Der Schock von Dublin
London. Es geschah mittags um halb zwei. Ende November kam es vor einer Grundschule in der irischen Hauptstadt Dublin zu einer Messerattacke, bei der drei Kinder und eine schulische Mitarbeiterin, die versuchte, die Kinder zu schützen, verletzt wurden. Eines der Kinder, das besonders schwer verwundet wurde, schwebt weiter in Lebensgefahr. Einige Passanten, darunter ein Brasilianer und ein Franzose, griffen ein und es gelang ihnen, den Angreifer zu überwältigen, noch bevor die Polizei an Ort und Stelle war.
Der mutmaßliche Täter, dessen Motive nach wie vor nicht bekannt sind, hat einen migrantischen Hintergrund, war allerdings bereits vor 20 Jahren eingebürgert worden. Er lebte in einer Obdachlosenunterkunft und stand bereits im Sommer wegen Sachbeschädigung und Messerbesitzes vor Gericht. Im Zusammenhang mit dem Messerangriff wurde niemand sonst festgenommen, die Polizei geht davon aus, dass es keine weiteren Tatbeteiligten gab.
Infolge der Attacke kam es noch am selben Tag und in der Nacht zu schweren Ausschreitungen im Zentrum von Dublin, an denen bis zu 500 hauptsächlich junge Männer teilnahmen. Mehrere Autos, Busse und Straßenbahnen wurden in Brand gesetzt und einige Dutzend Polizisten verletzt. Auch Plünderungen fanden statt.
Der Mob war aufgrund von falschen Gerüchten in den sozialen Medien zusammengekommen, wonach die Messerattacke von einem Flüchtling oder Asylsuchenden begannen worden sei, ein islamistisches Motiv habe und die Opfer getötet worden seien.
Der Mob war aufgrund von falschen Gerüchten in den sozialen Medien zusammengekommen, wonach die Messerattacke von einem Flüchtling oder Asylsuchenden begannen worden sei, ein islamistisches Motiv habe und die Opfer getötet worden seien. Rechte Netzwerke riefen dann in sozialen Medien gezielt dazu auf, sich in der Innenstadt Dublins zu versammeln, »to make your feelings known«, und nutzten dabei Hashtags wie #irlandisfull, die Rechtsextreme in Irland seit Jahren verwenden.
Bisher sind die Aktivitäten dieser wachsenden Szene indes wenig beachtet worden, auch nicht von den Ordnungskräften und führenden Politikern, die sich nach den Unruhen erschüttert zeigten. Ministerpräsident Leo Varadkar sagte, die an den Riots Beteiligten hätten Schande über Irland gebracht und seien nicht von Patriotismus, sondern nur von Hass motiviert. Varadkar und Justiz- und Polizeiministerin Helen McEntee, die beide der liberal-konservativen Partei Fine Gael angehören, kündigten ein hartes juristisches Vorgehen gegen die Randalierer an.
Die Sprecherin der oppositionellen irisch-nationalistischen Partei Sinn Féin, Mary Lou McDonald, warf der Regierung vor, die Gefahren von rechts unterschätzt zu haben, und forderte den Rücktritt von McEntee und Polizeipräsident Drew Harris, eine Forderung, der sich Abgeordnete der beiden sozialdemokratischen Parteien anschlossen, der Social Democrats und der Labour-Partei; beide sind nur mit wenigen Abgeordneten im Unterhaus vertreten.
2019 wurden mehrere als Flüchtlingsunterkünfte genutzte Hotels in Brand gesteckt, im Januar 2023 folgte einer Serie von lokalen Protesten vor Flüchtlingsunterkünften eine Demonstration in Dublin.
In Irland hat die rechtsextreme Mobilisierung seit einigen Jahren immer wieder zu Übergriffen geführt. 2019 wurden mehrere als Flüchtlingsunterkünfte genutzte Hotels in Brand gesteckt, im Januar 2023 folgte einer Serie von lokalen Protesten vor Flüchtlingsunterkünften eine Demonstration in Dublin, die circa 350 Teilnehmer anzog. Die Agitation gegen Zuwanderer betreiben Kleingruppen und rechte Influencer; auch Michael Leahy, der Vorsitzende der 2018 gegründeten extrem rechten Kleinpartei Irish Freedom Party, spielt eine wichtige Rolle.
Im September kam es dann zu einer Blockade des irischen Parlaments. 200 rechtsextreme Demonstranten hatten sich vor dem Parlamentssitz versammelt und einen Galgen aufgestellt. Sie traten sehr aggressiv auf und einige Abgeordnete, darunter McDonald, steckten für einige Zeit auf einem Parkplatz des Parlaments fest. Die Agitation nimmt auch auf lokaler Ebene zu, vor allem gegen Flüchtlingsunterkünfte in Dörfern und Kleinstädten.
Steigende Flüchtlingszahlen und eklatanter Wohnungsmangel befeuern die Proteste. Irland hat im vorigen Jahr fast 100.000 Flüchtlinge aufgenommen, zwei Drittel von ihnen aus der Ukraine; 2021 waren es lediglich 25.000 gewesen. Bereits in diesem Frühjahr waren der irischen Aufnahmebehörde die Unterkünfte ausgegangen und Flüchtlinge mussten in Zelten übernachten, teilweise mitten in Dublin. Auch in der vorigen Woche, mitten im Winter, griff die Behörde wieder auf diese angebliche Notlösung zurück. Irische Politiker erklären die Schwierigkeiten, Unterkünfte zu finden, mit dem allgemeinen Wohnungsmangel.
Während das Land ökonomisch und in der Einwohnerzahl gewachsen ist, hat der Staat nur sehr selektiv sozial investiert.
Dieses Problem besteht indes seit Jahren. Nach Schätzungen der Regierung fehlen 250.000 Wohnungen, vor allem für niedrigere Einkommen erschwingliche. Die irische Regierung hat versprochen, über 30.000 Wohnungen im Jahr zu bauen, und selbst dieses magere Ziel wird kaum erreicht. Der Mangel an Wohnraum ist besonders akut für jüngere Menschen, die sich kein Wohneigentum leisten können, aber auch die horrenden Mieten nicht aufzubringen vermögen.
All das ist nicht zuletzt Folge des rasanten Wachstums der irischen Wirtschaft in den vergangenen Dekaden. Der sogenannte Irische Tiger erzielte im Durchschnitt drei Prozent Wachstum jährlich. Der Staat erwirtschaftet seit Jahren Überschusshaushalte, oft durch satte Einnahmen vor allem bei der Körperschaftssteuer. Deren Sätze hat die irische Regierung, nicht zuletzt zum Ärger von EU-Partnern, so niedrig gehalten, dass viele transnationale Unternehmen Irland für ihren Hauptsitz im EU-Raum gewählt haben.
Mit dem Dauerboom kam die Nachfrage nach Arbeitskraft. Bis 1990 war Irland jahrhundertelang ein Auswanderungsland, doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Trend umgekehrt. In Irland ist mittlerweile jeder fünfte Bürger im Ausland geboren. Während das Land ökonomisch und in der Einwohnerzahl gewachsen ist, hat der Staat nur sehr selektiv sozial investiert. Im Wohnungsbau, wie in vielen anderen Bereichen, überließ man alles dem Markt, mit den heutzutage sichtbaren Folgen, die sich Rechtsextreme mit Slogans wie #irlandisfull zunutze machen.