Die EU schaut bei der schlechten Behandlung von Migranten durch bulgarische Grenzbeamte weg

Beitritt um jeden Preis

Die EU scheint die unrechtmäßige Abschiebung von Migranten durch Bulgarien vor der Aufnahme des Landes in den Schengen-Raum absichtlich zu übersehen. Interne Dokumente der Grenzschutzagentur Frontex enthüllen systematische Misshandlung von Migranten durch bulgarische Grenzbeamte.

Ende März fallen für Rumänien und Bulgarien auf dem See- und Luftweg die Personenkontrollen beim Grenzübertritt in europäische Länder weg, die zum sogenannten Schengen-Raum gehören. Für die beiden Balkan-Staaten, die bereits seit 2007 Mitglieder der EU sind, stellt das einen Erfolg dar. Recherchen belegen indes, dass zumindest bei Bulgarien nicht so genau hingeschaut wurde, was Verletzungen der Menschenrechte betrifft, und es bei
der Aufnahme des Landes in den Schengen-Raum vor allem um die Absicherung der EU-Außengrenzen geht.

Seit Jahren ist Bulgarien ein Brennpunkt für Migrationsbewegungen, denn die geographische Lage an der Grenze zur Türkei macht das Land am Schwarzen Meer zu einem wichtigen Transitland für Geflüchtete, die tiefer in die EU wollen. Da das Mittelmeer als die gefährlichste Fluchtroute der Welt gilt, wählen viele Menschen den Weg über Land, oft nach Bulgarien.

Zwar gibt es dazu keine offiziellen Statistiken, aber im Januar veröffentlichte das bulgarische Innenministerium entsprechende Daten. Demnach hat die bulgarische Grenzpolizei im Jahr 2023 rund 180.000 illegale Einreiseversuche von Migrant:innen verhindert. In diesem Jahr seien es bereits 5.000 gewesen. Die bulgarischen Behörden werden durch die größte Landoperation der Grenzschutzagentur Frontex, »Operation Terra«, unterstützt, ab März soll die Anzahl der daran beteiligten Mitarbeiter um 500 bis 600 ergänzt werden, wie Hans Leijtens, der Leiter von Frontex, kürzlich mitteilte.

Immer wieder werden Menschen auf der Flucht gewaltsam in die Türkei zurückgeschickt, ohne zu prüfen, ob sie Asyl beantragen wollen. Eigentlich ist dieser Vorgang illegal.

Immer wieder werden Menschen auf der Flucht gewaltsam in die Türkei zurückgeschickt, ohne zu prüfen, ob sie Asyl beantragen wollen. Eigentlich ist dieser Vorgang illegal, da er gegen das Non-Refoulement-Gebot verstößt, den im Völkerrecht verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung. Leijtens, im Dezember 2022 zum Exekutivdirektor gewählt, hatte vor seinem Amtsantritt am 1.März versprochen, dass es in der EU zu keinen Pushbacks mehr kommen werde.

Seinem im April 2022 zurückgetretenen Vorgänger Fabrice Leggeri war vorgeworfen worden, solche vertuscht zu haben. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) stellte damals fest, dass innerhalb von Frontex Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen ignoriert wurden. Bei Pushbacks in der Ägäis habe es Anweisungen zum Wegschauen gegeben, zudem wurde illegales Verhalten von nationalen Grenzschutzbehörden verschleiert. Der zurückgetretene Leggeri kandidiert mittlerweile für die rechtsextreme Partei Rassemblement national in Frankreich bei den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament.

Ob sich an der unter ihm üblichen Praxis bei Frontex allerdings etwas geändert hat, ist fraglich. Einer Recherche der bulgarischen Journalistin Maria Cheresheva und des Forschers Luděk Stavinoha von der britischen University of East Anglia für das Balkan Investigative Reporting Network (BIRN) zufolge wurden besonders in Bezug auf Bulgarien konsequent Pushbacks ignoriert, die Frontex und der EU-Kommission eigentlich bekannt waren. Offensichtlich sollten die Chancen Bulgariens auf einen Beitritt zum Schengen-Raum nicht gefährdet werden. Dies belegen interne Dokumente, die anschau­liche Einzelheiten über mutmaßliche Brutalitäten enthalten, die von bulgarischen Grenzbeamten im Rahmen von Frontex-Einsätzen verübt wurden.

Auch nach der Übernahme von Frontex durch Leijtens gab es in Bulgarien gewalttätige Vorfälle. Die Menschenrechtsverletzungen waren der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, die nationale Regierungen der EU sowie EU-Institutionen in Menschenrechtsfragen berät, und der EU-Kommission offensichtlich bekannt. Demnach hatte der Frontex-Grundrechtsbeauftragte Jonas Grimheden seine Bedenken regelmäßig vor dem Frontex-Verwaltungsrat geäußert, an dem auch die Kommission beteiligt ist.

Für einige Menschen auf der Flucht endete die Reise durch Bulgarien tödlich. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre sind mindestens 93 Menschen auf der Flucht auf bulgarischem Boden gestorben, so die Erkenntnisse, die ein Recherchekollektiv mit Beteiligung des ARD-Studios Wien und Radio Free Europe/Radio Liberty Ende vorigen Jahres veröffentlichte. Die Mehrzahl stirbt an den Strapazen auf den langen Strecken, die die Migrant:innen zu Fuß über Berge und durch Wälder zurücklegen müssen, einige Flüchtende aber auch an den Folgen des Kontakts mit der bulgarischen Grenzpolizei.

Statt Menschenrechtsverletzungen vor dem Schengen-Beitritt Bulgariens zu skandalisieren, rief die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die EU-Länder im September 2023 dazu auf, Bulgarien und Rumänien unverzüglich in den Schengen-Raum aufzunehmen. Beide Länder streben diesen Beitritt seit mehr als einem Jahrzehnt an. Anfang vorigen Jahres hatten sie angeboten, ein Pilotprojekt zur Verhinderung »irregulärer Ankünfte« und zur Stärkung des Grenz- und Migrationsmanagements sowie beschleunigte Asylverfahren und die zügige Abschiebung der Abgelehnten durchzuführen. Bulgarien erhielt für die Umsetzung des Projekts 69,5 Millionen Euro. Mittlerweile gab die EU-Kommission bekannt, dass weitere Gelder für die Verstärkung und Modernisierung von bestehenden Grenzüberwachungssystemen an den EU-Außengrenzen sowie die Anschaffung von Transportmitteln oder Betriebsausrüstung an Bulgarien und Rumänien fließen werden.

Laut der im vergangenen Jahr beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) soll künftig innerhalb von sieben Tagen entschieden werden, ob eine Person direkt zurückgeschoben oder ins reguläre Asylverfahren überstellt wird.

Im Europäischen Parlament gibt es auch Kritik an dem Pilotprojekt. Die niederländische Abgeordnete Tineke Strik der Partei Groenlinks thematisierte kürzlich die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen. Strik ist Mitglied einer Gruppe im Europäischen Parlament, die mit der Überprüfung der Arbeit von Frontex beauftragt ist. Sie besuchte vor ein paar Tagen eine Einrichtung im Rahmen des EU-Pilotprojekts im kleinen bulgarischen Dorf Pastrogor an der Grenze zur Türkei, wo Asylsuchende seit März 2023 ein Schnellverfahren durchlaufen. Die hohen Mauern mit Kameras und Stacheldraht lassen den Komplex, der bereits 2012 aus EU-Mitteln gebaut worden war, wie ein Gefängnis erscheinen. Strik befürchtet, dass die Einrichtung als geschlossenes Lager genutzt werden könne.

Derartige Sorgen sind nicht unberechtigt. Laut der im vergangenen Jahr beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) soll künftig innerhalb von sieben Tagen entschieden werden, ob eine Person direkt zurückgeschoben oder ins reguläre Asylverfahren überstellt wird, nachdem sie im Grenzgebiet der EU aufgegriffen wurde. In dieser Zeit sollen »eine Identifizierung« der Person, »Gesundheits- und Sicherheitsüberprüfungen« sowie »die Abnahme von biometrischen Daten und die Registrierung in der Eurodac-Datenbank stattfinden«.

Das Identifizierungssystem European Dactyloscopy für Fingerabdrücke samt Datenabgleich wird eingesetzt, um zu verhindern, dass Geflüchtete in mehreren EU-Mitgliedstaaten Asyl beantragen. Zudem soll in dieser kurzen Zeit geprüft werden, ob die Person besonders schutzbedürftig oder Opfer von Folter geworden ist. Tatsächlich findet die Überprüfung unter der juristischen Fiktion statt, dass die Person noch nicht eingereist ist, obwohl sie sich bereits auf EU-Boden befindet. Derlei bietet beste Bedingungen, dass die derzeitige Praxis des Wegschauens an den Außengrenzen der EU weitergeht wie bisher.