Neuester Streitpunkt im Machtkampf in Venezuela ist der Parlamentsvorsitz

Schmieren­theater in Caracas

In der jüngsten Runde des Machtkampfs zwischen der Regierung von Präsident Maduro und der Opposition in Venezuela ging es um die Wahl des Parlamentsvorsitzenden.

Das Amt des Staatsoberhaupts in Venezuela beanspruchen bereits zwei Per­sonen. Juan Guaidó ernannte sich am 23. Januar 2019 zum Interimspräsidenten, es gelang ihm jedoch nicht, den seit 2013 amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro zu stürzen. Auch andere Staatsgewalten gibt es längst in doppelter Ausführung: Die Opposition installierte Mitte 2017 ein eigenes Oberstes Gericht, das im Exil tagt. Zuvor hatte die Regierung Maduro das eigentliche Oberste Gericht (TSJ) neu besetzt, das daraufhin drei Abgeordnete aus dem Bundesstaat Amazonas wegen Wahl­betrugs suspendierte. Zwei von ihnen gehörten der Opposition an, die dadurch ihre bei den Parlamentswahlen Ende 2015 gewonnene Zweidrittelmehrheit einbüßte. Am 30. Juli 2017 dann ließ Maduro eine verfassunggebende Versammlung wählen, die seither die meisten Befugnisse der Nationalversammlung, des Parlaments, ausübt und dieses somit umgeht. Die Opposition boykottierte diese Wahl.

Seit Neuestem erheben auch zwei Politiker Anspruch auf den Parlamentsvorsitz. Der bisherige Amtsinhaber ist Guaidó. Da er seinen Anspruch auf die Interimspräsidentschaft rechtlich vom Parlamentsvorsitz ableitet, ist dieser Posten für ihn entscheidend. In einer chaotischen Sitzung am 5. Januar wählten die anwesenden Abgeordneten nun Luis Parra an die Spitze der Legislative. Dieser gehörte bis Dezember der rechten Partei Primero Justicia an. Er und weitere Parteikollegen sowie Abgeordnete der Partei Voluntad Popular wurden damals wegen Korruptionsvorwürfen aus ihren Parteien geworfen. Parra gilt als eine der Schlüsselfiguren des Korruptionsskandals, den die Rechercheplattform armando.info am 1. Dezember aufgedeckt hatte. Als einer von neun oppositionellen Abgeordneten soll er regierungsnahen Geschäftsleuten dabei geholfen haben, für das Lebensmittelprogramm der Regierung US-Sanktionen zu umgehen. Bis der Fall publik wurde, unterstützten die be­troffenen Abgeordneten offiziell Guaidó. Die Regierung soll oppositionellen ­Abgeordneten und dem US-Außenministerium zufolge Guaidó unterstützenden Abgeordneten Geld geboten haben, damit diese einen anderen, kooptierten Oppositionskandidaten an die Spitze des Parlaments wählen.

In einer von Tumulten begleiteten Abstimmung im Parlament entfielen auf Parra angeblich 81 Stimmen. Anwesend waren unterschiedlichen Quellen zufolge bis zu 150 Abgeordnete. Die venezolanische Nationalversammlung hat 167 Sitze, von denen mehrere wegen Suspendierungen zurzeit nicht besetzt sind. Neben den 50 Abgeordneten der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) müssten demnach 31 Oppositionelle für Parra gestimmt haben. Doch daran gibt es Zweifel. Zwar gilt als erwiesen, dass das für die Eröffnung einer Parlamentssitzung nötige Quorum von 84 Abgeordneten erreicht wurde. Doch das neu gewählte Präsidium veröffentlichte keine Namensliste. Später behauptete Parra, die Liste sei gestohlen worden.

Guaidó selbst, der die Sitzung als amtierender Parlamentsvorsitzender üb­licherweise hätte eröffnen müssen, war nicht im Saal. Die Regierung hatte das Parlamentsgebäude im Zentrum der Hauptstadt Caracas von der Polizei und der Nationalgarde absperren lassen und die Abgeordneten vor dem Betreten kontrolliert. Guaidó behauptete, dass er und weitere Oppositionelle nicht zum Parlamentsgebäude vorgelassen worden seien. Videoaufnahmen zeigen jedoch, dass er das Parlament hätte betreten dürfen. Doch er bestand gegenüber den dort postierten Nationalgardisten darauf, dass ihn mehrere suspendierte Abgeordnete begleiten. Anschließend versuchte er medienwirksam über den Zaun zu klettern. Am späten Nachmittag ließ sich Guaidó in den Redaktionsräumen der opposi­tionellen Zeitung El Nacional dann mit angeblich 100 Stimmen selbst zum Parlamentsvorsitzenden wählen. Sollten beide Darstellungen stimmen, müssten einige Abgeordnete an beiden Abstimmungen teilgenommen und auch für beide Kandidaten gestimmt haben. Rekonstruieren ließen sich die Ereignisse bisher nicht.

Zwei Tage später hielt Parra zunächst erneut eine kurze Sitzung im Parlamentsgebäude ab, bis Guaidó und seine 100 Abgeordneten das Gebäude stürmten. Dort hielten sie eine zweite Sitzung ab, in der sie Guaidó erneut zum Par­lamentsvorsitzenden wählten, diesmal am dafür vorgesehenen Ort, an dem sie die »Rückeroberung« der Nationalversammlung feierten. Doch ist der Konflikt noch nicht entschieden. Die Regierung Maduro erkannte die Wahl Parras als rechtmäßig an, auch wenn dieser nach jüngstem Stand keineswegs die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat. Das Oberste Gericht forderte Parra am Montag dazu auf, die Teilnahme- und Abtimmungslisten der Sitzung einzureichen. Am selben Tag kündigte die US-Regierung Sank­tionen gegen Parra sowie sechs weitere Abgeordnete und Regierungsfunktionäre an, denen sie vorwirft, an Maduros »gescheitertem Versuch, die Kontrolle über die Nationalversammlung zu übernehmen« teilgenommen zu haben.

Doch es geht im venezolanischen Konflikt schon lange nicht mehr um die Einhaltung von Formalitäten, sondern darum, wer in der Lage ist, seine Verfassungsinterpretation durchzusetzen. Durch die neue Runde im Machtkampf droht die Regierung Maduro weiter an internationaler Unterstützung zu verlieren. Selbst befreundete Regierungen wie die argentinische und die mexikanische kritisierten die Militärpräsenz vor dem Parlamentsgebäude. Die USA unterstützen weiterhin Guaidó, während die russische Regierung die Wahl Parras als »legitimen demokratischen Prozess« lobte.

Die venezolanische Opposition könnte im Land ihre letzte institutionelle Bastion einbüßen und noch abhängiger von der US-Regierung werden. Wahrscheinlich ist, dass die regulär für Ende des Jahres vorgesehenen Parlamentswahlen vorgezogen werden. Wegen der Spaltung der Opposition könnte die ­Regierung dann triumphieren. Guaidó will den Konflikt um das Parlament dazu nutzen, seine Mobilisierungsfähigkeit wiederzuerlangen und den vene­zolanischen Machtkampf zurück auf die Straße zu bringen. Es ist voraussichtlich seine letzte Chance, sich als Oppositionsführer zu behaupten. Schon seit längerem gibt es Unzufriedenheit mit Guaidós Vorgehen. In knapp einem Jahr als selbsternannter Interimspräsident konnte er keine handfesten Erfolge vorweisen. Weder gelang es ihm, das venezolanische Militär auf seine Seite zu ziehen, noch führten die US-Sanktionen zu einem institutionellen und so­zialen Zusammenbruch des Landes. Er konnte zuletzt kaum noch Anhänger zu Straßenprotesten bewegen; zaghafte Verhandlungsversuche unter Vermittlung Norwegens versandeten. Bereits seit Mitte vergangenen Jahres gibt es zudem Vorwürfe der Veruntreuung gegen Guaidó: Ende November entließ er seinen »Botschafter« in Kolumbien, den altgedienten Oppositionspolitiker Humberto Calderón Berti. Dieser bekräftigte anschließend, dass Guaidós Umfeld nach dem Versuch, im Februar von Kolumbien aus Hilfsgüter über die Grenze zu bringen, Gelder unterschlagen habe. Dabei soll es unter anderem um Mittel für desertierte Soldaten gehen, die stattdessen für Prostituierte sowie Alkohol ausgegeben worden seien.

Der derzeitige Konflikt offenbart Brüche in der Opposition, hat Guaidó aber zu einem gewissen Grad nochmals taktischen Rückhalt verschafft. Die gravierenden wirtschaftlichen Probleme Venezuelas bleiben derweil ungelöst.