Anwälte prangern willkürliche Freiheitsberaubung durch die Pariser Polizei an

Staatsmacht in Sanktionslaune

Die französische Polizei ist für ihr gewalttätiges und willkürliches Vor­­­gehen bei Demonstrationen gegen die Rentenreform wiederholt kri­tisiert worden. Nun hat ein Zusammenschluss von Rechtsanwälten Strafanzeigen gegen Beamte erstattet.

Mehr als 100 Strafanzeigen unter anderem wegen Einschränkung der Demonstrationsfreiheit und Verletzung der persönlichen Freiheit durch Mit­arbeiter und Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes hat eine Gruppe von Anwälten bei der Pariser Staatsanwaltschaft eingereicht. Das teilte die Gruppe in einer Pressemitteilung vom 31. März mit. In ihrer Stellungnahme beziehen sich die Anwälte auf offizielle Zahlen der Pariser Polizeipräfektur. An den drei aufeinanderfolgenden Tagen des 16., 17. und 18. März seien demnach bei den Protesten gegen die Rentenreform insgesamt 425 Personen von der Pariser Polizei in Gewahrsam genommen worden.

Am 16. März hatte der französische Präsidenten Emmanuel Macron angekündigt, die Rentenreform mit Hilfe des Artikels 49 Absatz 3 der Verfassung am Parlament vorbei zu beschließen. Die bis dahin überwiegend friedlichen Proteste gegen das Gesetzesvorhaben wurden daraufhin militanter, es gab Ausschreitungen mit Sachbeschädigungen in Paris und weiteren Städten.

Dass es nach den 425 Festnahmen in nur 52 Fällen zu einer strafrechtlichen Verfolgung kam, sehen die Anwälte als Indiz dafür an, dass die Ingewahrsamnahmen »ebenso überzogen wie un­begründet« waren. »Hunderte von Demonstranten werden für 24 Stunden und bis zu drei Tage inhaftiert, die meisten von ihnen wurden aber weder angeklagt noch vor Gericht gestellt«, sagt der Pariser Strafrechtsanwalt Raphael Kempf. »Selbst Menschen, die sich ­abseits des Geschehens aufhielten, wurden an diesem Tag mitgenommen«, so Kempf. »Die Festnahmen fanden größtenteils ohne hinlängliche Begründung eines Anfangsverdachts statt.«

Die Tageszeitung Libération berichtete von zwei minderjährigen österreichischen Schülern, die auf Klassenfahrt gewesen seien und am 16. März von der Pariser Polizei in Gewahrsam genommen worden waren. Schließlich musste sich die österreichische Botschaft einschalten.

Dem Nachrichtensender Euronews sagte Kempfs Kollegin Coline Bouillon, dass diese Praxis der »Gewahrsamssanktionen« eine bekannte Strategie der französischen Polizei gegen Demonstrierende darstelle, bei denen diese mit »unzulässigen Anschuldigungen« überzogen würden, die »in Bezug auf den Nachweis von Schuld haltlos« seien. Die Tageszeitung Libération berichtete in diesem Zusammenhang von zwei minderjährigen österreichischen Schülern, die auf Klassenfahrt gewesen seien und am 16. März von der Pariser Polizei in Gewahrsam genommen worden waren. Schließlich musste sich die österreichische Botschaft einschalten.

Bei allen 52 Personen, die einem Staatsanwalt vorgeführt worden waren, stellte man die Verfahren gegen Auf­lagen ein. Darunter fielen Geldbußen zwischen 200 und 500 Euro, Beschlagnahmung des Mobiltelefons und Demonstrations- sowie bis zu sechsmonatige Aufenthaltsverbote für Paris. Der Stellungnahme der Anwälte ist zu entnehmen, dass in Frankreich für die Beschuldigten keine Möglichkeit besteht, gegen diese Auflagen Rechtsmittel ­einzulegen. Die Anwälte kritisieren das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Sie gehen davon aus, dass ihre Mandanten im Falle einer Gerichtsverhandlung ­einen Freispruch zu erwarten gehabt hätten. Die Staatsanwaltschaft habe sich ihrer Meinung nach »ein undurchsichtiges und nicht mit Rechtsmitteln ausgestattetes Sanktionsrecht« herausgenommen.

Dieser Einschätzung schließt sich auch die linke Gewerkschaft der Richter (Syndicat de la magistrature, SM) an. Sie kritisiert neben der Polizeigewalt, über die sich sowohl Amnesty Inter­national als auch die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, bereits besorgt geäußert hatten, die willkürlichen Festnahmen als »Repression gegen die soziale Bewegung«.

Bei der Wahl zwischen repressiven und präventiven Ansätzen tendiere die Polizeistrategie »vermehrt zur präventiven Seite«, so der Polizeisoziologe Fabien Jobard.

Der Nachrichtensender Euronews zitiert diesbezüglich Fabien Jobard, der als Polizeisoziologe am Centre de recherches sociologiques sur le droit et les institutions pénales (CESDIP) ar­beitet, das dem französischen Justizministerium untersteht. Jobard vertritt die Einschätzung, dass in den »vergangenen 15 Jahren« eine Veränderung der Polizeiarbeit stattgefunden habe. Der Straftatbestand der »Beteiligung an einer Gruppe mit dem Ziel, Gewalt oder Schaden anzurichten«, der 2010 zur Bekämpfung von Bandenkriminalität eingeführt wurde, finde inzwischen vermehrt Anwendung bei Demonstrationen. Bei der Wahl zwischen repressiven und präventiven Ansätzen tendiere die Polizeistrategie »vermehrt zur präventiven Seite«, so Jobard, Festnahmen fänden immer häufiger bereits vor Demonstrationen oder zu erwartenden Krawallen statt.

Das französische Innenministerium weist den Vorwurf willkürlicher Festnahmen zurück. »Wir hoffen, dass wir mit Hilfe der Anzeigen herausfinden können, wie diese Menschen inhaftiert worden sind und wer dafür verantwortlich ist.« Ein Ergebnis erwarte er allerdings frühestens in zwei Jahren, so Kempfs Einschätzung gegenüber der Jungle World.