09.11.2023
Leonard Cohen sang während des Yom-Kippur-Kriegs für Soldaten

Die Kanonenkugeln aufhalten

Als Israel an Yom Kippur 1973 von Ägypten und Syrien angegriffen wurde, reiste der in einer Schaffenskrise steckende Leonard Cohen in das Land, um vor Soldaten zu singen. Der Journalist Matti Friedman hat ein Buch über Cohens Reise geschrieben, die, so seine These, eine »Wiedergeburt« des ­Musikers zur Folge hatte.

»Ich hörte vom Krieg zwischen Arabern und Juden. Ich wollte kämpfen und sterben«, hat Leonard Cohen 1973 in einem bislang unveröffentlichten Text über den Yom-Kippur-Krieg geschrieben, der wegen des Überraschungsangriffs der Hamas auf Israel gegenwärtig eine erschreckende Aktualität angenommen hat. Weiter schrieb er über seine persönliche Reaktion auf den von Ägypten und Syrien ausgehenden kriegerischen Überfall am 6. Oktober 1973: »Dieser Mann reist nach Israel, um sein Land gegen den Feind seines Landes zu verteidigen. Er hinterlässt ein gut ausgestattetes Haus, eine Frau und ein Kind, alle Annehmlichkeiten, die er erreicht hat.« Cohen flog unmittelbar nach Ausbruch des Yom-Kippur-Kriegs nach Israel, zunächst noch ohne konkreten Plan, jedoch mit dem Ziel, dem Land im Kriegszustand ­irgendwie zu helfen.

Der kanadische Musiker war kein Pazifist, eine »Ode an den bewaffneten Widerstand«, nämlich der Song »The Partisan«, war damals ein wichtiger Teil seiner Setlist. Auch wenn er viele Jahre damit verbracht hatte, seinem stark religiösen und fest im jüdischen Gemeindeleben verankerten Elternhaus in Montreal zu entfliehen, ging er nun ins Heilige Land, um »Ägyptens Kanonenkugeln aufzuhalten«, wie er in seinen Aufzeichnungen festhält. Bekannten in Tel Aviv erklärte er, in einem Kibbuz arbeiten und bei der Ernte helfen zu wollen, um einem Kibbuznik zu ermöglichen, in den Krieg zu ziehen. Vielleicht aber war es bereits in Griechenland Cohens Plan, mit der Gi­tarre an die Front zu ziehen und die Soldaten mit dem zu unterstützen, was er anzubieten hatte: seine Musik.

Leonard Cohen war zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, lebte mit Suzanne Elrod und ihrem gemeinsame Sohn Adam auf der griechischen Insel Hydra und steckte nach drei erfolgreichen Alben in einer Schaffens­krise. Der Presse gegenüber hatte er sogar angedeutet, sich aus dem Musikbusiness zurückziehen zu wollen. »Ich wünsche allen in der ›Rockszene‹ gutes Gelingen. Aber ich will kein Teil davon sein. Ich habe Lieder im Kopf, aber ich weiß nicht, wie ich sie niederschreiben kann. Wie auch immer, ich bin raus«, sagte Cohen dem Melody Maker.

Friedman rekonstruiert in seinem Buch die Tour Cohens von Stützpunkt zu Stützpunkt der israelischen Armee auf Grundlage von Interviews mit ehemali­­gen Soldatinnen und Soldaten, Zeitungsartikeln sowie dem unveröffentlichten Bericht des Musikers.

Doch seine Erlebnisse in Israel haben das mögliche Karriereende abgewendet und im Gegenteil den bis über seinen Tod 2016 hinausreichenden Welterfolg erst möglich gemacht. Diese These stellt zumindest der in Kanada geborene und in Jerusalem lebende Journalist und Autor Matti Friedman in seinem soeben auf deutsch erschienenen Buch »Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens« auf.

»Einige der Männer, die auf dem sandigen Boden sitzen, schauen zu dem Besucher mit der Gitarre auf«, schreibt Friedman in seinem Buch, das sich der Reise des Musikers nach Israel widmet. »Der Besucher, der in Khaki gekleidet ist, ist Leonard Cohen. Für jemanden, der im Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 am äußersten Rand der Sinai-Front steht, ergibt das wenig Sinn. Es ist noch nicht lange her, dass Cohen auf dem Isle-of-Wight-Festival vor einer halben Million Menschen spielte. Hier sind es ein paar Dutzend.«

So wie sich dieser Krieg tief in die kollektive Erinnerung Israels eingebrannt hat, wurden auch die Konzerte und viel stärker noch die Begegnungen mit dem Land im Kriegszustand und den Menschen, die um es kämpften, für Cohen zu einer lebensverändernden Erfahrung, zu einer »Wiedergeburt« des Künstlers, so Friedman. Der Autor rekonstruiert in seinem Buch die Tour Cohens von Stützpunkt zu Stützpunkt der israelischen Armee auf Grundlage von Interviews mit ehemaligen Soldatinnen und Soldaten, Zeitungsartikeln sowie dem unveröffentlichten Bericht des Musikers über seine Zeit in Israel, der erst vor wenigen Jahren in einer kanadischen Universitätsbib­liothek aufgetaucht ist und in »Wer durch Feuer« in großen Teilen erstmals gedruckt vorliegt.

Insbesondere diese literarischen Reflexionen Cohens sind aufschlussreich, gehören sie doch mit zu seinen direktesten Auseinandersetzungen mit seinem jüdischen Hintergrund und seinem Verhältnis zum Staat Israel, seiner »mythischen Heimat«, wie er das Land bezeichnete: »Wir waren der Schild, die Männer, die verteidigten. Mein Haus, sein Haus. Mein Land, sein Land.«

Friedman eröffnet sein Buch mit einem Kapitel über die Radarstation 528 bei Sharm al-Sheikh aus der Perspektive der dort stationierten Soldatin Ruti Porper, für die der Yom-Kippur-Krieg am 6. Oktober um 13.51 Uhr begann – ohnehin ist das Buch auch eine wichtige Reflexion über die Geschichte dieses für das Land so traumatischen Kriegs, der zu seiner Vernichtung hätte führen können. »Artilleriegranaten bedeckten die israe­lische Seite des Suez­-Kanals und Tausende ägyptische Soldaten schwärmten übers Wasser. Ruti hörte die Sirenen vom Flugplatz, ein Geräusch, das jeder Israeli kennt: ein gedämpftes Brummen, das den Magen zusammenzieht und dann zwei oder drei Sekunden ansteigt, Zeit zum Luftholen lässt und zum Begreifen, dass etwas Schlimmes passiert ist, und um sich zu fragen, was es für einen selbst bedeuten wird.«

Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit. Israelische Soldaten während des Yom-Kippur-Kriegs

Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit. Israelische Soldaten während des Yom-Kippur-Kriegs

Bild:
IDF Spokesperson’s Unit / Wikimedia  / CC BY-SA 3.0

Obwohl sie sich nicht als religiös verstand, hatte die Soldatin am Vorabend von Yom Kippur ein Abend­gebet gesprochen und am 6. Oktober den Versöhnungstag begehen wollen. Teil dieses wichtigsten jüdischen Feiertags, an dem das gesamte öffentliche Leben stillsteht und ein den ganzen Tag währender Gottesdienst gefeiert wird, ist das Gebet Unetanneh Tokef, in dem mit gewaltvoller Symbolik Gottes Gericht beschrieben wird. »Wer wird leben und wer wird sterben, wer wird das Ende seiner Ta­ge erreichen und wer nicht, wer durch Wasser und wer durch Feuer, wer durch das Schwert und wer durch das wilde Tier, wer durch Hunger und wer durch Durst …«

»Who by fire, who by water / Who in the sunshine, who in the night time /Who by high ordeal, who by common trial«, hat Cohen nach seiner Rückkehr aus Israel in seinem Song »Who by Fire« gesungen. Das religiöse Motiv aufgreifend hat er es in die eigene Poesie zwischen Religion, Privatem, sexuellen und spirituellen Anspielungen einfließen lassen. An zahlreichen Beispielen wie diesem macht Friedman deutlich, wie tief sich die Erfahrungen des Kriegs gegen seine »mythische Heimat« in die Struktur seiner Songs eingebrannt haben.

Auch Ruti begegnen die Leser bei Friedman wieder: Am 20. Oktober spielte Cohen auf der Radarstation 528 bei Sharm al-Sheikh, die zwei Wochen zuvor von ägyptischen Raketen getroffen worden war. »Ein Sänger, dessen Themen die menschliche Unvollkommenheit, die Vergänglichkeit und die kurzen Freuden sind, die einem die Nacht versüßen können, spielte vor Menschen, für die das keine in der Luft schwebenden Abstrak­tionen waren«, fasst Friedman die ambivalenten Gefühle des Publikums zusammen. »Sie wussten, dass der Tod auf sie wartete, wenn das Konzert zu Ende war. Er spielte für sie in dem Wissen, dass es das letzte sein könnte, was sie hören.«

Es war nichts Neues, dass ein Musiker mit seiner Kunst in den Krieg zog, um die kämpfenden Soldaten moralisch zu unterstützen. 1968 war James Brown in Vietnam für US-amerikanische Soldaten auf Tour von Flugplatz zu Flugplatz gegangen, Johnny Cash und June Carter traten im Jahr darauf für einige Wochen auf dem Luftwaffenstützpunkt Long Binh auf. Aber insbesondere in der Geschichte Israels hat diese Form der Unterstützung der kämpfenden Truppen eine Tradition. »Wenn die Kämpfe beginnen«, schreibt Friedman, »tauchen die Sänger des Landes auf, um zu spielen – es wird als Pflicht eines erfolgreichen Musikers angesehen, als eine Art Steuer, die man dafür zahlt, dass man nicht selbst kämpft. Die Kunst, die Künstler und die Armee sind miteinander ver­woben.«

Ob Cohen diese Form der künstlerischen Intervention kannte oder er tatsächlich nach Israel gekommen war, um im Kibbuz zu arbeiten, kann auch Friedman nicht aufklären; es spielt für die Geschichte der Wiedergeburt Cohens, die er erzählen möchte, jedoch keine zentrale Rolle. Cohen wird »in das improvisierte Musikkorps aufgenommen, das die israelische Armee seit dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 in jede Schlacht begleitet«. Wie viele Konzerte Cohen spielte, ist nicht mehr zu rekonstruieren, denn anders als bei Johnny Cash oder James Brown war die Tournee kein Teil der Inszenierung der eigenen Künstleridentität oder einer Marketingstrategie. Im Gegenteil wird in den Erinnerungen der Soldaten deutlich, dass Cohen sich nicht in den Mittelpunkt gestellt hat. Er hat gemeinsam mit lokalen Musikern musiziert, mit den Soldaten in Sammelunterkünften übernachtet und nach seiner Rückkehr nicht versucht, Profit in aus seinen Erfahrungen zu schlagen. Mit der Presse hat er über die Konzerte gar nicht gesprochen.

Nach dem Krieg. Cohen 1974 in der Zeit, als sein Album »New Skin for the Old Ceremony« erschien

Nach dem Krieg. Cohen 1974 in der Zeit, als sein Album »New Skin for the Old Ceremony« erschien

Bild:
picture alliance / Avalon / Retna / Michael Putland

Für ihn stand Wichtigeres im Mittelpunkt: Er hatte zurück zum Schrei­ben von Songs gefunden. Aus dem Notizheft, das er bei sich trug, wird deutlich, dass er bereits nach dem ersten Auftritt auf dem Fliegerhorst Hatzor einen Song schrieb, der zu einem seiner bekanntesten werden sollte: »Lover Lover Lover« mit den berühmte Zeilen: »And may the spirit of this song /May it rise up pure and free/May it be a shield for you/A shield against the enemy«.

Eine später gestrichene Strophe des Songs, die sich sehr konkret auf seine Erfahrungen in Israel bezog und die er dort bei seinen Konzerten vortrug, hat Friedman in den Aufzeichnungen des Musikers entdeckt. Dort heißt es in der deutschen Übersetzung: »Ich ging hinunter in die Wüste / Um meinen Brüdern beim Kampf zu helfen / Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht waren / Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren /Aber Knochen müssen aufrecht stehen und gehen / Und Blut muss sich bewegen / Und Männer gehen und ziehen hässliche Linien / Über den heiligen Boden«. Was hier noch konkret benannt ist, die Wüste, der Kampf und das Blut, überführte Cohen später in abstraktere Zeilen, die Erfahrung jedoch, mit Songs zu einem »shield against the enemy« beitragen zu wollen, ist erhalten geblieben.

Das 1974 veröffentlichte Album »New Skin for the Old Ceremony«, das neben den Songs »Lover Lover Lover« und »Who by Fire« auch »Field Commander Cohen«, »There Is a War« und »A Singer Must Die« enthält, ist, ohne konkret auf den Yom-Kippur-Krieg oder Israel einzugehen, zutiefst geprägt von den Themen Vergänglichkeit, Tod und Krieg. Ob einzig die existentielle Erfahrung, in der Wüste mit israelischen Soldaten eine solch intensive Zeit verbracht zu haben und auf das eigenen Jüdischsein zurückgeworfen zu sein, für die Entscheidung ausschlaggebend war, die Karriere als Musiker weiterzuführen, wie Friedman nahelegt, lässt sich nicht letztgültig klären.

Sicher ist jedoch, dass Cohen in Israel einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat: »Dass die Israelis Cohen immer als eine Art Israeli betrachteten, liegt nicht nur daran, dass er Jude war. Es gibt viele jüdische Künstler, aber fast keinen mit diesem Status. Es liegt, zumindest teilweise, an der Erinnerung daran, dass Cohen in einem der dunkelsten Momente dieses Landes herbeigeeilt ist. Das musste er nicht, und nur wenige andere taten es.«


Buchcover

Matti Friedman: Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt ­Leonard Cohens. Aus dem Englischen von Malte Gerken. Hentrich und Hentrich, ­Berlin / Leipzig 2023, 204 Seiten, 22 Euro