Sonja Viličić, Haver Srbija, im Gespräch über jüdisches Leben in Serbien

»Die jüdischen Gemeinden kämpfen um ihr Überleben«

Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel steigt auch in Serbien die Zahl judenfeindlicher Vorfälle, obwohl Antisemitismus dort bisher eher wenig verbreitet war. Ein Gespräch mit Sonja Viličić, der Geschäftsführerin der Organisation Haver Srbija, über Juden­verfolgung und jüdisches Leben in Serbien.
Interview Von

Im November vergangenen Jahres wurde das Bürogebäude von Haver in Belgrad mit antisemitischen Schriftzügen beschmiert: »Haver raus aus Serbien« und »Nieder mit dem Zionismus«. Ist mittlerweile ­bekannt, wer die Tat verübt hat?
Das wird derzeit noch untersucht. Was wir jedoch wissen: Die Täter kommen aus der Linken, höchstwahrscheinlich besteht eine Verbindung zur Jugend­organisation einer kommunistischen Partei. Aus Sicherheitsgründen mussten wir unser Büro in ein anderes Gebäude verlegen. Zu unserer neuen Realität gehören verriegelte Türen und eine Liste, in der jegliche Besucher vorgemerkt und dokumentiert werden. Die vergangenen Monate waren anstrengend und wir sind noch immer dabei, uns an diese neue Realität zu gewöhnen. Aber das wird uns nicht von unserer Arbeit abhalten – insbesondere weil wir überhaupt nichts mit der israelischen Regierung zu tun haben. Wir sind eine Friedensorganisation. Aber das interessiert die Leute nicht, die uns angreifen.

»Die Täter kommen aus der Linken, höchstwahrscheinlich besteht eine Verbindung zur Jugend­organisation einer kommunistischen Partei.«

Haver gilt als einzige jüdische NGO in Serbien. Wie kam es zu der Gründung?
Ich bin in einer jüdischen Gemeinde aufgewachsen und habe zeitweise in Ungarn gelebt. Dort lernte ich die gleichnamige NGO kennen, die sich gegen Antisemitismus einsetzte. Nachdem ich zurück nach Serbien gezogen war, half ich 2013 dabei, etwas Ähnliches aufzubauen. Wir stärken jüdische Gemeinden und bieten der Mehrheitsgesellschaft Bildungsveranstaltungen über jüdische Identitäten und Anti­semitismus an. Die jüdische Gemeinde in Serbien hat keine gute kulturelle und religiöse Infrastruktur. Es gibt zwei Synagogen und zwei Rabbis, aber keine jüdischen Schulen oder Kindergärten. Also gab es einen hohen Bedarf. Ein weiterer Grundpfeiler der Arbeit von Haver sind Bildungsangebote über den Holocaust in Serbien.

Im April 1941 griffen Deutschland und seine Verbündeten Italien, Ungarn und Bulgarien das Königreich Jugoslawien an, zerschlugen den Staat und besetzten das Land. Hinzu kam das faschistische Regime der Ustascha im kroatischen Vasallenstaat, das systematisch Juden, Roma und Serben verfolgte und ermor­dete. Ungefähr 14.500 serbische Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet. Wie steht es heute um das Gedenken im Land?
Das Schicksal der Juden hing stark davon ab, wer in ihrem Landesteil die Macht übernommen hatte. Die Mehrheit der serbischen Gesellschaft wi­dersetzte sich den Nazis, ob als kommunistische Partisanen oder königstreue Tschetniks. Dennoch kam es auch zu Kollaborationen.
Die serbische Regierung akzeptiert bis heute nicht den historischen Fakt, dass die Marionettenregierung in Belgrad mit den Nationalsozialisten kollaborierte, und dass aus diesem Grund Juden und Jüdinnen ermordet wurden.

Im Jahr 2015 wurde der einstige Tschnetik-Führer Dragoljub Mihai­lović posthum als »Antifaschist« ­rehabilitiert – trotz seiner Kollaboration mit den Nazis. Es scheint, als wolle man sich nicht mit der Mittäterschaft beschäftigen.
Immerhin ist seit zwei Jahren der Holocaust verpflichtender Bestandteil des Schulcurriculums und es kommt Bewegung in die Sache, seit Serbien Mitglied der International Holocaust Remem­brance Alliance geworden ist, die zwischenstaatliche Organisation, die ­Aufklärung über den Holocaust vorantreiben möchte.

Mehr als die Hälfte der serbischen Holocaust-Überlebenden emigrierte nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Israel. Wie wurden jüdische Gemeinden in Serbien wiederaufgebaut?
89 Prozent der serbischen Juden wurden ermordet. Es war schon immer eine kleine Community. Diejenigen, die geblieben sind, bauten jüdisches Leben in Serbien auch wieder auf. Heutzutage gibt es sechs jüdische Gemeinden. In Belgrad verschmolz die europäische, aschkenasische Community mit der der orientalischen Sepharden. Vor dem Krieg hatten sie verschiedene Synagogen, Waisenhäuser und Kulturzentren. Seit Kriegsende haben sie eine gemeinsame Gemeinde.

Jüdischer Friedhof in Belgrad

Jüdischer Friedhof in Belgrad

Bild:
Wikimedia / Mickey Mystique / CC BY-SA 4.0

Bis heute kämpfen die jüdischen Gemeinden zahlenmäßig um ihr Überleben. Als Jugoslawien zerfiel und Kriege ausbrachen, verließen viele Juden das Land. Sie wollten nicht kämpfen, schließlich bestand die Möglichkeit, gegen Juden in den Krieg zu ziehen, mit denen man aufgewachsen ist – die aber nun in einer anderen Republik lebten. Und auch heute noch verlassen viele junge Menschen aus sozioökonomischen Gründen Serbien. Die Gemeinden versuchen ihr Bestes – mit Hilfe jüdischer Vereine von außerhalb und auch durch die staatliche Entschädigung, die 2017 beschlossen wurde.

Serbien hat zugestimmt, Juden für ihr während des Holocausts ent­zogenes Eigentum zu entschädigen. Die Gelder gehen an jüdische Gemeinden, Holocaust-Überlebende und Organisationen, die jüdische Traditionen erhalten wollen – dar­unter Haver. Gibt es Projekte, die ­Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Wir hatten ein Kartographierungsprojekt in verschiedenen serbischen Städten: Teilnehmer sollten jüdisches Kulturerbe in diesen Städten kartieren und eine jüdische Tour entwickeln, insbesondere in den Orten, in denen es keine jüdische Community mehr gibt. Die Hälfte der Teilnehmer waren Lehrer. Sie machten das in ihrer Freizeit, forschten mit unserer Hilfe, entwickelten Touren und bieten sie mittlerweile auch an. Sie sehen den Wert dieses Themas und fühlen sich verantwortlich für die Pflege jüdischen Kulturerbes. Das ist ein riesiger Erfolg.

»Wir organisieren jedes Jahr ein israelisches LGBT-Kulturfestival, das queere Menschen in Belgrad mit israelischer und jüdischer Kultur zusammenbringt.«

Und wir organisieren jedes Jahr ein israelisches LGBT-Kulturfestival, das queere Menschen in Belgrad mit israelischer und jüdischer Kultur zusammenbringt, durch Filme, Panels, Ausstellungen und kulinarische israelische Spezialitäten. Ich hoffe, dass die Veranstaltung sowohl Menschen aus der liberalen queeren Community anspricht, die viele Vorurteile über Israel haben, als auch die hiesige jüdische Gemeinschaft, denn die ist teils ziemlich konservativ. Organisierte queere Juden gibt es bislang nicht in Serbien. Dieses Jahr wird die Veranstaltung wohl eine Herausforderung – weil sie »Israel« in ­ihrem Titel trägt.

Haver bietet auch in Schulen informelle Bildungsangebote zur jüdischen Kultur und Geschichte an. Wie ist die Atmosphäre dort, insbesondere seit den Geschehnissen des 7. Oktober?
Wir haben keine Bildungsveranstaltungen speziell zu dem Überfall der Hamas abgehalten. Ich hatte den Eindruck, es wäre zu viel für uns, mit diesem Thema in die Schulen zu gehen. Hinzu kommt, dass wir selbst trauerten. Ich habe viele Freunde in Israel, meine Kollegin hat dort eine Schwester. Meine persönliche Meinung ist: Ein jüdischer Staat muss existieren. Aber wenn wir verantwortungsvoll handeln möchten, dann müssen wir uns auch der Komplexität dieses Konflikts bewusst werden und den Schmerz wahrnehmen, der palästinensischen Menschen innerhalb der letzten 70 Jahre zugefügt wurde.
Einige Lehrer und auch Schulleiter kamen auf uns zu und verlangten von uns, nicht mehr über jüdische Kultur zu sprechen – sie dachten, wenn wir das Thema erweitern und allgemein über Diskriminierung und Minderheitenrechte sprechen, dann sei das »neutral«. Ich halte das für sehr problematisch. Dennoch ist es für uns wichtig, gerade in dieser Zeit, in Schulen präsent zu sein.

Im November 2023 organisierte ­Haver den »Peace Walk for Israel«. Wie lief die Organisation ab und wie war die Resonanz innerhalb der Gesellschaft?
Wir organisierten den Peace Walk direkt nach den Terroranschlägen des 7. Oktober. Die Lage in Gaza begann gerade, sich zu verschärfen. Wir wollten die israelischen Geiseln in den Mittelpunkt rücken – und den Frieden in ­Israel. Wir konzentrierten uns also nicht auf Gaza. Das war eine bewusste Entscheidung: Ich denke, dass Frieden in Israel auch Frieden in Gaza bringt.
Würde ich den Peace Walk zum jetzigen Zeitpunkt veranstalten, gäbe es ­sicherlich ein paar Änderungen. Aber damals hatte ich das Gefühl, dass alle den 7. Oktober sehr schnell vergaßen. Es wirkte, als hätten wir überhaupt nicht das Recht, die Opfer zu betrauern. Die ganze Organisation war sehr stressig, vor allem aufgrund der Sorgen um unsere Sicherheit. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, die jüdische Community hätte noch lauter sein können, auch wenn ich die Angst natürlich verstehe, weil es in der Öffentlichkeit war.
Die Veranstaltung fand auf einer der zentralen Straßen in der Stadtmitte statt. Aber am Ende lief es genauso ab, wie wir es uns gewünscht hatten. Es war eine ruhige, andächtige Atmosphäre. Kurz danach organisierten wir eine weitere Gedenkveranstaltung. Wir ­haben Bilder der Geiseln aufgehängt, gemeinsam mit ihren Geschichten, und ließen rote Luftballons fliegen. Dann geschah das, was zurzeit in ganz Europa passiert: Nachdem wir weg ­waren, ­kamen Leute und rissen die Plakate ab. Ich bin mir sicher, dass das nichts mit israelischer Politik zu tun hat. Das ist nur eine Entschuldigung, um noch mehr Schaden anzurichten und Schmerz zu verursachen. Es ergibt keinen Sinn: Menschen wurden entführt, vergewaltigt und ermordet – nennen wir es beim Namen!

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Sonja Viličić

Sonja Viličić

Bild:
privat

Sonja Viličić ist eine der Gründerinnen und Geschäftsführerin der NGO Haver Srbija in Belgrad. Deren Ziel ist es, die nichtjüdische Bevölkerung über die jüdische Kultur und die Geschichte der Shoah zu bilden, um so Vorurteilen und Diskriminierung entgegenzuwirken. Zuvor hat Viličić in der ungarischen Hauptstadt Budapest für das American Jewish Distribution Committee gearbeitet, unter anderem als Programmdirektorin des internationalen jüdischen Jugendcamps in Szarvas. Sie ist Absolventin des ­Senior Educators Program des Melton Center for Jewish Education an der Hebräischen Universität von Jeru­salem zur Weiterbildung jüdischer Pädagog:innen.