Mädchen stabilisieren, Jungen sensibilisieren

In Nordrhein-Westfalen wird teilweise Geschlechtertrennung zur Regel, Versuche mit "reflexiver Koedukation" gibt es in fast allen Bundesländern

Geschlechtertrennung" heißt das Zauberwort der Zukunft für die Verwirklichung der Chancengleichheit von Mädchen und Jungen an nordrhein-westfälischen Schulen. Nach dem Willen von Schulministerin Gabriele Behler (SPD) sollen künftig in einigen Fächern Schülerinnen und Schüler wieder getrennt unterrichtet werden. In den neuen Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe sowie für die Sekundarstufe I der Gesamtschulen werde bereits vom kommenden Jahr anstatt der bislang geltenden "undifferenzierten" eine "reflexive Koedukation" verlangt, erklärte Behler in der vergangenen Woche. Bis zum Jahr 2000 müßten alle Schulen zwischen Rhein und Ruhr Programme für eine gezielte Mädchen- und Jungenförderung vorlegen.

Ziel sei, so die Schulministerin, "Mädchen zu stabilisieren und Jungen zu sensibilisieren". Nach der Einführung gemischtgeschlechtlicher Klassen ab Mitte der sechziger Jahre sei das Neue nicht mehr hinterfragt worden. Nun müsse der gemeinsame Unterricht auf den Prüfstand gestellt werden. Während Mädchen in Mathematik, Technik, Informatik und den Naturwissenschaften besonders gefördert werden müßten, gebe es bei Jungen Aufholbedarf bei den "sozialen Kompetenzen". Die Einführung eines Faches "Soziale Kompetenz" für Jungen ist allerdings bislang nicht geplant. Behler betonte, daß es kein Zurück zur Mädchenschule geben solle, da dies "lebensfremd" sei. Es könne jedoch "in bestimmten Zusammenhängen - etwa in Sport, Sexualerziehung oder Naturwissenschaften - sinnvoll sein, Mädchen und Jungen zeitweise zu trennen, um den eigenen Zugang zum Lernen zu erleichtern". Die sozialdemokratische Ministerin setzt damit eine Vereinbarung des rot-grünen Koalitionsvertrages von 1995 um. Damals stellten SPD und Bündnisgrüne fest, daß die Koedukation "inhaltlich weiterzuentwickeln" sei. "Vorübergehende Geschlechtertrennung in bestimmten Fächern, zu bestimmten Phasen des Unterrichts oder für bestimmte Altersgruppen ist geeignet, gezielt die Stärkung von Mädchen zu fördern", heißt es im Koalitionsvertrag.

Die Landeselternschaft NRW hat den Behler-Vorstoß begrüßt: "Man sollte es mit der Binnendifferenzierung auf alle Fälle einmal versuchen", erklärte deren Geschäftsführerin Ingeborg Erckelentz. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) reagierte mit verhaltener Zustimmung. Während die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange im Saarländischen Rundfunk empfahl: "Die anderen Bundesländer sollten folgen", reagierte der nordrhein-westfälische Landesverband zurückhaltender. Zwar fordere die GEW bereits seit Jahren die zeitweise Aufhebung des koedukativern Unterrichts, doch fehlten bislang immer noch "ausreichende Anregungen darüber, wie Schulen eine reflexive Koedukation in die Praxis umsetzen können", beanstandete die stellvertretende NRW-Landesvorsitzende, Ilse Boese. Außerdem erfordere ein teilweise getrennter Unterricht mehr Lehrpersonal. "Dies ist aber von seiten des Ministeriums nicht vorgesehen", kritisierte Boese. Peter Silbernagel vom Philologenverband NRW schloß sich dieser Sichtweise an. Es müßten mehr LehrerInnen eingestellt werden, denn eine solche Reform sei "nicht zum Nulltarif zu machen", erklärte er. Das sieht die Ministerin jedoch anders. Laut Behler benötige die geplante Differenzierung keine zusätzlichen Lehrerinnen und Lehrer. So ließen sich beispielsweise beim Sport Mädchen und Jungen zweier Parallelklassen zusammenführen. "Genauso läßt sich das in anderen Bereichen praktizieren", meint Behler.

Die Stärken und Schwächen des koedukativen Unterrichts wurden in Nordrhein-Westfalen über drei Jahre an drei Schulen in Bielefeld untersucht. Neben der Laborschule - einer Experimentaleinrichtung des Landes zur Erprobung neuer Lehr- und Lernformen - nahm das Schulministerium in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld eine Gesamtschule und ein Gymnasium unter die Lupe. Die entstandene Studie mit dem Titel: "Was Sandkastenrocker von Heulsusen lernen können" kommt zu dem Schluß, daß gemischte Klassen weibliche und männliche Verhaltenweisen eher verstärken würden, statt sie aufzubrechen. Noch keine verwertbaren Ergebnisse hat ein Projekt an der Gesamtschule Bonn-Beuel erbracht. Dort werden den Schülerinnen und Schülern für zwei Stunden in der Woche sogenannte "Flirtkurse" angeboten. Geschlechtergetrennt und unter Anleitung eines speziell ausgebildeten evangelischen Pfarrers soll in diesen Arbeitsgemeinschaften der Umgang mit dem "anderen Geschlecht" erleichtert werden.

Versuche, geschlechtergetrennten Unterricht an gemischtgeschlechtlichen Schulen punktuell einzuführen, gibt es in fast allen Bundesländern seit Jahren. In Bayern etwa wurde einigen Schulen ein geschlechtsspezifisches, differenziertes Unterrichtsangebot in naturwissenschaftlichen Fächern genehmigt. "Wer will, kann es machen", erklärt Brigitta Waltenberger-Klinesch (CSU) vom bayrischen Kultusministerium. Die Auflage ist allerdings, daß ein solches Angebot kostenneutral einzurichten ist. In München praktizieren fünf städtische Realschulen und zwei Gymnasien eine "differenzierte Koedukation" auf freiwilliger Basis. "Mit Erfolg", wie die Mädchenbeauftragte des Münchner Schulreferats, Brigitte Jantzen, feststellt. Das Lernklima sei besser, die Schülerinnen seien selbstbewußter, und trauten sich in den bislang männlich dominierten Fächern mehr zu. Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) gilt hingegen nicht als Anhänger der "differenzierten Koedukation". Er erklärte, daß "guter Unterricht sowohl Buben als auch Mädchen bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit" helfe. Nichtsdestotrotz sind allerdings in Bayern mehr als ein Viertel aller Schulen ohnehin monoedukativ.

Wie in Nordrhein-Westfalen werden auch in Berlin die Zeiten der "undifferenzierten Koedukation" bald vorbei sein. Das ist für Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) die Konsequenz aus einem sechsmonatigen Test an 156 Berliner Schulen. Neben dem Sportunterricht waren hier die Fächer Physik, Chemie, Arbeitslehre, Geographie und Informationstechnische Grundbildung/ Computerkenntnisse geschlechtergetrennt unterrichtet worden. Jetzt soll es an allen Berliner Schulen möglich sein, daß die Lehrergesamtkonferenz in Absprache mit der Schulaufsicht des Senats entscheidet, ob in einigen Fächern der Unterricht für Jungen und Mädchen zeitlich begrenzt oder auch dauerhaft getrennt wird. Die Koedukation sei "in den fünfziger Jahren" eingeführt worden, "um der Diskriminierung von Mädchen und Frauen im Bildungswesen ein Ende zu setzen", hatte Stahmer bereits auf einer Tagung im Sommer 1997 festgestellt: "Doch unsere heutigen Erkenntnisse beweisen, daß diese Hoffnung eine Illusion war."

Im rot-grünen Hessen ist die Möglichkeit einer begrenzten Aufhebung der Koedukation bereits gesetzlich verankert. So legt das 1997 novellierte hessische Schulgesetz zwar in Paragraph 3, Absatz 4, weiterhin fest: "Schülerinnen und Schüler werden grundsätzlich gemeinsam unterrichtet." Doch einschränkend heißt es darauf folgend: "Sofern es pädagogisch sinnvoll ist, können sie zeitweise auch getrennt unterrichtet werden." Die Umsetzung überläßt Wiesbaden den einzelnen Schulen.