Die Mehrheit ist gegen die Junta
In Thailand kündigt sich ein Regierungswechsel an. Darauf deuten zumindest Umfragen kurz vor der am 14. Mai anstehenden Parlamentswahl hin. Einer Untersuchung des in Bangkok ansässigen öffentlichen Graduierteninstituts für Entwicklungs- und Verwaltungswissenschaft (Nida) von Ende April zufolge, für die 2 500 repräsentativ ausgewählte Personen befragt wurden, war zwar der bisher deutliche Vorsprung der oppositionellen Phak Phuea Thai (Partei für Thais, PT, auch bekannt als Pheu Thai Party) geschrumpft, doch die ebenfalls oppositionelle sozialdemokratische Phak Kao Klai (Fortschrittspartei) legte deutlich zu. Die bisherige Regierungskoalition, die aus 18 Parteien besteht, liegt weit dahinter zurück.
Doch sind solche Umfragen nicht unbedingt zuverlässig. 400 der 500 Abgeordneten des Repräsentantenhauses, des Unterhauses der thailändischen Nationalversammlung, werden nicht über Parteilisten, sondern per Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen gewählt. Es wirkt sich daher stark aus, dass viele der wichtigsten politischen Kräfte in einzelnen Landesteilen verwurzelt sind.
Unbestreitbar ist jedoch, dass eine generelle Wechselstimmung herrscht, fast ein Jahrzehnt nach dem jüngsten Militärputsch. Im Mai 2014 hatte der damalige Oberkommandierende der Armee, General Prayut Chan-o-cha, in einem unblutigen Coup die demokratisch legitimierte Regierung von Ministerpräsidentin Yingluck Shinawatra (PT) abgesetzt. Als Rechtfertigung dienten die eskalierten Straßenproteste in Bangkok, die eine oppositionelle Koalition gegen sie organisiert hatte (»Drei Finger gegen die Putschisten«, Jungle World 24/2014). Ein von der Militärführung eingesetztes Parlament wählte Prayut formell zum Ministerpräsidenten.
Bei der vorigen Wahl im Jahr 2019 gewissermaßen mit demokratischer Legitimation versehen (»Onkel Tu ist jetzt Demokrat «, Jungle World 13/2019), regiert der einstige Putschist Prayut noch immer. Auch andere aus der damaligen Militärjunta, allen voran sein Stellvertreter und Vertrauter Prawit Wongsuwan, gehören noch immer dem Kabinett an. Die beiden ehemaligen Generäle wollen in der Politik bleiben, lediglich Innenminister Anupong Paochinda kündigte an, sich mit dem Ende der Legislaturperiode in den Ruhestand zu begeben.
Doch anders als bei der vergangenen Wahl treten Prayut und Prawit getrennt an. Der stellvertretende Ministerpräsident führt auch die in der Regierung tonangebende Phak Palang Pracharath (Partei der Kraft des Volksstaats, PPRP) an, die als Partei der Militärjunta bezeichnet wird, und ist deren Spitzenkandidat. Ministerpräsident Prayut kandidiert für die Ruam Thai Sang Chart (Vereinte Thai-Nation, PRTSC), die dadurch deutlich zulegen konnte. Die Umfragen sehen sie mit um die zwölf Prozent recht stabil auf Platz drei, während die PPRP einer aktuellen Umfrage zufolge mit landesweit zwei Prozent nur die achtstärkste Partei wäre.
Die Phak Phuea Thai gab jüngst als Wahlziel aus, mindestens 300 der 500 Sitze im Repräsentantenhaus zu gewinnen. Bis vor kurzem sah es tatsächlich nach einem Durchmarsch der größten Oppositionskraft aus, die schon 2019 in der Zahl der Mandate knapp vor der PPRP rangierte, jedoch nicht an der Regierungskoalition beteiligt wurde. Inzwischen zeichnet sich immer mehr ein Kampf der beiden Oppositionsparteien um den Sieg ab. In der jüngsten Nida-Umfrage kommt die PT statt auf 47 noch auf knapp 38 Prozent, die Fortschrittspartei läge mit gut 35 Prozent nur knapp dahinter – ein enormer Zugewinn im Vergleich zu den 17 Prozent in der März-Umfrage und knapp 22 Prozent Mitte April. Den Spitzenkandidaten der Fortschrittspartei, Pita Limjaroenrat, könnten sich demnach sogar über 35 Prozent der Befragten als neuen Ministerpräsidenten vorstellen, während die PT-Spitzenkandidatin Paetongtarn Shinawatra mit 29 Prozent auf Rang zwei abgerutscht ist. Auch in dieser Frage ist Prayut abgeschlagen.
Einer der Gründe für den enormen Popularitätsgewinn der Fortschrittspartei liegt darin, dass viele liberale Thais offenbar befürchten, die PT könne Absprachen mit dem Regierungslager treffen, so dass am Ende trotzdem Prayut oder Prawit an die Macht zurückkehren könnten. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Senat, das Oberhaus des Parlaments, an der Wahl des Ministerpräsidenten beteiligt ist. Die dort vertretenen Senatoren wurden noch von der Militärführung eingesetzt.
Offiziell ist von solchen Plänen bei der PT, die eine eigene Mehrheit für eine Regierungsbildung anstrebt, zwar nicht die Rede. Aber sich für die Fortschrittspartei zu entscheiden, erscheint offenbar vielen als das sicherere Votum für eine Ablösung der vom Militär an die Macht gebrachten Kräfte, denn sie verspricht neben einer Dezentralisierung der Regierungsbefugnisse und dem Kampf gegen wirtschaftliche Monopole auch, keine Kompromisse mit der Armee einzugehen und ihre Rolle in der Politik zu beschneiden. Schon in den ersten 100 Regierungstagen wolle man diesbezüglich wichtige Änderungen vornehmen, hat Pita in Aussicht gestellt. Solche klaren Aussagen gegen das mächtige Militär, aber auch den Einfluss bestimmter Wirtschaftsmagnaten, sprechen anscheinend viele Wähler an.
Die PT wiederum, in der Vergangenheit das wichtigste Sammelbecken liberalerer Kreise und auch einiger linker Wähler, steht weiterhin unter dem Einfluss einer prominenten Familie: Spitzenkandidatin Paetongtarn Shinawatra wäre nach ihrem Vater Thaksin (2006 ebenfalls per Militärputsch gestürzt) und ihrer Tante Yingluck die Dritte aus dem Shinawatra-Clan, die die Regierungsführung übernehmen könnte. Ihr Vater und ihre Tante leben derzeit im Exil, weil sie sich nach ihrem Machtverlust vor drohenden Haftstrafen ins Ausland flüchteten.
Dennoch verkörpert die erst 36 Jahre alte Paetongtarn ebenso wie ihr mit 42 nur geringfügig älterer Konkurrent von der Fortschrittspartei die Sehnsucht nach einem Generationswechsel und einer Abwahl des 69jährigen derzeitigen Ministerpräsidenten, General Prayut. Gerade die gebildete Jugend war es, die 2020 trotz eines herrschenden Verbots aller Demonstrationen mutig gegen das Putschistenregime auf die Straße ging und in Bangkok sowie andernorts eine echte Veränderung forderte – auch die in der Gesamtbevölkerung durchaus umstrittene enge Begrenzung der Einflussmöglichkeiten des Königs in der konstitutionellen Monarchie und die weitgehende Abschaffung des Majestätsbeleidigungsparagraphen im Strafrecht (»Mit Harry Potter gegen Militär und König«, Jungle World 35/2020). Dieser hat auch in den vergangenen Jahren oft dazu gedient, Oppositionelle hinter Gitter zu bringen. Nun hoffen viele auf einen friedlichen Machtwechsel nach der Wahl.