In Russland häufen sich Brandanschläge auf Militärkommissariate

Cocktails für die Armee

In Russland häufen sich Brandanschläge gegen Militärkommissariate. Manche der Täter sind politisch völlig unbedarfte Menschen.

Es geschah in Ulan-Ude am 1. August gegen 20 Uhr: Auf einem Video ist deutlich ein Brand am Eingang eines Gebäudes in der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien zu sehen. Ein Mann entfernt sich, geht ruhigen Schritts zu einer Frau, holt aus ihrer Tasche einen Molotow-Cocktail hervor, geht wieder auf das Gebäude zu und wirft ihn in ein Fenster. Der Rahmen fängt sofort Feuer. Später wird bekannt, dass niemand in den vormals vom lokalen Militärkommissariat genutzten Räumen zu Schaden gekommen ist. Am Folgetag werden beide Personen festgenommen – er ist 34 Jahre alt, sie eine 69jährige Rentnerin. Sie behaupten, unbekannte Telefonanrufer hätten sie zu der Tat gedrängt, welche die Behörden als Terrorismus einstufen.

Brandanschläge auf russische Militärkommissariate erscheinen zunächst als Widerstandshandlungen gegen den Krieg. Vereinzelt kam es in der Vergangenheit allerdings vor, dass po­litisch bislang völlig unbedarfte Menschen aus diffusen Gründen in Russland zum Molotow-Cocktail griffen. Dass nicht nur explizite Kriegsgegner zu radikalen Aktionen fähig sind, ist schon länger bekannt, im Nachrichtenfluss gehen solche Mitteilungen indes leicht unter. Doch allein zwischen dem 29. Juli und dem 2. August wurden in diversen Landesteilen 30 Attacken verübt, die meisten davon mit Brand­sätzen.

Bis dahin, also innerhalb der ersten 17 Kriegsmonate, zählte das opposi­tionelle russische Internetportal Mediazona insgesamt 113 militante Angriffe auf Rekrutierungsstellen der Armee und Verwaltungsgebäude des Sicherheitsapparats in über der Hälfte der Regionen Russlands. Etliche wurden gleich zu Kriegsbeginn oder direkt nach der Ausrufung der Teilmobilmachung im September verübt. In den meisten Fällen entstand aufgrund eher dilettantischen Vorgehens lediglich geringer Sachschaden, wenn überhaupt. Das hinderte die Gerichte nicht daran, Haftstrafen bis zu 19 Jahren zu verhängen. Eine klare Linie der Strafverfolgungsbehörden ist jedoch nicht erkennbar, abgesehen davon, dass dann mit einem milderen Urteil zu rechnen ist, wenn die Polizei ermittelt. Nimmt sich hingegen der Staatsschutz der Fälle an, ist mit einer Verurteilung wegen Terrorismus zu rechnen.

Anders als bisher stuft der für die ­Bekämpfung von »Terrorismus« zuständige Inlandsgeheimdienst FSB die Tat von Ulan-Ude als politische Straftat ein. Bislang sah man die Attacken als Sachbeschädigung und Vandalismus an – zu abstrus nehmen sich die Bekenntnisse der handelnden Personen aus. Überwiegend handelt es sich um Rentnerinnen und Rentner, aber es finden sich darunter auch eine 18jährige Verkäuferin und eine 24jährige Geschichtslehrerin.

Die einen begründeten ihr Handeln damit, jemand habe auf ihren Namen einen Kredit aufgenommen und der Betrüger halte sich in dem anzuzündenden Gebäude auf. Andere verweisen auf Anweisungen von Polizeiangestellten – alles telefonisch oder per Whatsapp. In Sankt Petersburg korrespondierte ein Mann mehrere Tage lang mit einem vermeintlichen FSB-Mitarbeiter, der ihm zufolge behauptet habe, das Militärkommissariat im Stadtzentrum plane, Unterlagen in die Ukraine zu versenden. Ein Rentner soll nach Angaben des Nachrichtenportals Fontanka nach der Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn Selbstmord verübt haben.

Bis Ende Juli zählte das russische Internetportal »Mediazona« insgesamt 113 militante Angriffe auf Rekrutierungsstellen der Armee und Verwaltungsgebäude des Sicherheitsapparats in Russland.

Wer die Leichtgläubigkeit der Betroffenen ausgenutzt hat, ist erst noch zu klären. An sich sind Telefonbetrügereien in Russland durchaus üblich. In ­einer Mitteilung der für das Gebiet Swerdlowsk im Ural zuständigen Pressestelle des FSB hieß es, die eigentlich Verantwortlichen für die Brandstiftungen seien ausländischen Geheimdiensten zuzurechnen. Die Vermutung lautet demnach, die Ukraine stecke hinter den Anschlägen.

Allerdings haben Brandanschläge ihren praktischen Sinn zusehends ein­gebüßt. Lagen noch im Frühjahr 2022 Informationen über Wehrpflichtige oftmals nur in Papierform vor, schreitet jetzt bei den Streitkräften die Digi­talisierung personenbezogener Daten in Riesenschritten voran. Schließlich sollen ab Herbst auch Vorladungen in ausschließlich digitaler Form volle ­Gültigkeit besitzen.

Gegen Militärkommissariate gerichtete Einzelaktionen dürften bei der Mehrheit der Bevölkerung wenig In­teresse wecken, anders als Drohnenattacken. Anfang Mai schafften es un­bemannte Flugkörper erstmals bis zum Kreml, Ende des Monats beschädigten mehrere Drohnen Wohnhäuser in Moskau. Seit dem 24. Juli häufen sich die Angriffe. Einschläge erfolgten auf dem Dach eines der Gebäude des Verteidigungsministeriums im Stadtzentrum, in dem die dem militärischen Auslandsgeheimdienst GRU ­zuarbeitende Hackergruppe Fancy Bear untergebracht sein soll. Am 30. Juli und 1. August gab es Treffer im zentralen Geschäftsdistrikt – zweimal traf es ein und dasselbe Hochhaus, in dem sich Büros russischer Ministerien befinden.

Im Staatsfernsehen wurden die jüngsten Vorfälle nur am Rande abgehandelt, ohne Bezugnahme auf den Kriegskontext, ganz so, als handle es sich um so etwas wie Blitzeinschläge. Das Verteidigungsministerium vermeldete, alles im Griff zu haben, die Flugkörper seien rechtzeitig abgeschossen worden. Für die Behörden scheint kein Anlass gegeben, Luftalarm auszulösen und die Bevölkerung im Voraus von ­einer drohenden Gefahr in Kenntnis zu setzen.

Aus der Antwort auf eine Anfrage eines vor kurzem aus der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) ausgeschlossenen Abgeordneten des Moskauer Stadtparlaments, Jew­genij Stupin, geht hervor, dass dem zuständigen Katastrophenschutzministerium selbst keine frühzeitigen Infor­mationen über Drohnenattacken vorliegen. Stupin verfasste im März 2022 eine Gegenerklärung zu der, die die KPRF abgegeben hatte, die den russischen Angriffskrieg in der Ukraine unterstützt. Stupin bezeichnete den Krieg als »größte Katastrophe auf dem Gebiet der untergegangenen Sowjetunion seit 1945« und verurteilte ihn als nationalistischen sowie imperialistischen Akt.

In Gebieten nahe der ukrainischen Grenze, in denen die Einwohner Attacken weitaus direkter zu spüren bekommen als in der Hauptstadt und in denen wiederholt Siedlungen von proukrainischen Sabotagegruppen beschossen oder gestürmt wurden, teilen die lokalen Behörden derweil Waffen an Zivilisten aus. Der Gouverneur der Oblast Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, ließ vergangene Woche halb­automatische Gewehre an lokale »Volksmilizen« aushändigen, die sich ihm ­zufolge Ende vorigen Jahres als Selbstverteidigungsgruppen gebildet haben und insgesamt etwa 3.000 Mitglieder zählen. Im Mai hatte der Gouverneur gesagt, dass es ihm vor allem wichtig sei, die Milizen auf legaler Grundlage zu bilden.