Donnerstag, 20.05.2021 / 10:08 Uhr

Schmachten nach dem Koscherstempel

Von
Deborah E. King

Al Quds Marsch in Berlin 2014, Bidquelle: Wikimedia Common

Wer kennt sie nicht: Die jüdischen Kronzeugen, die regelmäßig bemüht werden, wenn es darum geht, antiisraelische Positionen zu legitimieren?

Eine lustige Tatsache, die bei denjenigen Antisemiten, die auf ihren vermeintlich antifaschistischen Stammbaum verweisen, beobachtet werden kann, ist Ihr Versuch, sowohl andere als auch sich selbst darüber hinwegzutäuschen, dass sie nichts gegen Juden per se haben, sondern lediglich Einwände gegen den jüdischen Staat oder gegen alles, was dessen Regierung zu seiner Verteidigung unternimmt, erheben.

Häufig versuchen sie ihre Position dadurch zu legitimieren, dass sie auf jüdische Stimmen verweisen, die ihre eigenen Ansichten über den Zionismus widerspiegeln. Gelegentlich sind sie etwas geschockt, wenn sie sich mit Leuten wie der Neturei Karta-Sekte, die gerade von der jüngsten Holocaustrevisionismus-Konfrenz in Teheran zurückgekommen sind, im selben Boot wiederfinden. Doch fallen sie auch danach zwanghaft in ihre alte Gewohnheit zurück, nach „anderen jüdischen Stimmen“ mit einem etwas weniger bizarren ideologischen Hintergrund zu suchen. Und ohne allzu große Mühe werden sie Tausende davon finden, vielleicht sogar Zehntausende, ja womöglich sogar einige Hunderttausend. Aber das ist es dann auch. Gemessen an grob geschätzt 14,5 Millionen Juden weltweit eine verschwindend geringe Anzahl.

Gegen die große Mehrheit

Um es auf den Punkt zu bringen: Sich mit dieser antizionistischen Minderheit gemeinzumachen (zur Erinnerung: das sind die Leute, die sich darin gefallen, Israel als Apartheid- oder Nazi-Staat darzustellen, und eine Neigung zu theatralischen Gesten, BDS und hysterischen Anfällen haben) bedeutet, sich gegen die große Mehrheit der Juden weltweit zu stellen, welche Israel und sein Recht auf Selbstverteidigung unterstützen, und diese als Unterstützer von Apartheid oder naziähnlichen Verbrechen zu verunglimpfen.

Aber die bloßen Zahlen mal außen vorgelassen: Sollte nicht vielmehr die Qualität eines Arguments entscheidend sein und nicht die Quantitäten derjenigen, die dafür oder dagegen sind? Nun, wenn das der Fall ist, dann erscheint die ganze Logik des Heranziehens „anderer jüdischer Stimmen“ noch lächerlicher, da es ja keine Rolle spielen sollte, wer die Person ist, die ein bestimmtes Argument vorbringt: ein orthodoxer Jude, ein säkularer, ein Übergetretener, mein jüdischer Deutscher Schäferhund oder ein Nichtjude.

Argumente zählen

Es ist das Argument allein welches als richtig oder falsch zählt und nichts anderes. Einen Juden zu zitieren, der mit Dir übereinstimmt, um Deine Sichtweise über den jüdischen Staat zu verargumentieren, macht Dich nicht koscher. Es zeigt nur Deinen Antisemitismus und nicht minder Deinen Mangel an Bildung, denn jüdische Geschichte war stets reichlich versehen mit jüdischen Kronzeugen, die – unter Zwang, aus finanziellen und sozialen Gründen oder aber aus reiner Verschrobenheit – Zeugnis gegen das Judentum oder gegen Juden als Kollektiv abgelegt haben. Es wäre ahistorisch anzunehmen, dass dies mit der Wiedergeburt eines jüdischen Staates vor weniger als 80 Jahren geendet hätte.

Recht auf Spinner

Und darüber hinaus: Warum sollten Juden als Gruppe eigentlich kein Recht auf ihren eigenen Anteil an Spinnern (einschließlich solchen mit akademischen Posten) haben? Wenn es also um konkrete Argumente geht, die gegen Israel hervorgebracht werden, dann riecht es nach Ressentiment, wenn man jüdische Kronzeugen aufgrund der Tatsache, dass sie jüdisch sind, zitiert und ihnen eine vermeintliche Autorität bei Angelegenheiten, die Israel betreffen, unterstellt. Weder wurden sie als Autoritäten zum Thema Nahost geboren, noch haben sie irgendeine moralische Läuterung durch die Leiden des Holocausts erfahren. Das Gegenteil zu argumentieren hieße, alle Juden als fleißige Studenten in Middle Eastern Studies zu imaginieren oder dem Holocaust eine Sinnhaftigkeit oder gar ein Verdienst zuzuschreiben, was auf eine Trivialisierung dieses Verbrechens hinausläuft. Zusammenfassend ist also festzustellen, dass der Rückgriff auf eine jüdische Person zum Zwecke der Nobilitierung der eigenen Argumente gegen Israel und das Unterstreichen dieser Tatsache daher nicht nur deren Schwäche sondern auch Deine antijüdische Neigung verrät.

Rassistische Argumentation

Aber die Sache ist hier noch nicht zu Ende: Du bist nicht nur Antisemit sondern de facto auch Rassist. (Ja, die beiden unterscheiden sich voneinander trotz gewisser Überlappungen und einer starken Korrelation.) Denn die Welt aus einer Perspektive zu betrachten, welche Menschen danach sortiert, wer sie sind statt was die von ihnen als Individuen vorgebrachten Argumente beinhalten, sieht dem Rassismus äußerst ähnlich. Es überrascht daher wenig, dass Palästinensern, die Dir ansonsten am Arsch vorbeigehen, jegliche menschliche Subjekthaftigkeit – also die Fähigkeit, als unabhängige Individuen zu handeln und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen – abgesprochen. Während „andere jüdische Stimmen“ die Rolle der Königin spielen, fungieren die Palästinenser als bloße Bauern auf Deinem antijüdischen Schachbrett. Wenn die Palästinenser jemals einen wahren Feind hatten, dann sind es Leute wie Du.

Der Text in englisch