Mit dem Nachtzug in die polnische Hauptstadt

Warschau war schau

Polnische Orte I: Hauptstadt-Crash-Kurs - Die höchsten Gebäude, billigsten Suppen, schnellsten Fahrstühle

Schon bei der Ankunft am Warszawa Centralna ist der Stadtführer weg. Geklaut? "Anders Reisen", in Deutsch? Ziemlich unwahrscheinlich. Uwaga!!! Uwaga!!!! Die überall im Bahnhofsgebäude sichtbaren Aufkleber mit roten Warndreiecken und schwarzen Händen, die nach irgendwas greifen, haben jedenfalls schon mal ihre Wirkung getan.

Macht aber nichts, denn das Buch war nur geliehen; außerdem hieß es darin, die Stadt sei übersichtlich, weil handlich unterteilt, in Altstadt, Neustadt, Schlafstadt, und zügig in den Griff zu bekommen. Einem Stadtführer auf dem Stand von 1993 ist ohnehin nicht zu trauen, schließlich gehört die Stadt zu jenen urbanen Zentren des Ex-Ostblocks, die sich im Zeitraffertempo entwickeln sollen.

Warschau-Bilder, das sind Menschen mit Fellmützen, Kalter Krieg und dazu die Stimme des Nachrichtensprechers: "Warschau, bedeckt, minus 40 Grad". Natürlich ist nichts davon mehr wahr, an diesem Augusttag ist es ziemlich heiß, der Himmel knallblau, schon morgens um halb sieben, und wir sind völlig over-dressed.

Warszawa Centralna ist ein Untergrundbahnhof. Bei der Einfahrt in die U-Bahn-Station kapiert man nicht so recht, daß man jetzt angekommen ist. Wo beginnt die Stadt? Rolltreppen tragen einen nach oben, aber der nicht-polnischsprachige Tourist erwischt garantiert den falschen Ausgang. Andere sind zielsicherer: Ein Soldat rollt sich aus dem Schlafwagen direkt auf das Transportband. Obwohl die Treppen ihm entgegenkommen, marschiert er stur weiter nach oben. Rings um den Hauptbahnhof konkurrieren die Hochhäuser mit dem Kulturpalast - Stalins Geschenk an den Bruderstaat - um die Lufthoheit. Das "Mariott"-Hotel hat gewonnen, Stalin verloren. Upstairs, nach oben, au ciel kostet 75 Zloty, sagt der Fahrstuhlführer. Den Blick über die Skyline gibts allerdings erst ab neun.

Ein Soldat rollt sich aus dem Schlafwagen direkt auf das Transportband. Obwohl die Treppen ihm entgegenkommen, marschiert er stur weiter nach oben.

Die atemberaubendste Aussicht und schnellsten Fahrstühle aber verspricht der von südkoreanischen InvestorenGruppe Daepol hochgezogene Warschauer Handelsturm, der im September eröffnet werden soll: Fahr' rauf und "it almost makes you want to shout, 'I am the king of the world'", wirbt eine Broschüre für das upcoming Warschau.

Stare Miasto, ein Zeitsprung: Gegen zehn wird der Kaffee auf dem Marktplatz Rynek Nowego Miasto in der Altstadt ausgeschenkt, dem ersten Anlaufpunkt für Warschau-Touristen. Noch bewachen Sicherheitskräfte die leeren Tische und Stühle und passen auf, daß niemand ein Marlboro-Schirmchen wegträgt. Erste Touri-Gruppen werden auf den Platz geführt und scharren mit den Füßen. Wahrscheinlich kann man hier auch prima frühstücken, sollte aber wissen, wo. Sonst muß ein schnelles Schokoladensahnetörtchen reichen.

Die Altstadt ist nicht älter als die Neustadt, sieht aber alt aus. Die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg völlig zerbombte Architektur ließ die polnische Regierung nach den Originalplänen aus dem 18. Jahrhundert in den Fünfzigern rekonstruieren. Zur selben Zeit, als in den Warschauer Vorstädten Bettenburgen für die arbeitende Bevölkerung hochgezogen wurden, entstand im Zentrum der Stadt die Stare Miasto aufs Neue. Und seit 1984 haben die Warschauer auch ihr altes Königsschloß wieder.

Wenn deutschen Nostalgikern die Argumente für ein Berliner Stadtschloß ausgehen, verweisen sie gern auf das Vorbild Warschau, schließlich habe man es dort ebenso gemacht. In der polnischen Hauptstadt allerdings wurde die historische Rekonstruktion immer auch als ein Akt des Widerstands gegen die Deutschen begriffen.

Vom Warschauer Ghetto kaum noch eine Spur, das jüdische Leben, das die Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmte - ein Drittel der Gesamtbevölkerung war jüdischer Herkunft - existiert nicht mehr. Dennoch spricht man in Warschau neuerdings von einer Renaissance jüdischer Kultur im kleinen.

Heute lassen sich diese im Fiaker durch die historische Kulisse kutschieren und schwenken die Videokamera. Was muß sonst noch auf den Film? Das Denkmal der Helden des Ghettos. Vorn am Sockel Kränze und Blumen, hinten hat jemand seine Butterbrote abgelegt. Daß es sich um jüdische Helden handelt, muß man sich dazudenken. Auf dem Betonplatz vor dem Denkmal wartet ein Dutzend Soldaten. Sie vertreiben sich die Zeit mit Gruß-Übungen. Nach vorne, zum Chef der Einheit, nach hinten, zu den Kameraden in der zweiten Reihe. Als Schluß ist, marschiert die Truppe in die Kirche.

Vom Warschauer Ghetto kaum noch eine Spur, das jüdische Leben, das die Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmte - ein Drittel der Gesamtbevölkerung war jüdischer Herkunft - existiert nicht mehr. Dennoch spricht man in Warschau neuerdings von einer Renaissance jüdischer Kultur im kleinen. Und der 25jährige Baruch Rabinowitz, neuer Rabbi der Warschauer jüdischen Community, die insgesamt 300 Mitglieder zählt, vermutet sogar, es handele sich um den "Beginn einer gewaltigen Renaissance". Die Demokratie, so Rabinowitz, habe es den Leuten ermöglicht, sich mit ihrer jüdischen Identität auseinanderzusetzen.

Der in Moskau aufgewachsene, in Israel ausgebildete Rabinowitz, der sich selbst als modern-orthodox und als völlig unpolitisch beschreibt, sieht seine Aufgabe vor allem darin, die städtische Community zu entwickeln. Für die Zukunft plant er die Einrichtung von Kursen zu jüdischen Themen an der Warschauer Universität. Das Thema Antisemitismus in Polen spielt Rabinowitz herunter. Das Land stehe in dem Ruf antisemtisch zu sein, und natürlich komme es vor, daß Juden auf offener Straße beschimpft werden, in Polen sei der Antisemitismus aber nicht stärker verbreitet als in anderen europäischen Ländern.

Während die einen sicher sind, daß sich die Stadt auf dem besten Weg zur echten Multikulti-Metropole befinde, meinen die anderen, ihr fehle die urbane Tradition. Warschauer seien doch keine Warschauer, sondern zugezogene Provinzler, behauptet vor allem die Krakauer Konkurrenz.

Die Taxifahrt zum "Russen-Markt" führt über die Weichsel auf die andere, die arme Seite der Stadt. Die Tour ist natürlich teurer als die Innung empfiehlt, dafür geht es schnell, doch zu spät kommen wir trotzdem. Die Öffnungszeiten sind nicht gerade kundenfreundlich, und die Russen haben längst eingepackt, Kalaschnikows sind im Sortiment nicht mehr erhältlich. Nur Turnschuhe und Unterwäsche wären noch zu haben. Das riesige Gelände des Stadions, auf dem - Uwaga! - die "Elite der Taschendiebe" versammelt sein soll ("Anders Reisen"), hat sich gegen Mittag in eine Müllkippe verwandelt.

Die gepflegtere Seite des multi-kulturellen Warschau findet man in den Restaurants und Bistros im Zentrum. Kuttelsuppen? Warschau hat das beste japanische Restaurant Europas, will die Gazeta Wyborzca herausgefunden haben. Billigeres und tradtionelleres Essen wird in den Milchküchen wie der Pod Barbakanem in der Altstadt aufgetischt. Nudeln, die hilflos in Kefir schwimmen, müssen aber vielleicht doch nicht sein. Wir vertrauen vorsichtshalber auf den Tip des Kollegen vom Berliner Stadtmagazin und wechseln die Volksküche. Polnisch-jüdische Speisen gibt es im Pod Samsonem, Kotlet de volaille, ziemmiaki, cymes oder Bukiet miesny, ryz und eine Speisekarte, die alles ins Englische übersetzt.

Während die einen sicher sind, daß sich die Stadt auf dem besten Weg zur echten Multikulti-Metropole befinde, meinen die anderen, ihr fehle die urbane Tradition. Warschauer seien doch keine Warschauer, sondern zugezogene Provinzler, behauptet vor allem die Krakauer Konkurrenz. Eine Unterscheidung, die Gabriele Lesser, freie Korrespondentin in Warschau, so nicht treffen will. Die Warschauer, sagt sie, haben die Fähigkeit, Kultur zu konsumieren, sie machen Gebrauch davon, ohne sich mit ihr gleich identifizieren zu müssen und betrachten sich ganz im Unterschied zu den Krakauern nicht als Kulturträger. Sie haben gelernt, diese Stadt an sich abperlen zu lassen. Wir auch: Warschau? War schau!