Igor Kotschetkow, Publizist, im Gespräch über das russische Verbot der »internationalen LGBT-Bewegung«

»Das Urteil liefert die formale Basis für die Staatsideologie«

Am 30. November kam das Oberste Gericht einer Klage des russischen Justizministeriums nach und verbot die »internationale LGBT-Bewegung« wegen Extremismus. Am 10. Januar soll das Urteil in Kraft treten. Ein Gespräch mit Igor Kotschetkow, einem der Gründer der NGO Russisches LGBT-Netzwerk.
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Das Oberste Gericht hat die »internationale LGBT-Bewegung« verboten. Können Sie sagen, was genau verboten wurde?
Nein, das kann ich nicht. Niemand weiß das. Das Verfahren an sich ist illegitim, denn nach geltendem Recht muss auch die Seite des Beklagten daran beteiligt sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Kläger, das russische Justizministerium, hat sich die beklagte Organisation ausgedacht. Alle Versuche queerer Aktivist:innen, eine Beteiligung durchzusetzen, sind gescheitert, auch meine. Wir waren bereit zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Ministerium, doch alle haben eine identische Absage bekommen: Unsere Rechte und Pflichten hätten nichts mit den Rechten und Pflichten des Beklagten gemein. Dem ist tatsächlich so, schließlich gibt es den Beklagten nicht. Wir haben sogar extra eine Organisation mit dem Namen »Internationale LGBT-Bewegung« gegründet, das Gericht hat auf unsere Anfrage, dem Prozess beizuwohnen, allerdings nicht reagiert.

Was hat das letztlich gebracht?
Durch unser Vorgehen haben wir deutlich gemacht, dass dem Urteil die Rechtsgrundlage fehlt. Das vorsätzliche Verhängen falscher Urteile stellt einen Straftatbestand dar. Man muss also nicht einmal über den Inhalt der Klage sprechen, zumal wir diesen nicht kennen.

Was können Sie mit dieser Erkenntnis anfangen?
Vor allem ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit Bescheid weiß. Selbst in Russland sollte niemand davon ausgehen können, dass es wirklich so eine Organisation gibt, wie sie das Gericht verboten hat. Das Gericht war ja gar nicht daran interessiert, über reale Vorwürfe gegen reale Personen zu verhandeln. Natürlich werden wir das Urteil anfechten und alle uns zur Verfügung stehenden Mittel dafür einsetzen, wenngleich die Erfolgschancen gering sind. Aber in unserer Lage müssen wir jede noch so geringe Chance nutzen.

Sie sprachen von der Notwendigkeit, die Öffentlichkeit über den illegitimen Charakter des Urteils zu informieren. Die staatlichen Medien haben die Urteilsverkündung aber größtenteils ignoriert – wie ist das zu erklären?
Dass sie sich bewusst sind, wie wenig glaubwürdig die Geschichte sogar für ihr Stammpublikum ist. Als das Justizministerium am 17. November die Klage bekanntgegeben hatte, gab es Reportagen bei den großen Fernsehsendern. Zum Urteil schweigen sie. Würden sie es an die große Glocke hängen, könnte es sein, dass die Bürger:innen anfangen, es zu hinterfragen, und sich aus anderen Quellen darüber informieren.

Nach der Entkriminalisierung homosexueller Beziehungen Anfang der neunziger Jahre hatte sich in Russland kaum jemand für die sexuelle Orientierung von Menschen interessiert, solange es nicht um die Frage von Rechten wie beispielsweise bei Adoption oder Erbschaften ging. Wie hat sich aus Ihrer Perspektive die Haltung zu queeren Menschen entwickelt?
Es ergibt keinen Sinn, das jüngste Urteil als Zeichen für eine Rückkehr zur Verbotspraxis in der Sowjetunion zu interpretieren. Im vorliegenden Fall werden Menschen nicht für ihre sexuelle Orientierung verfolgt, sondern dafür, dass sie eine von der offiziellen Staatsideologie abweichende Meinung vertreten und sich für die Rechte von LGBT einsetzen. Zu Sowjetzeiten gab es so etwas nicht. Derzeit handelt es sich um die Bekämpfung von Andersdenkenden und von jeder Form bürgerlichen Engagements, das der Staat nicht kontrollieren kann.

»Natürlich werden wir das Urteil anfechten, wenngleich die Erfolgschancen gering sind. In unserer Lage müssen wir jede noch so geringe Chance nutzen.«

Wir beobachten den Übergang von einer populistischen Autokratie, wie das Modell von Präsident Wladimir Putin noch vor einigen Jahren funktionierte, zu einem totalitären Regime, das eine Staatsideologie voraussetzt – die »russische Welt« und traditionelle Werte. Wer das nicht akzeptiert, macht sich strafbar. Das Urteil des Obersten Gerichts liefert dafür die formale ­Basis.

Gab es so etwas wie einen point of no return?
Schon 2002 gab es Ansätze, homosexuelle Beziehungen zu kriminalisieren. Damals sprach sich die Duma dagegen aus. Aber im Hintergrund verbreitete sich die Idee von besonderen russischen Wertvorstellungen, die es zu bewahren gelte. 2013 kam als Konsequenz aus Massenprotesten gegen unfaire Wahlen ein Verbot »homosexueller Propaganda« unter Minderjährigen. Es war der Versuch, die bis dahin geeint auftretende Opposition zu spalten, denn in Bezug auf das Verhältnis zu queeren Menschen ließen sich tiefgreifende Differenzen zwischen russischen Nationalist:innen und der liberalen Opposition erkennen.
Seit der von Putin unterschriebenen neuen Sicherheitsstrategie 2021 befinden wir uns in einer anderen Phase. Darin hieß es erstmals, dass Ansichten, die traditionellen Werten widersprechen, eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen. Gleichzeitig wurden queere Aktivist:innen massenweise zu »ausländischen Agenten« erklärt. Im Folgejahr wurde per Gerichtsbeschluss eine der größten LGBT-Organisationen des Landes aufgelöst, die gemeinnützige Stiftung Sfera, die, so die Begründung, staatlichen Interessen zuwiderhandle. Das Ziel des jüngsten Urteils ist es, jegliche Form von queerem Aktivismus für illegal zu erklären.

Warum kam es denn gerade zum jetzigen Zeitpunkt zu dem Urteil?
Vor einem Jahr wurde »homosexuelle Propaganda« verboten, dieses Jahr Geschlechtsangleichung. Das steht in direktem Zusammenhang mit Russlands Krieg. Die Begründung lautet, Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine – sie gilt nur als Faustpfand westlicher Staaten –, sondern gegen »den Westen« an sich, der bestrebt sei, Russland zu schwächen, und deshalb seine queere Ideologie in Russland durchsetze. Seit Kriegsbeginn ist das ein Dauerthema in Putins Reden.

Wie nimmt die russische Bevölkerung diese Botschaft auf?
Die Bevölkerung ist divers und es gibt dazu keine einheitliche Auffassung. Solche Botschaften richten sich an die Bürokratie und diejenigen, die dem Regime gegenüber loyal gesinnt sind. Der Staatsführung ist egal, was der Rest der Bevölkerung darüber denkt, wichtig ist, dass die Beamten ihre Vorgaben befolgen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Putin und sein Umfeld glauben, die Bevölkerung sei homophob eingestellt.

Unter Juristinnen und Menschenrechtlern vermuten einige, das Urteil richte sich in erster Linie gegen queere Aktivist:innen, andere hingegen sind überzeugt, dass es eine wesentlich größere Reichweite entwickeln werde. Razzien in Clubs, in denen sich die queere Szene trifft, fanden bereits statt. Wie schätzen Sie die Folgen ein?
Niemand hat die Urteilsbegründung gesehen, also wäre es vorschnell, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Seit vielen Jahren gibt es aber eine Gesetzgebung gegen Extremismus und dementsprechend auch praktische Erfahrungen. Es gibt Fälle, da landen Menschen im Gefängnis, weil sie auf den Regimegegner Aleksej Nawalnyj verwiesen oder an ihn, dessen verbotene NGO Antikorruptionsfonds (FBK) als extremistisch gilt, gespendet haben. Der US-Internetkonzern Meta, der ­Facebook und Instagram betreibt, ist in Russland als extremistisch verboten, aber die Nutzer:innen tangiert das bislang nicht.

»Für massenhafte Repressalien gibt es nicht genug Ressourcen, aber zur Abschreckung reicht das Verbot völlig aus – zumal es alle treffen kann, unabhängig von der sexuellen Orientierung.«

In Bezug auf LGBT werden die Konsequenzen wohl härter ausfallen. Razzien der Polizei in Clubs gab es in Moskau und Sankt Petersburg schon immer, die jüngsten zeigen vor allem, dass sie denken, irgendwie auf das Verbot reagieren zu müssen – und außer Gay Pride und Gay-Clubs wissen sie nichts über die Szene.
Es wird einige demonstrative Strafverfahren gegen bekannte queere Aktivist:innen geben, beispielsweise mich, weil mein Name in den Fernsehreportagen vom 17. November an erster Stelle genannt wurde. Es wird auch zufällige Opfer geben, weil sich irgendwo in der Provinz die Polizei auf die Suche nach vermeintlichen queeren Extre­mist:innen macht. Für massenhafte Repressalien gibt es nicht genug Ressourcen, aber zur Abschreckung reicht das Verbot völlig aus – zumal es alle treffen kann, unabhängig von der sexuellen Orientierung.

Organisationen, die queeren Leuten die Ausreise ermöglichen, ­vermelden jetzt schon eine enorme Zunahme an Anfragen. Ist das die beste Option im Moment?
Der Wunsch nach Emigration als Reaktion auf repressive Maßnahmen kam auch in der Vergangenheit regelmäßig auf. Wie viele Menschen emigrieren, lässt sich nicht voraussagen, aber ich denke nicht, dass es sehr viele sein werden. Es kostet Geld, es besteht das Risiko, soziale Kontakte zu verlieren. Natürlich gibt es jene, die einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, eventuell nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bestraft zu werden. Die sollten das Land verlassen.

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Igor Kotschetkow ist Publizist und ein russischer Verfechter der Rechte von Homosexuellen. Er hat 2006 das Russische LGBT-Netzwerk mitgegründet und bis 2020 geleitet, eine nichtstaatliche Menschenrechtsorganisation, die sich seit 2006 für die gesellschaftliche Akzeptanz und den Schutz der Rechte von LGBT-Personen in Russland einsetzt. Das Netzwerk fungiert als informelle Dachorgani­sation für regionale Gruppen, wurde 2021 von Russland als »ausländischer Agent« eingestuft und ist Mitglied der Inter­national Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association. Kotschetkow war aktiv in der Opposition gegen das russische Gesetz von 2013, das die »Propaganda des Homosexualismus« unter Minderjährigen verbot.