Montag, 18.12.2023 / 20:16 Uhr

Was ist eine 'verhältnismäßige Reaktion'?

Von
Gastbeitrag von Eric R. Mandel

Ruinen im Gazastreifen, Bildquelle: Photo credit: EU/ECHO/Caroline Gluck

Israels Ziel, die Hamas zu beseitigen, ist insofern verhältnismäßig, als die Terrorgruppe aktuell eine existenzielle Bedrohung für Israel darstellt. Der Vorwurf internationaler Politiker als auch vieler Medien an Israel, keine Rücksicht auf die Bevölkerung des Gazastreifens zu nehmen, geht ins Leere.

 

Nach manchem Verständnis ist die Verhältnismäßigkeit im Krieg einfach ein Zahlenspiel: Die Seite, die der anderen mehr Opfer zufügt, handle unverhältnismäßig, sei im Unrecht und begehe möglicherweise sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Vorstellung entbehrt zwar jeder völkerrechtlichen Grundlage, ist aber als rhetorische Waffe nützlich.

Israels Feinde machen von diesem Zahlenspiel reichlich Gebrauch, was nicht weiter überrascht. Denn wenn Israel gegen eine terroristische Vereinigung kämpft, die Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzt, um so die Zahl der Opfer zu erhöhen, die dann wiederum zur Manipulation von Journalisten und internationalen Politikern benutzt werden, hat der jüdische Staat einen schwierigen Kampf in der Öffentlichkeitsarbeit zu bestehen.

Was ist Verhältnismäßigkeit?

Das Argument der Verhältnismäßigkeit kann auch einer offensichtlichen Doppelmoral dienstbar sein. Während der US-Kampagne gegen den Islamischen Staat (IS) an Orten wie Mossul, wo sich die Terrorgruppe unter einer Million Zivilisten versteckte, brauchte es beispielsweise neun Monate und 11.000 tote Zivilisten, um den IS zu besiegen. Dennoch gab es in den Medien oder von der internationalen Gemeinschaft kaum Vorwürfe wegen Unverhältnismäßigkeit, da alle wussten, dass der IS besiegt werden musste und dabei Zivilisten sterben würden.

Ginge es allein um Zahlen, liefe dies darauf hin, dass Israel wahllos 1.200 unschuldige palästinensische Zivilisten töten und weitere 240 als Geiseln nehmen sollte. Es ist unwahrscheinlich, dass jene, die Verhältnismäßigkeit predigen, dies befürworteten.

Alan Johnson schrieb in der Zeitschrift Fathom, das »mit militärischen Maßnahmen verfolgte Ziel muss in einem angemessenen Verhältnis zu der bestehenden Bedrohung stehen. Israels Ziel, die Hamas zu beseitigen, ist damit verhältnismäßig, weil die Hamas aktuell eine existenzielle Bedrohung für Israel darstellt.« Johnson hat Recht, denn Verhältnismäßigkeit hat nichts mit der Verletzung zu tun, die man erleidet, sondern mit den Zielen, die man zu erreichen hofft.

Was also ist »verhältnismäßig« in Israels Krieg gegen die Hamas? Nach einer richtigen, nicht politisierten Lesart des Völkerrechts gilt:

  • Setzen Terroristen menschliche Schutzschilde ein und bringen ihre gesamte militärische Infrastruktur in zivilen Gebäuden unter – ein Kriegsverbrechen an sich –, verlieren diese Gebäude ihre Immunität gegen Angriffe. Der Tod von Zivilisten ist rechtlich gesehen die Schuld der Terroristen, die sie als menschliche Schutzschilde benutzen, solange angemessene Vorkehrungen getroffen werden, um die Zahl der zivilen Opfer zu minimieren.
  • Nach der Theorie des gerechten Kriegs darf man keine Nichtkombattanten angreifen, wenn es in der Umgebung kein legitimes militärisches Ziel gibt. Es ist jedoch legal, ein Ziel anzugreifen, wenn es dem eigenen militärischen Ziel dient, auch wenn Zivilisten anwesend sind.
  • Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums muss das Militär die Zivilbevölkerung mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgen, nicht aber mit Treibstoff oder Strom.

Nicht nur Theorie

Meine Analyse stützt sich nicht nur auf juristische Theorien, sondern auf meine Berichte früherer Gaza-Kriege, meiner Befragung israelischer Militärethiker und meiner Anwesenheit bei den Geschehnissen in Sderot nach dem Massaker vom 7. Oktober. Daher weiß ich auch, dass die Hamas nicht zum ersten Mal Krankenhäuser als Militärstützpunkte nutzt. 

Im Jahr 2014 war ich bei einer israelischen Eliteeinheit, die von einem UNRWA-Krankenhaus aus von Hamas-Terroristen beschossen wurde. Die Soldaten konnten das Feuer nicht erwidern, weil es auf der Karte mit einem großen »H« für Hospital markiert war und sie wussten, dass die Erwiderung des Feuers als Kriegsverbrechen betrachtet werden könnte.

Also riefen sie einen Militäranwalt an. Er riet ihnen, das Leben von Soldaten zu riskieren, um eine Audioübertragung aus dem Inneren des Krankenhauses zu erhalten, auf eine Drohne zu warten, die das Gefecht filmt, und schließlich den Verteidigungsminister zu kontaktieren, um das endgültige Okay zu erhalten. Die IDF entdeckten die Terroristen im Krankenhaus und in den darunterliegenden Tunneln, verloren dabei aber drei Soldaten, weil sie sich an internationales Recht hielten.

Wenn der ehemalige US-Präsident Barack Obama oder UN-Generalsekretär António Guterres den Israelis raten, ihre Wut über das Massaker nicht über ihre Verantwortung zu stellen, zivile Opfer zu vermeiden, dann ist das nichts als Heuchelei. Obama hatte keine Skrupel, IS-Terroristen anzugreifen, die sich in Syrien und im Irak unter der Zivilbevölkerung aufhielten. Guterres leitet eine Organisation, die Terrorgruppen wie der Hamas Vorschub leistet, indem sie Israel häufiger verurteilt als alle anderen Nationen zusammen.

Während des Gaza-Kriegs 2012 beobachtete ich, wie Israel auf wahllose Angriffe der Hamas gegen israelische Zivilgemeinden reagierte. Von einer Radarkommandozentrale an der Grenze zum Gazastreifen aus sah ich, wie sehr sich Israel bemühte, den Beschuss palästinensischer Zivilisten zu vermeiden, die als menschliche Schutzschilde an den Raketenabschussrampen eingesetzt wurden. Ich erinnere mich, wie ich die Kommandozentrale verließ und hoffte, dass die Armee meines Landes genauso ethisch handeln würde wie diejenigen, deren Einsatz ich gerade beobachtet hatte.

Perversion des Völkerrechts

Der Tod eines unschuldigen Zivilisten ist ein Grund zur Trauer. Aber die moralische Gleichsetzung von geplanten, vorsätzlichen Massakern, Vergewaltigungen und Entführungen israelischer Zivilisten mit dem Tod und den Verletzungen palästinensischer Zivilisten, die von der Hamas absichtlich in Gefahr gebracht werden, um die internationalen Medien zu manipulieren, ist eine Perversion der Theorie des gerechten Kriegs und des Völkerrechts. Dürfte Israel ein militärisches Ziel der Hamas nicht angreifen, weil sich Zivilisten in der Nähe befinden, könnte es keine einzige Kugel zu seiner eigenen Verteidigung abfeuern. Das ist keine Verhältnismäßigkeit, sondern eine Aufforderung zum nationalen Selbstmord. Nichts könnte weniger ethisch sein.

Während des Zweiten Weltkriegs starben weit mehr deutsche als amerikanische oder britische Zivilisten. Die Royal Air Force schätzte, dass mehr als die Hälfte von Köln, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Nürnberg, um nur einige deutsche Städte zu nennen, durch alliierte Bombenangriffe zerstört wurde. Wir nennen die amerikanische Generation, welche die Nationalsozialisten besiegten, die Greatest Generation, weil die Nationalsozialisten trotz der Zerstörung, die es mit sich brachte, besiegt werden mussten.

Hamas, Hisbollah, der Palästinensische Islamische Dschihad und ihr Schirmherr Iran sind so etwas wie die Nationalsozialisten des 21. Jahrhunderts. In der Hamas-Charta heißt es: »Israel wird solange existieren, bis der Islam es auslöscht. … Der Tag des Jüngsten Gerichts wird erst kommen, wenn die Muslime gegen die Juden kämpfen und sie töten.« Oder, wie der Oberste Führer des Irans sagte, die Zionisten (also die Juden) müssten »entwurzelt und vernichtet« werden, sie seien »illegitim« und ein »Bastardregime«, sie »können nicht Menschen genannt werden«, also »macht Tel Aviv und Haifa dem Erdboden gleich«. Was müssen diese Organisationen und Regime noch tun und sagen, damit der Westen ihnen glaubt? 

Soll Israel doch den radikalen Islam im Gazastreifen zerschlagen, zum Wohle der gesamten Welt, einschließlich der Palästinenser selbst. Traurigerweise werden die Palästinenser wie die deutsche Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs einen hohen Preis für die abscheuliche Taktik und Ideologie der Hamas zahlen. Leider gibt es keine andere Wahl.

Eric R. Mandel ist Direktor des Middle East Political Information Network (MEPIN) und unterrichtet regelmäßig US-Kongressmitglieder und deren außenpolitische Berater. Er ist außerdem leitender Sicherheitsredakteur für den Jerusalem Report und schreibt regelmäßig für The Hill und The Jerusalem Post. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate und auf Deutsch bei Mena-Watch Übersetzung von Alexander Gruber.)