Rechte warnen vor angeblicher Frühsexualisierung, um gegen LGBT-Personen zu hetzen

Drag-Panik in Bayern

In München laufen konservative und rechte Politiker Sturm gegen eine Kinderbuchlesung von Drag-Darstellern. Der CSU-Generalsekretär Martin Huber sprach von »woker Frühsexualisierung«.

Es ist eine nahezu perfekte Veranschaulichung von Heuchelei und politischer wie menschlicher Verlogenheit: Politiker, die beim Klimaschutz bremsen, damit ganz real das Leben künftiger Generationen gefährden und mit ihrer Politik dazu beitragen, dass immer wieder Kinder beim Versuch, nach Europa zu fliehen, ertrinken, wähnen das »Kindeswohl gefährdet«, wenn Trans-Personen Kindern aus einem Buch vorlesen. Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) ist da ein Beispiel; über eine für den 13. Juni in der Münchner Stadtbibliothek geplanten Lesung sagte er, diese sei ein »Fall für das Jugendamt«.

Was empörte Aiwanger so sehr? ­Warum erschienen in der Bild-Zeitung gleich mehrere Artikel, die eine Lesestunde für Kinder dämonisierten? Un­ter dem Titel »Wir lesen euch die Welt, wie sie euch gefällt« wollten laut Ankündigung Mitte Juni »Drag Queen Vicky Voyage mit Drag King Eric BigClit und die transsexuelle Jungautorin Julana Gleisenberg« das junge Publikum »in farbenfrohe Welten« mitnehmen, »die unabhängig vom Geschlecht zeigen, was das Leben für euch bereithält, und dass wir alles tun können, wenn wir an unseren Träumen festhalten«. Erzählt werden sollte unter anderem von »Jungs in Kleidern, Prinzessinnen mit ihrem eigenen Willen« und dem »Entdecken der eigenen Freiheit«, heißt es auf der Website der Münchner Stadtbibliothek.

Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) kroch bei »Bild« zu Kreuze und sagte, er habe »für diese Art von Veranstaltung kein Verständnis«.

Eine farbenfrohe Welt, in der Kinder alles tun können, wenn sie an ihren Träumen festhalten, ist offenbar nichts, was Freie Wähler, AfD, CSU und leider auch SPD den Kindern gönnen wollen. Neben Aiwanger, der in der Bild-Zeitung meinte, die Lesung sei »Kindeswohlgefährdung« und »keine Weltoffenheit, wie es die Grünen verharmlosen«, sprach auch CSU-Generalsekretär Martin Huber von »Indoktrinierung von Kleinkindern« und »woker Frühsexualisierung«. Auf Twitter schrieb der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Reichardt, dass die »Saat, die die grünen Pädophilieförderer gesät« hätten, nun überall in Deutschland aufgehe. Die SPD knickte in Gestalt des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter wieder einmal ein. Reiter kroch bei Bild zu Kreuze und sagte, er habe »für diese Art von Veranstaltung kein Verständnis«.

Die veranstaltende Münchner Stadtbibliothek verteidigte sich: »Wir bedauern, dass die Künstler:in­nen­na­men der Beteiligten den Anschein erwecken, als würde ein Travestieprogramm für Erwachsene dargeboten. Das war nie geplant.« Es handle sich vielmehr um ein Angebot für Familien mit Kindern ab vier Jahren, bei dem aus altersgerechten Kinderbüchern vorgelesen werde. In der Münchner Abendzeitung versuchte der Stadtrat Thomas Niederbühl von der Rosa Liste, die hochemotionalisierte Debatte auf den Boden der Tatsachen zu holen: »Diese ganze Aufregung entspricht der Realität überhaupt nicht. Es geht überhaupt nicht um Sexualität.« Auch Vicky Voyage sagte der Bild-Zeitung, es gehe bei der Veranstaltung »nicht um Sexualität, sondern um Identität und Diversität«, es handle sich um ein »kindergerechtes Programm«. »Es geht darum, dass jedes Kind so sein soll, wie es sein möchte.«

Lange hatten rechte und rechtsextreme Kräfte nach einem Thema gesucht, mit dem sie die gesellschaftliche Liberalisierung skandalisieren können – in der herbeiphantasierten »Frühsexualisierung« unschuldiger Kinderlein haben sie es gefunden. Das Geraune von der »Frühsexualisierung« entpuppt sich oftmals als projektiver Ausdruck der eigenen Phantasien. An einer Lesung von Männern und Frauen in Drag vor Kindern ist objektiv nichts sexuell oder gar erotisch. Kinder ab vier Jahren, an die sich die Münchner Lesung richten sollte, betrachten Trans-Personen nicht mit der verklemmten Geilheit erwachsener rechter Politiker, sondern eben mit Kinderaugen.

Was die Rechten in Wahrheit ablehnen, ist nicht die »Frühsexualisierung« von Kindern, sondern die Normalisierung und Akzeptanz gesellschaftlicher Minderheiten dadurch, dass Kinder Vielfalt früh und angstfrei erleben. Wer als Kind erlebt, wie eine Drag Queen spannende und schöne Geschichten vorliest, wird später vielleicht weniger anfällig dafür sein, Menschen in Drag zu fürchten. Wo keine Furcht, da kein Hass, und wo kein Hass, da kein Erfolg minderheitenfeindlicher Demagogie.

Stimmte die Behauptung der Rechten, die Konfrontation mit Travestiekünstlern »sexualisiere« Kinder, und wäre etwas dran an der dabei auch immer mitschwingenden Verschwörungstheorie, eine Kabale sinistrer Pädophiler ziele darauf, Kinder zu verderben, so müssten diese Rechten sich in einige der erfolgreichsten deutschsprachigen Filmkomödien der Nachkriegszeit verbeißen. In den Klamotten »Unsere tollten Tanten« (1961), »Wenn die tollen Tanten kommen« (1970), »Tante Trude aus Buxtehude« (1971) und »Die tollen Tanten schlagen zu« (1971) waren einige der beliebtesten Stars Deutschlands in Drag zu sehen. Zwar waren diese Filmchen dümmlich und stellenweise arg misogyn und homophob, doch ist kein einziger Fall überliefert, in dem Kinder, die diese immer wieder im Nachmittagsprogramm gezeigten Klamaukfilme gesehen haben, irgendwelchen anderen Schaden genommen hätten, als sich an schlechte deutsche Schlagermusik zu gewöhnen.

Aber man kann den Hetzern mit noch so vielen Beispielen kommen und ihnen wissenschaftliche Erkenntnisse um die Ohren hauen, es wird sie nicht vom Hetzen abbringen, da nur die Dümmsten unter ihnen die eigene Hetze glauben. Den vorgeblichen Kämpfern gegen »Frühsexualisierung« geht es nicht um den Kinderschutz, sondern um Emoti­onalisierung mittels Dämonisierung (»Heilige Familie, heiliger Krieg«, Jungle World 5/2023). Wie gefährlich diese Hetze ist, zeigt sich in den USA. Dort häufen sich gewaltsame Übergriffe auf LGBT-Personen, seit die Rechte vermehrt mit dem Vorwurf agiert, eine Art linksliberale, »kulturmarxistische« Verschwörung vergehe sich organisiert an Kindern und es bestehe ein Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homo- und Transsexualität (»Ausweitung der Kampfzone«, Jungle World 32/2022). Mitglieder des rechten Männerbunds Proud Boys (siehe Porträt) stören in den USA regelmäßig Lesungen von Drag Queens für Kinder.

Die Republikaner versuchen derweil in vielen Bundesstaaten, mit zahlreichen Gesetzen gegen einen liberalen Umgang mit LGBT-Themen an Schulen und Hochschulen vorzugehen. Ein Vorreiter dabei ist dabei der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, der bisweilen treffend als »Trump mit Hirn« bezeichnet wird. Das sogenannte »Don’t Say Gay«-Gesetz, das vergangenes Jahr in Florida verabschiedet wurde, verbot zum Beispiel, Kinder an Grundschulen über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu unterrichten (»Der Gouverneur macht sich mausig«, Jungle World 17/2023). Vergangene Woche war der ehemalige deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in Florida bei DeSantis zu Gast. Der Nachrichtenwebsite T-Online sagte Scheuer, solche Treffen seien nötiger denn je, außerdem teile er die »Analysen von DeSantis. Das mag einige schockieren. Aber dazu stehe ich.«

Auch für die extreme Rechte wird das Thema der »Frühsexualisierung« zuletzt noch wichtiger. Im April demons­trierte in Wien ein rechtsextremer und christlich-fundamentalistischer Mob gegen eine Kinderbuchlesung von Drag Queens, mit dabei waren Politiker der FPÖ und Mitglieder der Identitären Bewegung (»Risse im Regenbogen«, Jungle World 17/2023).

Der russische Präsident Wladimir Putin begründete sogar seinen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar dieses Jahres auch damit, »der Westen« habe Pädophilie »für normal erklärt« und zerstöre mit seiner Toleranz für sexuelle Minderheiten die traditionelle Familie. »Die westlichen Eliten sind wahnsinnig geworden«, sagte Putin in seiner Ansprache anlässlich des ersten Jahrestages des Beginns seines Kriegs.

Das klingt genau nach dem, was auch westliche rechte Hetzer sagen. Und während Putin und seine westlichen Geistesverwandten gegen eine angebliche »Elite« wettern, die Kinder missbrauchen wolle, entführt Russland ukrainische Kinder und lässt sie in Umerziehungslagern »russifizieren«, pulverisieren russische Raketen ukrainische Kindergärten und müssen russische Schulkinder in Uniformen und kleinen Panzerattrappen bei Schulaufführungen beteuern, wie gerne sie doch alt genug wären, um für das Vaterland zu sterben.