Montag, 13.11.2023 / 14:59 Uhr

Bewohner des Gazastreifens müssen die Freiheit zur Flucht haben

Von
Gastbeitrag von Raphael BenLevi

Binnenvertriebene in Gaza, Bildquelle: UNRWA

Warum sollte für den Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen nicht gelten, was für alle anderen Konflikte weltweit gilt?

 

Um die Hamas im Gazastreifen erfolgreich zerschlagen zu können, hat Israel keine andere Wahl, als die gesamte Enklave zurückzuerobern und alle Funktionäre, Kämpfer und Mitglieder der Hamas-Bewegung militärisch zu besiegen. Aufgrund der Strategie der Terrororganisation, sich unter der nicht kämpfenden Bevölkerung einzunisten, wird die Erfüllung dieser Aufgabe zwangsläufig große Zerstörungen der zivilen Infrastruktur im Gazastreifen mit sich bringen. Um die Dauer und das Ausmaß dieser Zerstörungen zu verkürzen, muss den Bewohnern die Möglichkeit gegeben werden, vorübergehend außerhalb des dicht besiedelten Gebiets Zuflucht zu suchen.

Völlig übliches Prozedere

Derzeit hat Israel die Nichtkombattanten aufgefordert, den nördlichen Küstenstreifen rund um Gaza-Stadt zu evakuieren und in den Süden zu ziehen. Doch um die Hamas zu besiegen und zu zerschlagen, muss Israel auch den südlichen Gazastreifen erobern. Andernfalls wird er zu einer neuen Basis für die Hamas werden, um ihren völkermörderischen Krieg gegen Israel fortzusetzen.

Die humanitären Folgen sind bereits jetzt gravierend, werden sich aber mit Sicherheit noch verschlimmern, wenn Israel sich dem Süden des Gazastreifens zuwendet. Werden die Bewohner der Küstenenklave an der Flucht gehindert, wird dies zu einer großen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führen, was genau das ist, was die Hamas will.

Schon jetzt versuchen Tausende im Gazastreifen lebende Menschen dem Kriegsgebiet zu entkommen, sitzen aber in der Falle, weil die Hamas und die Ägypter sich weigern, die Grenzübergänge zu öffnen. Dies ist nicht zu rechtfertigen und muss sich ändern. Wird Israel gezwungen, seine Militäroperation unter den schwierigen Bedingungen eines Häuserkampfs inmitten einer großen Zahl von Nichtkombattanten durchzuführen, führt dies unweigerlich zum Tod von vielen weiteren Zivilisten, wird den Krieg verlängern und die humanitäre Krise verschärfen.

Kriege in dicht besiedelten städtischen Gebieten führen unweigerlich zu einer großen Zahl vertriebener Zivilisten. Natürlich suchen viele dieser Menschen vorübergehend Zuflucht außerhalb des Kriegsgebiets. In den vergangenen Jahrzehnten wurde dies in zahlreichen Fällen zugelassen, was manchmal zur Flucht von Hunderttausenden oder sogar Millionen von Menschen führte.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine flohen beispielsweise über sechs Millionen Ukrainer aus dem Land. Das benachbarte Polen nahm 1,2 Millionen Ukrainer auf und versorgte sie mit Unterkunft und Lebensmitteln. Andere Staaten haben ebenfalls eine große Zahl von Ukrainern aufgenommen, so Deutschland eine Million und die Tschechische Republik eine halbe Million.

Während des seit 2011 andauernden syrischen Bürgerkriegs verließen 6,7 Millionen Syrer das Land. Auch in diesem Fall fanden sie in benachbarten und anderen Länder in der Region Zuflucht, etwa 3,2 Millionen in der Türkei, 789.000 im Libanon und 653.000 in Jordanien. Selbst Ägypten hat 150.000 Syrer aufgenommen, wie auch weitere Staaten des Nahen Ostens und Europas Hunderttausenden Menschen Aufenthaltsmöglichkeiten angeboten haben, so auch Kuwait und Saudi-Arabien 120.000 bzw. 100.000 Syrern.

Warum nicht hier?

Warum wird also den Bewohnern des Gazastreifens nicht gestattet zu fliehen und anderswo vorübergehend Zuflucht zu finden?

Erstens hält die Hamas selbst sie als Geiseln fest, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Der Hamas kommt entgegen, wenn diese Menschen sterben, um ihre Leichen in den internationalen Medien zur Schau stellen zu können, um Druck auf Israel auszuüben, damit es seine Mission, die Terrorgruppe zu zerstören, nicht erfüllen kann. Diese Menschen zu zwingen, in Gaza zu bleiben, würde der Hamas direkt in die Hände spielen.

Zweitens weigert sich Ägypten, wie bereits erwähnt, sie ausreisen zu lassen. Kairo hat behauptet, keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen zu können, und sei besorgt, dass Hamas-Terroristen in den Sinai eindringen könnten. Diese Befürchtungen mögen berechtigt sein, aber sie lassen sich mit externer Finanzierung, einer genauen Überprüfung der aus dem Gazastreifen fliehenden Menschen, der Einrichtung von Zeltstädten für die Vertriebenen und der Erlaubnis zur Weiterreise in Drittstaaten ausräumen.

Ein weiterer von Ägypten angeführter Grund, der völlig unbegründet ist, ist, dass die langfristigen Ziele der palästinensischen Nationalbewegung untergraben werden könnten, wenn man den Menschen im Gazastreifen die Ausreise gestattet. Dies ist nicht zu rechtfertigen. Es sollte den Menschen im Gazastreifen überlassen bleiben, ob sie ihr Leben für nationale Ziele opfern wollen, nicht Ägypten. Wenn die Bewohner des Gazastreifens das Land verlassen wollen, ist dies ihre Entscheidung. Sie sollten nicht von Ägypten aufgrund politischer Erwägungen daran gehindert werden.

Zynischer Trick

Daher sollte eine internationale Initiative ins Leben gerufen werden, um den Menschen im Gazastreifen zu helfen, die vorübergehend in anderen Ländern Zuflucht suchen. Sobald der Krieg beendet und die Hamas zerschlagen ist, steht es ihnen frei, zurückzukehren. Zwingt man sie jedoch, im Kriegsgebiet zu bleiben, spielt man der Hamas in die Hände, riskiert ihr Leben, verlängert die Zeit, die Israel braucht, um seinen Auftrag zu erfüllen, und verschärft die humanitäre Krise.

Einige Staaten tragen eine direkte Verantwortung für die Aktionen der Hamas und sollten zur Rechenschaft gezogen werden, indem man von ihnen verlangt, sich an der Lösung zu beteiligen. Die Türkei, Katar und der Iran haben die Hamas seit Jahrzehnten aktiv unterstützt. Sie sollten den Großteil der Vertriebenen aufnehmen; aber auch nordafrikanische Länder wie Algerien, Libyen und Tunesien und Staaten in Südamerika, wo Chile bereits eine große palästinensische Bevölkerung beherbergt, europäische Länder und Kanada.

Arabische Länder, welche die Hamas nicht unterstützen wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, könnten bereit sein, ihren arabischen Brüdern mit Ressourcen zu helfen. In den russischen Kaukasusländern gibt es bereits eine Basisbewegung zur Aufnahme von Menschen aus dem Gazastreifen. Die VAE arbeiten daran, tausend verletzte Kinder in emiratische Krankenhäuser zu bringen.

Jeder, dem die Notlage der Menschen im Gazastreifen wirklich am Herzen liegt, sollte sich der Initiative anschließen und anbieten, die Vertriebenen aufzunehmen. Israel ist nicht für die derzeitigen Zustände in Gaza verantwortlich. Diese Verantwortung liegt bei der Hamas und bei all den Ländern, die sie über die Jahre hinweg unterstützt haben.

Die Vorstellung, dass in allen anderen Kriegsgebieten Nichtkombattanten fliehen dürfen und ihnen Zuflucht geboten wird, die Menschen im Gazastreifen aber bleiben und der Hamas als menschliche Schutzschilde dienen müssen, ist nichts anderes als ein zynischer Trick. Er zielt darauf ab, die Bewohner des Gazastreifens als Werkzeuge des Kriegs zu missbrauchen und wird zu unnötigen Verlusten an Menschenleben führen.

(Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate und zuerst auf Deutsch auf Mena-Watch. Übersetzung von Alexander Gruber.)