Mittwoch, 13.06.2018 / 22:58 Uhr

Der Fall Ali B.: Rechtsstaat im Ausnahmezustand

Von
Gastbeitrag von Philip Thiée

Wenn es der irakischen Regierung nicht nur um de Ausübung ihrer Souvernität gegenüber den kurdischen Autonomiegebieten gehen würde, dann könnte man den Eindruck bekommen, dass sie der BRD ein Vorbild an Rechtstaatlichkeit bieten würde.

Im Ausnahmezustand geht es um die Entscheidung. Allein wer die unmittelbare Entscheidung trifft ist der Souverän.

Der oberste Beamte der Bundespolizei Dieter Romann, ein "Helden-Polizist" (Bild vom 10.06.2018), war höchst persönlich in der Lufthansamaschine, anwesend, als Ali B. aus Erbil im Nordirak, nach Deutschland abgeschoben wurde. Zu dieser Zeit arbeitete die Staatsanwaltschaft Wiesbaden noch an einem Rechtshilfeersuch, um dessen Auslieferung zu beantragen. Ali B. wird beschuldigt in Wiesbaden die 14 Jährige Susanna vergewaltigt und getötet zu haben. Er ist irakischer Staatsbürger und wartete in einer Unterkunft für Asylbewerber in Wiesbaden, nachdem sein Asylantrag von den Behörden abgelehnt worden war, wohl auf sein verwaltungsrechtliches Gerichtsverfahren. Nach seiner Rückkehr in den Irak wurde er unmittelbar von Peschmergaeinheiten festgenommen und circa 24 Stunden später an Dieter Romann und die deutsche Bundespolizei am Flughafen in Erbil übergeben, die ihn dann zurück nach Deutschland brachten. Am 13.06.2018 legte die irakische Regierung deshalb bei der Bundesregierung Protest ein, weil durch diese Übergabe die irakische Justiz übergangen worden sei. Was offensichtlich so ist.

Aber hat nicht eine aussergewöhnliche Tat des Bösen eine aussergewöhnliche Tat der Gerechtigkeit erfordert?

Heldenhafte Tat statt Gesetz

Dieses Vorgehen, der Entführung von Beschuldigten aus dem Nordirak, gab es bisher nur einmal. Das war 2008 bei der Festnahme der Goldräuber um den Gangsterrapper Xatar, der zusammen mit irakischen Staatsbürgern, nach einem Besuch eines Mitarbeiters des Entwicklungsministeriums in Erbil  -trotz einer laufenden justizellen Prüfung einer Auslieferung an Deutschland - durch den kurdischen Asayisch aus dem laufenden Verfahren im Irak heraus einfach abgeschoben wurde. Damals fühlte sich der deutsche Staat herausgefordert, weil ein paar Migranten ohne Waffen, nur mit falschen Polizeiuniformen und einer vorgespielten Hausdurchsuchung wegen Steuerschulden einem Goldhändler Waren im Wert von 1,7 Millionen Euro abnahmen. Für die Behörden ging es damals um ihren Ruf - also ums Ganze. Im Gegensatz zu Ali B. konnten sich die Goldräuber einer gewissen Schadenfreude in Teilen der Bevölkerung sicher sein. Bei Ali B. geht es um mehr als nur um die Ehre der Polizei. Dies lässt die Tat des Ausnahmezustandes umso gerechter erscheinen. Für die Umgehung der ausländischen Justiz muss man sich jetzt schon gar nicht mehr schämen, man kann sie feiern.

Wahrscheinlich hat auch Dieter Romann sich 2018 gedacht: Hier hilft nicht das Gesetz, sondern die heldenhafte Tat und persönliche Verbindungen. Das sei man der Familie schuldig, bekundete er später. Zu Dokumentationszwecken packte er einen Bildreporter ins Flugzeug und flog los, während in den Wiesbadener Amtsstuben noch Anträge mit ungewissem Ausgang entworfen wurden und im Irak noch nicht einmal ein juristisches Verfahren begonnen hatte. Wenig später wurde der Mörder in einem weissen Overall in Deutschland abgeführt.

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Ausnahmezustand

Der Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Das Gesetz tritt dann zurück, wie es der nicht ganz dumme, aber das Recht verachtende Nazijurist Carl Schmitt in seiner Wortgewalt festgestellt hat. Im Ausnahmezustand geht es um die Entscheidung. Allein wer die unmittelbare Entscheidung trifft ist der Souverän. Und ein solcher Ausnahmezustand liegt wohl vor, wenn eine Jugendliche von einem Flüchtling getötet wird. Bei der Strafverfolgung zählen dann wohl weder die Strafprozessordnung, das Internationale Rechtshilfegesetz und schon garnicht die irakische Verfassug. Angesichts des Schreckens, den das in Frage stehende Delikt verbreitet, erscheint der Hinweis, dass genau für diese Ausnahmefälle im Leben Einzelner nach dem Strafgesetzbuch für den Staat die allgemeinen Regeln nach den §§ 211 ff. des StGB gelten und es sich daher gerade nicht um einen Ausnahmefall für die Staatsgewalt handelt, als romantischer Verweis auf eine angebliche Willkommenskultur. Denn die hat 2015 angeblich dem Chaos Tür und Tor geöffnet. Dass schwerste Verbrechen zwar für die Betroffenen in ihrem Leben schlimme Ausnahmefälle sind, für eine Gesellschaft von 80 Millionen Menschen aber nicht, erscheint in der Vermischung von realem individuellem Leide mit neurotischer kollektiver Furcht öffentlich kaum noch vermittelbar. Wenn dann noch Fremde unsere Frauen umbringen ist es ganz vorbei. Wazu dann noch Rechtstaat?

Auch der Hinweis darauf, dass es etwas seltsam erscheint, dass ein vielleicht Heranwachsender, der mit einem der schwersten Vorwürfe beschuldigt wird, sofort nach seiner Ankunft in Deutschland ohne Rechtsbeistand 6 Stunden lang vernommen wird, erscheint wie eine bestensfalls naive - wenn nicht sogar bösartige - Relativierung der Tat. So wird die unmittelbare Aktion des Helden im proklamierten Ausnahmezustand zur gewünschten Regel. Das trauernde Publikum aplaudiert, denn sie sind es der Familie schuldig und die Identität zwischen Volk und Exekutive ist hergestellt - ungebrochen von verzögernden Gesetzen und Recht. So hat sich auch Carl Schmitt die Demokratie vorgestellt: Die Identität von Volk und Führung. Und in Momenten, wie denen, dass ein Flüchtling ein deutsches Mädchen tötet, blitzt dieses Rechts- und Demokratieverständnis im Wunsch nach Strafe auf.

Repräsentaten ihrer Kollektive

Die Bildzeitung forderte am 07.06.2018 die Bundesregierung, auf sie solle für das Verbrechen von Ali B."Susannas Elternum Verzeihung bitten", da sie mitverantwortlich für seine Tat sein soll. Ganz so als habe eine Mutter, die einen Mord zugelassen hat, versagt und müsse sich bei ihren Kindern dafür entschuldigen - als ginge es bei der Exekution von Gesetzen um einen Gefallen unter Familienangehörigen. Dieser Wunsch nach einem familiären Verhältnis zum Staat ist es wohl, was diejenigen bewegt, die es begrüßen, wenn man dem Irak von Deutschland aus mal zeigt, dass Staatsgewalt sich nicht an das Recht zu halten hat. Und in der Wahrnemung vieler geht es hier wohl ums Ganze. Ali B. hat in dieser Wahrnehmung nicht aus zu ihm gehörenden Umständen - zu denen es bei ihm neben vielem anderen vielleicht auch gehört, dass er Flüchtling ist - und in seiner individuellen Entscheidung liegenden Gründen ein Mädchen getötet: Er und die Getötete erscheinen als Repräsentanten ihrer jeweiligen Kollektive.

Auch dies machte die Bild deutlich als sie am 09.06.2018 kommentiert: "Bedankt Euch bei den Kurden!", wobei sie es dann offen liess, ob man sich auch bei Ali B. bedanken sollte, der ja wohl Kurde ist. Wie in sozialen Medien spekuliert wurde, könnte er aber auch einfach islamischer Pseodoflüchtling sein, der mal wieder zeigt, dass 2015 ein Zivilisationsbruch war -  nicht durch die Regime des Nahen Ostens, sondern durch die deutsche Flüchtlingspolitik. Danke Frau Merkel! Er ist der raumfremde Barbar, dessen böse Tat das Bekenntnis erfordert: Zu wem gehörst Du? Trauerst du mit uns für die Guten oder hälst du es mit dem Bösen?

Wahrscheinlich kann der dankbare Kommentator der Bild sich aber auch einfach darauf verlassen, dass das unschuldige Publikum weiß, dass einer der durch eine so böse Tat wie einem "Mädchenmord" Schuld auf sich geladen hat, zu keinem Kollektiv mehr gehört, die ihm den Status einer Rechtsperson zubilligen könnte. Und Letzteres ist auch ganz ohne Flüchtlinge gar keine so neue Erscheinung, wie es Fritz Lang schon in seinem Film "M - eine Stadt sucht einen Mörder" von 1931 gezeigt hat, in dem die Gewerkschaft der Verbrecher den (wirklich) niederträchtigen Mörder hinrichten will, während der Rechtstaat auch nicht mehr so genau weiß was er tut.