auf dem neuesten Stand seien, so der Gesetzgeber.

Die russische Armee braucht Kanonenfutter. Verteidigungsminister Sergej Schoigu bezifferte die der Teilmobilisierung unterliegenden Wehrpflichtigen im September vorigen Jahres auf 25 Millionen

Menschenrechtsorganisationen sind hingegen alarmiert. Die Gesetzesänderungen enthalten eine ganze Reihe von Neuerungen, die Wehrpflichtige in eine schwierige Lage versetzen. Bislang konnte man sich rechtlich gegen eine Einberufung zur Wehr setzen oder zur Not einfach die Tür nicht öffnen, wenn die Überbringer eines Musterungsbescheids davor standen. In Zukunft wird, wer nicht innerhalb von 20 Tagen zur Musterung erscheint, automatisch gewisser Rechte beraubt, darf beispielsweise kein Fahrzeug mehr steuern, kein Gewerbe als Einzelunternehmer anmelden und keinen Kredit aufnehmen. Außerdem gilt ab dem Tag der Zustellung des elektronischen Bescheids ein Ausreiseverbot. Viele Wehrpflichtige hatten nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs das Land verlassen.

Voraussichtlich ab Herbst soll das neue Zentralregister für die Nutzung bereit sein. Dann kann man den eigenen Status feststellen oder muss es ­sogar, denn die Verantwortung dafür, informiert zu sein, wird de facto auf die Wehrpflichtigen übertragen – sie müssen befürchten, die 20tägige Frist zu versäumen, da eine Direktzustellung der Bescheide nicht zu erwarten ist. Bis dahin kann die Vorladung zur Rekrutierungsstelle auch über das staatliche Online-Portal Gosuslugi ­laufen. Eine weitere Neuerung senkt die Hürden für einen Vertragsabschluss als Zeitsoldat. Nun steht mit Erreichen der Volljährigkeit jedem der Weg in die Armee offen – auch ohne Berufsabschluss und militärische Grundausbildung.

Die russische Armee braucht Kanonenfutter. Verteidigungsminister Sergej Schoigu bezifferte die der Teilmobilisierung unterliegenden Wehrpflichtigen im September vorigen Jahres auf 25 Millionen. Für das laufende Jahr kursiert die offiziell nicht bestätigte Zahl von angestrebten 400 000 Anwerbungen für die Armee, was nur mit Mühe zu erreichen sein dürfte, wenn überhaupt. Deshalb lief vor ein paar Wochen eine aufwendige Werbekampagne an, die dazu ermuntern soll, Zeitsoldat zu werden. Die jüngsten Gesetzesänderungen dienen vermutlich zur Vorbereitung einer weiteren Großmobilisierung im Sommer oder Herbst.

Seit dem Ende der ersten Phase der Teilmobilisierung im vergangenen November finden keine Einberufungen von Reservisten mehr statt und staatliche Stellen werden nicht müde, die ­Öffentlichkeit an diesen Umstand zu erinnern. Tatsächlich schreckt die ­russische Regierung bislang vor einer Fortsetzung der Mobilmachung zurück. Bereits eingezogene Soldaten können ihren Dienst jedoch nicht beenden, außerdem läuft noch bis Mitte Juli die Einberufung zum regulären Wehrdienst. Das Höchstalter, ab dem eine Einberufung nicht mehr möglich ist, soll in den kommenden Jahren stufenweise angehoben werden.

Persönlich in den offiziell immer noch als »Spezialoperation« bezeichneten Krieg gegen die Ukraine zu ­ziehen, stößt in weiten Teilen der russischen Bevölkerung auf wenig Begeisterung, auch wenn sich dies fast immer nur in einer stillen Verweigerungshaltung bemerkbar macht. ­Deshalb kündigt die Regierung ihre Absichten mit Bedacht an und stellt die Menschen dann plötzlich vor vollendete Tatsachen. Die Gesetzesänderungen der vergangenen Woche glichen einer schnellen Spezialoperation, die ihren Namen verdient. Um das bei neuen Gesetzen vorgeschriebene lang­wierige Prozedere und Debatten zu vermeiden, griffen die Abgeordneten auf eine seit Jahren in der Schublade liegende Vorlage zurück, die nur noch einiger Ergänzungen bedurfte. Vor der entscheidenden Abstimmung schaffte es kaum jemand, die 59 Seiten Text zu lesen. Allerdings wäre die Zustimmung wohl ohnehin gesichert gewesen. Gegenstimmen in der Duma gab es keine, aber immerhin blieben einige Abgeordneten der Abstimmung fern. Im russischen Oberhaus, dem Föderationsrat, hatte wenigstens Ljudmila ­Narusowa dagegen gestimmt, die Witwe von Anatolij Sobtschak, der in ­Wladimir Putins Sankt Petersburger Zeit Anfang der neunziger Jahre dessen Mentor und Vorgesetzter gewesen war.