Donnerstag, 15.08.2024 / 22:17 Uhr

Islamischer Staat: Zehn Jahre Massaker von Kocho

Friedhof in Kocho, Bildquelle: Farida Global

Am 15.8.2014 beging der Islamische Staat (IS) das größte Massaker an Jesiden in Kocho. Heute erinnern Überlebende daran und das in einer Zeit, in der sie sich weiter im Irak bedroht sehen.

Was vor zehn Jahren in Kocho passierte beschreibt ein Artikel in The National:

Survivors marked the 10th anniversary of the attack on Thursday, mourning at a newly built cemetery in the ruins of the abandoned village, surrounded by mass graves.

After encircling the village for two weeks, ISIS militants on August 15 ordered the 1,700 inhabitants to gather in the school, where they were separated by age and gender. Men, older boys, and older women were shot, and the rest taken as slaves and child soldiers.

A total of 511 villagers have been confirmed killed or are still missing, according to statistics given to The National by Nadia's Initiative, established by Kocho survivor and Nobel Peace Prize laureate Nadia Murad, with the remains of 151 identified and buried in the cemetery.

Nineteen people survived being shot into 19 mass graves in and around the village, close enough for terrified women to hear shots ringing out as they were held in the school.

Die Gedenkfeiern waren überschattet von neuen Drohungen gegen Jesiden im Irak, ausgelöst durch das Statement eines Miliz-Führers:

"One thousand Yezidi families have fled in fear from IDP camps in the Kurdistan Region of Iraq (IKR) following a barrage of threats from Kurds on social media and in mosques threatening to repeat the genocide carried out by ISIS 10 years ago.

According to the Ministry of Migration and Displacement (MoMD) Sinjar office, hate speech against Yazidis forced 1000 families, around 25,000 individuals, to leave Jam-Meskho IDP camp in Zakho and Kabrtoo IDP camp in Dohuk to return to Sinjar since this morning.

Yezidi sources speaking with The Cradle stated that the security forces (Asaysh) of the Kurdistan Regional Government (KRG) closed the camps in response and are not allowing anyone else to leave.

One source said, “What I am seeing now is like the genocide in 2014. I see hundreds of cars and trucks, each packed full with as many people as possible, trying to escape to Sinjar.

Zehn Jahre Völkermord und die deutsche Politik

Der Demokratische Salon hat sich des Themas angenommen und einen langen und sehr lesenswerten Essay über zehn Jahre Völkermord veröffentlicht. Hier einige Auszüge:

"Die Erinnerung an den Genozid vom 3. August 2014 fand – abgesehen von taz und ZEIT – in den großen deutschen Medien so gut wie nicht statt (einen Widerhall fand die Erinnerung ferner in den linken Tageszeitungen „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“). Die Jüdische Allgemeine veröffentlichte am 31. Juli 2024 ein Gespräch mit Ronya Othmann. Wer regelmäßige Informationen sucht, wird diese in dem Blog „Von Tunis bis Teheran“ auf der Seite von Jungle World sowie auf kurdischen und êzîdischen Seiten finden oder auf den Internetseiten von Hilfsorganisationen und Organisationen der kurdischen oder êzîdischen Zivilgesellschaft. Zu hoffen ist, dass der Film „Heimatlos“ in der ARD-Mediathek den Wirkungskreis erweitert. Es gibt dort auch weitere Berichte zum Thema, aber man muss natürlich erst einmal wissen, dass es in der ARD-Mediathek diese Filme und Berichte gibt.

Die Lage der Êzîd:innen in Deutschland und im Irak ist höchst prekär. In dem êzîdischen Fernsehsender Çira TV berichtete Ayfer Özdoǧan. Sie beschreibt den êzîdischen Widerstand, der bewundert werde, aber eben auch, dass man „die Menschen in Şengal nicht ernst“ nehme. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, habe bei ihrem Besuch in der Region Şengal nicht besucht, offenbar aus Sicherheitsbedenken. Beim Abschluss des Şengal-Abkommens wurden die Menschen in Şengal nicht beteiligt. Dazu haben sich auch die êzîdischen Verbände dezidiert geäußert. (...)

Dies steht fest: Die gesamte Region leidet unter den konkurrierenden Ansprüchen des Iran und der Türkei. Der Irak selbst ist mehr oder weniger ein Failed State. Minderheiten werden zum Spielball der Interessen, erst recht Minderheiten, die wie die Êzîd:innen sogar als „Minderheit in der Minderheit“ bezeichnet werden können, so Antonia Moser in einer SRF-Reportage vom 9. August 2014.

 


IDP-Camp. Foto: Wadi e.V.

Ronya Othmann beschreibt die politische Lage in der Region in „Vierundsiebzig“ detailliert, das Gelesene bestätigte sich im Verlauf ihrer Reise mehr als sie sich das jemals vorstellen konnte: „Unsere Familie war schon da, die Landesgrenzen kamen später. / Auch die Minen kamen später, nach den Landesgrenzen, lese ich in einem Zeitungsartikel: um die Schmuggler abzuschrecken.“ Eine Welt der Euphemismen, in der sie so viel Militär sieht, so viele Checkpoints, wie sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat. Sie hatte von der nicht einschätzbaren Sicherheitslage gehört, sieht „die Flaggen der irantreuen Milizen“: „Ich hatte davon gelesen, und doch konnte ich es mir nicht vorstellen, bis ich die Flaggen, die Gesichter der jungen Soldaten mit eigenen Augen sah.“ Die Menschen, die sie trifft, wirken schicksalsergeben – vielleicht ein besserer Begriff als das psychologisierende Adjektiv fatalistisch. „Mam Khalef sagt: Erst war hier Saddam, dann kamen die Amerikaner, dann die Iraker, jetzt die PKK. Die Gegend, sagt Mam Kahlef, werde oft bombardiert von türkischen Drohnen. Nichtsdestotrotz sei Khana Sor der Ort, an den die meisten Menschen zurückgekehrt sind. Khana Sor liege weit genug von den arabischen Dörfern entfernt und nah am Gebirge.“ Ronya Othmann erwähnt Saddam, Assad, die Diktatoren der Nachbarstaaten, den Iran, die Türkei, sodass ihr Roman die Komplexität der Verwobenheit des Terrors von Staaten, Milizen und fanatisierter Bevölkerung wiedergibt.

Es waren – wie in anderen vergleichbaren Kriegen gegen die eigene Bevölkerung, zum Beispiel in Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien – die Nachbar:innen, die Êzîd:innen schikanierten, umstellten, an der Flucht hinderten, misshandelten und dem IS auslieferten. Ronya Othmann berichtet, unter den Tätern seien auch „Blutspaten“ gewesen, Muslime, die mit der Patenschaft eine lebenslang geltende Verantwortung für ein êzîdisches Kind bei der Beschneidung übernommen hätten. Êzîdische Frauen wurden in Mossul auf einem Sklavenmarkt gefesselt und geknebelt vorgeführt und verkauft. Die Täter tauchten nach dem Fall des IS wieder in der Bevölkerung unter, manche schafften den Weg in den Westen. Zu den Tätern gehörten nicht nur Iraker, sondern auch Männer und Frauen aus dem Westen, aus den USA, aus Australien, aus Frankreich oder aus Deutschland, auch natürlich aus den arabischen Nachbarstaaten des Irak.

Niemand weiß, wie viele IS-Sympathisant:innen oder gar ehemalige Täter:innen noch im Irak, in Nachbarländern oder in westlichen Ländern untergetaucht sind. Im Irak ist die Lage für Êzîd:innen nach wie vor lebensgefährlich. Man kann nicht davon sprechen, dass der IS zerschlagen wäre, Şengal ist nach wie vor zerstört."

Der Deutsche Bundestag erkannte auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP den „Völkermord an den Êzidinnen und Êzîden“ am 19. Januar 2023 auf Initiative nicht zuletzt von Max Lucks (Bündnis 90 / Die Grünen) an. Einstimmig! Der Beschluss enthält 20 Punkte, darunter auch die Forderung, „Êzîdinnen und Êzîden weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren und anzuerkennen, dass ein wichtiger Bestandteil der Traumabewältigung und -bearbeitung die Zusammenführung mit der eigenen Familie ist und dass diese im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen zu ermöglichen ist“.

Der Beschluss des Deutschen Bundestages wird von der Bundesinnenministerin mehr oder weniger ignoriert. Auch die Länder verhalten sich sehr zurückhaltend. Nordrhein-Westfalen hatte ein temporäres sechsmonatiges Abschiebeverbot ermöglicht, das jedoch wegen des Nichts-Tuns des Bundesinnenministeriums nicht verlängert werden konnte.

Zur Lage der Êzid:innen im Irak und in Deutschland haben Pro Asyl e.V. und Wadi e.V. ein Gutachten veröffentlicht (in deutscher und in englischer Sprache). Die beiden Organisationen verweisen darauf, dass immer noch etwa 200.000 Êzîd:innen in den irakischen Flüchtlingslagern leben, die die Regierung jedoch schließen will. Imame haben zur Jagd auf „Ungläubige“, konkret auf Êzîd:innen aufgerufen, sodass diese sich nicht einmal mehr in den Lagern sicher fühlen. Hunderte Familien flüchten aus den Lagern. Manche werden vertrieben, aber wohin sollen sie gehen?

Oliver M. Piecha hat für Jungle.World Blog (auch verfügbar auf der Plattform Mena-Watch) mit Basma Aldikhi, Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Wadi, über das Leben in den Camps gesprochen. Basma Aldikhi berichtet, viele Kinder seien dort geboren, sähen die Camps als Teil ihrer „Identität“: „Die Menschen in den Camps haben das Gefühl, dass sie von überall vertrieben und weder von Kurdistan noch vom Irak akzeptiert werden. Die Kinder im Camp haben kein Zuhause, um die Tür hinter sich zu schließen, weil sie in Zelten leben. Der Schulunterricht ist bereits gekürzt; eine Klasse besteht aus fünfundsechzig Schülern, wobei eine Lehrerin für alles verantwortlich ist. Es ist so kaum möglich, die Kinder richtig zu unterrichten und ihnen etwas beizubringen.“ Sie sagt, Êzîdinnen hätten weder in der Autonomen Region Kurdistan noch im Irak eine Zukunft. Im Interview ist unter anderem das Bild einer Demonstration in Khanke für den Erhalt der dortigen Schule zu sehen.

In Deutschland leben 250.000 Êzîd:innen. Êzîd:innen werden aus Deutschland in den Irak abgeschoben, gefährdet sind nach der Schätzung von Hilfsorganisationen etwa 10.000 Menschen. Es gibt einige Gerichtsurteile, denen zufolge es im Irak keine Bedrohungslage mehr gäbe, eine Einschätzung, die das Auswärtige Amt nach einem als Verschlusssache gekennzeichneten Lagebericht vom April 2024, den die Plattform FragDenStaat veröffentlichte, offenbar nicht teilt. Welche Folgen die von der Bundesregierung diskutierten Änderungen zur Abschiebung auch nach Syrien und Afghanistan für Êzîd:innen und andere bedrohte Minderheiten haben werden, ist nicht absehbar. Wer jedoch Êzîd:innen abschiebt, schiebt keine Täter ab, sondern Opfer."