Direkte Aktion im Krieg
Kiew. Es ist ein dunkelgrauer Winterabend in Kiew, in einem kleinen Büro hat sich ein gutes Dutzend Studierender versammelt. Die Wände sind mit Zeichnungen des linken Künstlers David Tschitschkan verziert, auf denen er historische sowie heutige ukrainische Protagonisten porträtiert. Ein Bild zeigt Kämpfer im Donbass, die mit einer anarchistischen Flagge posieren. Im Wolkenhimmel hinter ihnen sieht man Nestor Machno, den Anarchistenanführer, dessen Armee ein Jahrhundert vorher in denselben Gegenden sowohl die Roten als auch die Weißen bekämpfte. Auf dem Treffen an diesem Abend geht es aber um alltäglichere Kämpfe.
»Wir sollten an der KNU Proteste organisieren«, plädiert ein langhaariger Mittzwanziger. Die KNU ist die Kiewer Staatliche Universität, an der er studiert. Die anderen Teilnehmenden sind von dem Vorschlag nicht ganz überzeugt. »Ich glaube nicht, dass es Potential für mehr als ein paar Dutzend Leute gibt«, meint einer. »Die Initiative zu ergreifen, ist natürlich im Grunde gut, aber Protest nur um des Protests willen ist der falsche Weg«, mischt sich ein Dritter ein. Die Debatte ist lebhaft, die Atmosphäre gut.
Auf der Versammlung wird unter anderem eine Zusammenarbeit mit einer feministischen Partnerorganisation besprochen und es gibt Gelächter über eine libertäre Studentenvereinigung, die man als eine Art ideologischen Gegner betrachtet.
»Lasst Anton sprechen, er hält schon seit Minuten die Hand hoch«, sagt der Sitzungsleiter an einer Stelle und zeigt auf einen Laptop, auf dem sich ein Teilnehmer per Videoschalte befindet. Auf dem Tisch stehen Teetassen und Bierdosen, ringsherum verstreut liegen Aufkleber mit Slogans wie »Nur vereint sind wir stark« und »Bildung ist ein Recht, kein Privileg«. In der Diskussion geht es um eine Entscheidung an der größten Universität der Ukraine, dass Studierende ihre Prüfungen an Ort und Stelle ablegen müssen, was besonders die benachteiligt, die kriegsbedingt aus der Ferne studieren.
Die an diesem Winterabend Versammelten gehören zu der syndikalistischen Studierendenvereinigung Prjama Dija (Direkte Aktion). Da die Organisation das Studium als Teil des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses betrachtet, bezeichnet sie sich selbst als Gewerkschaft. Nach etwa einer Viertelstunde erreicht die Versammlung Konsens darüber, die Protestpläne zunächst zu verschieben, und fährt mit der Tagesordnung fort. Es sind auch Studierende mehrerer anderer Universitäten vertreten und die Liste der Probleme ist lang.
Viele davon sind kriegsbedingt: Stipendien, die der Staat nicht mehr rechtzeitig auszuzahlen vermag, Schutzräume in heruntergekommenem Zustand und eiskalte Studentenwohnheime und Hörsäle, deren Fenster oder Heizungsanlagen durch russische Luftangriffe zerstört wurden.
Doch obwohl der Krieg immer präsent ist, gibt es auch andere Themen. Auf der Versammlung wird unter anderem eine Zusammenarbeit mit einer feministischen Partnerorganisation besprochen und es gibt Gelächter über eine libertäre Studentenvereinigung, die man als eine Art ideologischen Gegner betrachtet.
Prjama Dija hat eine lange, aber diskontinuierliche Geschichte. Bereits in den neunziger Jahren organisierten sich ukrainische Studierende mehrere Jahre lang unter diesem Namen. In den zehner Jahren erlebte die Gewerkschaft eine Wiedergeburt und sorgte während der Maidan-Revolution 2014 mit der Besetzung des ukrainischen Bildungsministeriums für Schlagzeilen, bevor sie erneut von der politischen Bühne verschwand. Um das Jahr 2016 folgte eine erneute, aber kurzlebige Phase der Aktivität.
Während ihres Bestehens hat Prjama Dija die Bedürfnisse Studierender und fortschrittliche Politik auf die Tagesordnung gesetzt. Aber eine vielleicht ebenso wichtige Funktion der Bewegung war ihre Rolle als politische Schule. Viele der heutzutage wichtigsten linken Intellektuellen und Aktivisten der Ukraine sind ehemalige Mitglieder von Prjama Dija. Man findet sie sowohl bei Sozialnyj Ruch, der prominentesten linken Organisation des Landes, beim Netzwerk Solidarity Collectives, das militärdienstleistende Gewerkschafter und linke Aktivisten mit Ausrüstung versorgt, sowie in der Redaktion des linken Theorie- und Debattenmagazins Spilne.
Prjama Dija zeigt, dass es auch in diesen Zeiten möglich ist, sich zu organisieren und Erfolge zu erringen.
Vor rund einem Jahr, im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen Mobilisierung, die Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine mit sich brachte, wurde Prjama Dija zum vierten Mal wiederbelebt. Artjom Remisowskij, Doktorand der Kulturwissenschaften an der Kiew-Mohyla-Akademie, der der Organisation im Sommer beigetreten ist, meint, die heutige Generation baue auf das von Vorgängergenerationen gelegte Fundament auf.
»Wir haben die Kontakte, die juristischen Strukturen, die politische Perspektive und die Organisationsprinzipien geerbt«, sagt er. Prjama Dija ist zwar derzeit keine Massenorganisation, seiner Ansicht nach aber dennoch unverzichtbar. »Die bestehenden Studentengewerkschaftsstrukturen werden häufig von der Universitätsleitung kontrolliert und nur wenige engagieren sich in ihnen.«
Nicht zuletzt zeigt Prjama Dija, dass es auch in diesen Zeiten möglich ist, sich zu organisieren und Erfolge zu erringen. Anders als viele glauben, sei Protest trotz des Kriegszustands nicht völlig verboten. »In den Regionen Kiew und Lwiw gibt es in Wirklichkeit zurzeit keine derartigen Beschränkungen, es ist lediglich erforderlich, die lokalen Behörden über geplante Aktionen zu informieren«, sagt Remisowskij.
Im November gelang es in Lwiw auf diesem Weg, einen seiner Meinung nach bedeutenden Sieg zu erringen. Dort hatte die berüchtigte Nationalistin und Philologieprofessorin Iryna Farion verlautbart, ukrainische Soldaten, die Russisch sprechen, seien keine echten Ukrainer. Nach einer Protestaktion, bei der die dortige Abteilung von Prjama Dija die treibende Kraft war, wurde Farion entlassen.