Samstag, 02.04.2022 / 23:18 Uhr

Das Ende des 'anderen Irak'

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Aus dem Netz

Straßenszene in Suleymaniah: Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Die kurdischen Autononomiegebiete galten lange al der "andere Irak". Diese Zeiten sind vorbei, seit einiger Zeit stammen sogar ein Großteil von Flüchtlingen, die etwa versuchen über die belarussische Grenze in die EU zu gelangen aus Irakisch-Kurdistan. Über die Krise im Nordirak berichtet Birgit Svenson für Qantara:

2013 platzte die Immobilienblase in Kurdistan. Da die Gewinne bis dato ins Ausland transferiert und nicht im Land selbst investiert wurden, gab es keine Rücklagen. Der Ölpreis brach erstmalig ein. Außer Immobilien und Öl hat Kurdistan jedoch nichts weiter entwickelt. Hochtrabende Agrarentwicklungspläne landeten ebenso in den Schubladen der untätigen Behörden wie Industrieansiedlungen. Die kurdische Regionalregierung, allen voran der damalige Kurdenpräsident Masoud Barzani, bekam Krach mit Bagdad. Die Überweisungen aus der Hauptstadt – immerhin 17 Prozent des irakischen Haushalts – blieben aus und die Öleinnahmen halbierten sich. Der aufgeblasene öffentliche Sektor konnte nicht mehr bezahlt werden, in dem fast 70 Prozent der Kurden auf der Gehaltsliste stehen und der 80 Prozent des Haushalts schluckt.

Fast eine Idylle, aber nur von weitem: Die Stadt Dohuk von oben. Auf Kurdisch heißt Dohuk "kleines Dorf“, doch das ist es schon lange nicht mehr. Eine halbe Million Menschen lebt in dem Kessel, von Bergen umgeben. Dohuk liegt 585 Meter hoch, im Sommer ist es schwül heiß, im Winter ziemlich kühl. Wer wissen möchte, warum so viele Kurden die Region verlassen, sollte sich in Dohuk näher umschauen, heißt es. Hier wird das System Barzani deutlich. Seine Kurdisch-Demokratische Partei (KDP) hat hier ihre Hochburg.

Monatelang bekamen Lehrer, Universitätsprofessoren, Dozenten und Ärzte kein Geld. Ein Jahr später rollte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) über den Nordirak, zwar nicht in die Kurdengebiete, aber haarscharf daran vorbei. Millionen von Flüchtlingen fanden Unterschlupf im sicheren Hafen Kurdistan. Als der IS besiegt war, wähnte sich Barzani stark genug, um einen unabhängigen Kurdenstaat anzustreben und ließ eine Volksbefragung darüber abhalten, die mit großer Mehrheit für ein eigenständiges Kurdistan ausfiel.

Doch der Alleingang des Kurdenführers kam ihm teuer zu stehen. Denn nicht nur Bagdad war alarmiert, sondern auch die Nachbarn Türkei und Iran opponierten massiv. Und selbst Kurdistans engste Verbündete, die Vereinigten Staaten, distanzierten sich von diesem Ansinnen. In letzter Minute konnte ein Waffengang zwischen der irakischen Armee und den kurdischen Perschmerga verhindert werden. Dann kam Covid.

Korruption beschleunigt den wirtschaftlichen Niedergang

Die Pandemie beschleunigte die schon auf Talfahrt befindliche Wirtschaft weiter. Steigende Preise, riesige Einkommensunterschiede, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten, mangelnde Aussichten auf sozioökonomische Mobilität, Lohnausfall im öffentlichen Dienst und das über Monate, ja sogar Jahre.

Einem Bericht der UN-Organisation für Entwicklung (UNDP) zufolge sank das Durchschnittseinkommen eines Haushalts in der kurdischen Region um dramatische 31 Prozent in den letzten vier Jahren, während der Restirak lediglich 12 Prozent Rückgang verzeichnet. Neben Angehörigen im öffentlichen Dienst seien hiervon besonders Frauen, junge Menschen, Behinderte und Binnenflüchtlinge am stärksten betroffen.

Doch der kurdische Präsident Nizevan Barzani wurde in der Schweiz fotografiert, wie er seinem Sohn eine Rolex-Uhr kauft. Und das amerikanische Politmagazin „American Prospect“ enthüllte, dass Ministerpräsident Masrur Barzani kürzlich ein 18 Millionen Dollar teures Haus in Miami gekauft habe, das vierte Gebäude, das die Familie dort besitzt.

Das war dann anscheinend zu viel: Erstmals in der jüngeren Geschichte Kurdistans gingen nun Ende November auch die Studenten in Erbil und Dohuk auf die Straße, die sich bislang still verhalten hatten. Die Sicherheitskräfte griffen hart durch und feuerten scharfe Munition ab. Unmittelbar ging es um die Wiedereinführung eines bescheidenen monatlichen Stipendiums, das die kurdische Regionalregierung vor 2014 für Universitätsstudenten bereitgestellt hatte und das seitdem nicht mehr gezahlt wurde.