Mittwoch, 19.07.2017 / 10:54 Uhr

Begegnung mit dem Bösen

Von
Amed Sherwan

Als Kind bin gerne in die Moschee gegangen. Besonders stimmungsvoll war es, früh morgens mit meinem Vater zum Gebet zu gehen. Doch mit 11 Jahren verwandelte die Moschee sich für mich von einem Ort der Geborgenheit zu einer Folterkammer.

Ich habe seit meiner Geburt eine Fehlstellung an den Beinen und kann deswegen nicht gut laufen. Das hat mich immer wieder insbesondere beim Sport und beim Spielen beeinträchtigt. Als meine Mutter mir deshalb eines Tages mitgeteilte, sie habe einen medizinischen Spezialisten gefunden, der mich heilen könne, freute ich mich und stieg nichtsahnend zu ihr und ihrem Onkel ins Auto.

Wenn es Allah gab und er ein allmächtiger Gott war – dann war es ganz sicher kein guter Gott.

Wir fuhren nach Kirkuk. Dort angekommen, hielten wir jedoch nicht wie erwartet an einem Krankenhaus, sondern bei einer Moschee. Meine Mutter sagte, sie wolle gerne vor der Behandlung beten, ich solle sie bitte begleiten. Ich hatte dabei ein ungutes Gefühl und weigerte mich, das Auto zu verlassen, doch mein Großonkel packte mich und brachte mich rein.

Beim Exorzisten

Außer mir waren noch vier weitere Kinder dort sowie einige Frauen, die in einem Nebenraum laut schrien und schluchzten. Dass es ein spezieller Exorzismustag war und so etwas dort regelmäßig stattfand, habe ich erst viel später verstanden. Aber mir war gleich klar, dass ich hier keinen medizinischen Spezialisten antreffen würde und meine Mutter mich unter einem Vorwand ins Auto gelockt hatte.

Meine Mutter dachte, dass ich von einem Djinn besessen sei. Im Gegensatz zu meinen beiden älteren Geschwistern und meinem jüngeren Bruder, die alle in der Schule erfolgreich und zu Hause brav waren, war ich oftmals schwierig und unkonzentriert. Der Onkel meiner Mutter hatte ihr deswegen geraten, den Dämon von dem Imam in Kirkuk – einem bekannten Exorzisten – austreiben zu lassen.

Ich bekam es mit der Angst und versuchte zu entkommen, aber der Imam packte mich schnell. Er war ein sehr großer Mann und ich ein sehr kleines Kind. Er brachte mich in einen Nebenraum und forderte, ich solle mich hinlegen. Als ich mich weigerte, kamen meine Mutter und mein Großonkel hinzu und zwangen mich nach unten. Der Imam setzte ein Knie auf meine Brust und stieß es immer wieder heftig nach unten. Ich spannte aus Angst und Schmerz dagegen an, während er sein Knie runterdrückte, auf mich einschlug und mich anschrie, ich solle den Dämon rauslassen. Zuletzt konnte ich nicht mehr gegenhalten und stieß laute Schreie aus.

Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich schreiend unter ihm auf dem Boden lag, bis er endlich zufrieden sagte: »Ah, der Djinn ist raus!« Er stellte mich auf und ich musste ihm in einen anderen Raum folgen. Er befahl mir dabei, endlich mit dem Weinen aufzuhören. Er zeigte dabei auf eine schwere Eisenkette und drohte mir, er wolle mich damit fesseln und ruhigstellen, wenn ich nicht endlich leise sei.

Als geheilt entlassen

Verängstigt und vollkommen leise folgte ich ihm in einen anderen Raum, er legte mich dort hin, deckte meinen Kopf mit einem Tuch mit heiliger Schrift zu und sprach allerlei Gebete über mich, bevor er mich meiner Mutter und meinem Großonkel als geheilt entlassen übergab. Den ganzen Rückweg im Auto habe ich geweint, meine Mutter aber wirkte beruhigt und zufrieden. Doch meine Probleme gingen nicht weg, in der Schule war es weiter schwierig, dafür war das Vertrauen in meine Eltern gebrochen.

Sieben Jahre später in Deutschland hat mir eine Psychiaterin nach zahlreichen Tests erklärt, dass ich ganz eindeutig seit meiner Kindheit an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leide. Seitdem ich die Diagnose kenne, verstehe ich, dass meine Mutter meinen Hilfebedarf damals erkannt hat. Doch in ihrer Welt gibt es für psychische Probleme keine anderen Erklärungen als die, von einem Dämon – ja im schlimmsten Fall von einem Teufel – besessen zu sein.

Nach dem Erlebnis bin ich vorerst weiter in die Moschee gegangen und habe meinen Glauben nicht in Frage gestellt. Erst als ich mit 14 den ersten islamkritischen Text las, konnte ich mein eigens Erlebnis wirklich zuordnen. Ich beobachtete meine Umwelt mit anderen Augen und erkannte immer mehr Böses um mich rum. Wenn es Allah gab und er ein allmächtiger Gott war – dann war es ganz sicher kein guter Gott.

Bei der Polizei angezeigt

Inzwischen weiß ich, dass Exorzismus auch in anderen Religionsgemeinschaften eine Rolle spielen und auch im Islam strittig sind. Aber nur der blinde Glaube meiner Mutter daran, dass alles, was in der Moschee im Namen Allahs passiert, richtig sein muss, konnte sie dazu bringen, gelassen zuzuschauen, während ihr Kind gefoltert wurde.

Drei Jahre später haben mich meine Eltern bei der Polizei dafür angezeigt, dass ich vom Glauben abgefallen sei. Wieder dachten sie, es sei ein notwendiges Übel – diesmal um mich von meinem Irrglauben zu befreien. Ich musste danach fliehen, weil ich mich in Lebensgefahr befand. Aber meine Eltern konnten und wollten mich auch nicht weiter als Teil der Familie sehen.

Inzwischen habe ich wieder Kontakt zu meinen Eltern. Ich verstehe, wie sehr sie Opfer ihren religiösen Vorstellungen sind. Die Angst vor Schande und Ehrverlust und der Respekt vor Autoritäten ist so groß, dass sie zu grausamsten Handlungen fähig werden – in dem Glauben damit das Richtige zu tun. Trotz allem, was sie mir angetan haben, liebe und vermisse ich meine Eltern. Aber ich verachte die Strukturen, in denen sie gefangen sind.

Über den Autor:

Bild entfernt.

Amed Sherwan wurde 1998 in Arbil, der Hauptstadt Irakisch-Kurdistans, geboren 16.10.1998 in Erbil als dritter von vier Geschwistern geboren. Im Herbst 2013 wurde er wegen Verbreitung von Atheismus inaftiert und mißhandelt. Danach floh er nach Deutschland. Die Jungle World berichtete über seine Erlebnisse in Flensburg.