20 Jahre Mauerfall

Land of the Living Dead

20 Jahre »Mauerfall«. 20 Jahre Deutschland.

Nie mehr vorbei

Nach meiner Wahrnehmung war der Mauerfall nicht besonders spektakulär. Mich hat das alles eher überfordert. Eigentlich wollte ich damals zu einer anderen Party, in der Hoffnung, dort jemanden zu treffen, der mir wichtig war. Nun stand ich mit einer spontan aus der rheinland-pfälzischen Provinz, wo ich zur Schule gegangen war, in einem Scirocco angereisten Combo dauer­bekiffter Jungs die ganze Nacht in der zwanzigsten Reihe, sah nichts außer Tausenden von schlecht angezogenen Besoffenen, trank selbst Dosenbier und wurde angeblich »Zeugin eines die Welt verändernden Ereignisses«.

So hatte ich mir den Abend nicht vorgestellt, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Also machte ich mir schlecht gelaunt noch ein warmes Dosenbier auf, das die Provinzclique tatsäch­lich im Kofferraum von der Provinz bis nach Berlin gekarrt hatte, als ob es hier keines geben würde. Und ich dachte daran, wie ich die Clique, die begann, sich wie auf dem Ballermann zu benehmen, wieder loswerden könne, und daran, wann das alles hier endlich vorbei sei, damit man noch etwas Sinnvolles mit der angebrochenen Nacht machen könne. Dass es tatsächlich nie mehr vorbei sein würde bzw. dass das hier erst der Anfang einer nun für immer andauernden schlechten Party sein würde, konnte man ja damals noch nicht ahnen. Zumindest ich konnte das nicht.

Ich dachte ungefähr so etwas wie: Geh’n wir mal kurz gucken, wie die Mauer fällt. So wie man früher in der rheinland-pfälzischen Provinz aus Langeweile mal kurz am frühen Abend aufs Schützenfest ging. Um die Idioten in Schützenuniform anzupöbeln oder eine Runde Autoscooter zu fahren, bevor das eigentliche Ausgeh­programm begann. Das bedeutete dann meist, stundenlang mit dem erwähnten Scirocco über die anderen Dörfer zu fahren, dabei Dosenbier zu trinken und The Smiths zu hören – wobei ich »Hang the DJ« dekadent fand, denn ich wäre gerne mal irgendwohin gegangen, wo’s überhaupt einen DJ gegeben hätte.

Es gab aber nur die Auswahl zwischen einer Kneipe von Heu-Hippies und einer mit Bauernbikern. Am Ende landete man schließlich in einer der beiden halbwegs akzeptablen Kneipen, um dort zu kickern, Billard zu spielen oder mit irgendwem herumzuknutschen und daran zu denken, wie mondän das Leben im Vergleich hierzu werden würde, wenn man erst mal erwachsen, also über 20 sein und in einer richtigen Stadt wie Koblenz, Mainz oder sogar Frankfurt leben würde.

Ich war jetzt 20, und ich hatte es bis nach Berlin geschafft, in meinen Augen eine Riesenkarriere. Doch nun stand ich hier – als »Zeugin der Geschichte« – mittendrin in einem Matsch aus Kippen, Pisse, Wurst- und Pommesresten, Bier und Erbrochenem in der zwanzigsten Reihe vor dem Mauerfall, langweilte mich und musste erkennen, dass ich auf das größte Schützenfest aller Zeiten geraten war, noch dazu eines, wo am Montag nicht das Zelt abgebaut wird und die Musikkapelle nach Hause fährt.

Sandra Korn

 

Krebs

Popradio produziert akustisch bereinigte Räume. Unerwünschte Stimmen, Gruppen, Themen, Sounds finden nicht statt: Armut, Krankheit, Junkies, Ausländer, Knast, davon hören wir nichts im Popradio, all das würde einen so genannten Ausschaltimpuls beim Hörer hervorrufen. Das war nicht immer so. Beim hessischen Popradio HR3 gab es bis weit in die achtziger Jahre hinein eine wöchentliche Wunschsendung für Knackis. Als »Knackis« wurden damals gönnerkumpelhaft Insassen von Justizvollzugs­anstalten bezeichnet. Die Moderatoren, darunter Thomas Koschwitz, im Fernsehen später Gastgeber der »Hamstershow«, erklärten geduldigen Hörern zu Beginn jeder Sendung, dass »Knackis« oftmals unverschuldet in ihre missliche Lage geraten, dass viele von ihnen auf einem guten Weg sind, dass diese Sendung ein Beitrag zur Wiedereingliederung dieser armen Kerle in unsere Gesellschaft … usw. usw …

Ein zähflüssiger Sermon aus seinerzeit konsensfähigem Sozialkitsch und zeitlosem Gratismitleid, der einen gewaltigen Ausschaltimpuls auslöste. Waren dann genug gute Worte gesprochen, folgte ein Musikprogramm, das penibel darauf bedacht war, die Knackis nicht als finstere Gesellen mit discosexuellen Neigungen oder todesmetallischen Abgründen ins Bild zu setzen. Eine durch und durch durchschnittliche Song-Auswahl sollte zeigen, dass diese Knackis bereit sind zur Rückkehr in unsere Mitte.

So weit, so schauderhaft. Aber heute? Wäre eine derartige Sendung im Popradio undenkbar. Täter, Kriminelle, Kranke und Junkies bekommen in den akustisch bereinigten Räumen des Popradios keine Plattform. Sie finden nicht statt. Oder wenn, dann als zu beseitigendes Problem.

Etwa zur selben Zeit lief im selben Programm, ebenfalls einfühlsam moderiert von Thomas Koschwitz, ein Wunschkonzert für unsere Landsleute in der so genannten DDR. Hessen grenzte schon damals an Thüringen und die Airwaves kennen keine Grenzen. Nur Reichweiten. Die Radio-Ansprache an die Insassen der DDR unterschied sich kaum von der Ansprache an die Insassen der JVA. Beide Zielgruppen brauchten Hilfe, beide Zielgruppen waren minderbemittelt. Allerdings gab es mit der DDR mehr Probleme als mit den Knackis.

Die Staatssicherheit kam bald dahinter, dass der Hessische Rundfunk DDR-Bürgern Wünsche erfüllt. Also fing sie Post an den Hessischen Rundfunk ab, die aus der DDR kam. Daraufhin gab Thomas Koschwitz öffentlich-rechtlich subversiv seine Wiesbadener Privatadresse über den Sender durch. Die Musikauswahl der DDR-Bürger unterschied sich übrigens kaum von derjenigen der Knackis. Jahre später, die Mauer war gefallen, hatte ich selbst eine Sendung bei HR 3.

Anfang der Neunziger spielte ich öfter Musiktitel neuer Bands aus Hamburg. Eine davon hieß Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs.

»Der Name der Band«, heißt es auf Wikipedia, »bezieht sich auf die Schlagzeile ›Ostzonen-Suppenwürfel bringen Krebs‹ aus den Anfangstagen der Bild-Zeitung. Die entsprechende Ausgabe erschien am 2. August 1952, ihre Schlagzeile bezog sich auf die gesundheitsschädliche Wirkung von Igelit-Anteilen in den so genannten Bino-Produkten.«

Ungefähr 40 Jahre nach Erscheinen der genannten Bild-Ausgabe stellte ich in meiner Sendung die neue Platte von Ostzonensuppenwürfel­machenkrebs vor. Und sagte mindestens zehn Mal in einer einzigen Moderation: Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs. Ich hielt das für lustig.

Während ich da so fortwährend »Ost­zonensuppenwürfelmachenkrebs« vor mich hin sagte, versammelte sich jenseits der Scheibe des Regieraums eine Besuchergruppe. Normalerweise haben die Besucher diesen neugierig-glücklichen Gesichtsausdruck von Leuten, die mal hinter die Kulissen schauen dürfen und voller Dankbarkeit Autogramme von Leuten entgegennehmen, die sie gar nicht kennen. Die Gesichter der Besuchergruppe an diesem Abend sahen ganz anders aus. Skeptisch, missmutig. Sie wollten keine Autogramme und gingen recht bald wieder, ohne das Gespräch mit dem Moderator zu suchen. »Was war denn mit denen?« fragte ich über die Sprechanlage, als sie weg waren. »Die kamen aus Thüringen.«

Klaus Walter

 

Ostzonaler Artenzoo

Für die durch alliierte Ganztagsbetreuung mühsam dressierten Bundesbürger war die DDR ein Objekt ebenso sehnsüchtiger wie distanzierter Betrachtung. »Rüber zu fahren«, erfüllte Westberliner mit der kindlichen Freude von Besuchern eines weitläufigen zoologischen Freigeheges. Selbst Tierarten, die man in der freien Welt allenfalls in streng bewachten Käfigen als exotisch-abschreckendes Beispiel zu sehen bekam, schienen sich hier unbekümmert bewegen zu dürfen, obwohl sie alles andere als frei waren: DDR und BRD verhielten sich zueinander wie Tierpark Friedrichshain und Zoologischer Garten. Wie der Gang in den Tierpark war die Fahrt über die Grenze eine ganz besondere Zeremonie, auf die Groß und Klein sich schon Tage vorher freuten. Man sammelte Essensreste, um seine Lieblinge füttern zu können, dachte sich allerlei Tricks aus, um den Eintrittspreis zu drücken, und vertrieb sich die Zeit beim Schlangestehen (der Andrang war oft enorm) mit der liebevollen Betrachtung der Parkwächter mit ihren pittoresken Uniformen und ihrem ulkigen Stolz.

Bevorzugte Besuchszeit war der Sommer, denn dann durften sich auch die kurio­sesten Tierarten in ihren Lauben tummeln, die mit ihren niedlichen Gärten und archaischen Plumpsklosetts mehr Abwechslung boten als die lichtarmen Plattenbauten, in die sie sich während der Winterzeit verkriechen mussten. Zu den Lieblingsbeschäftigungen des kleinen, treuen Ostrudels, das meine Eltern und ich in meinen Kindertagen regelmäßig besuchten, gehörte während jener Jahreszeit das Grillen steakähnlicher Fleischklumpen, die ihnen von ihren Pflegern zugeteilt wurden und an denen sie sich ihrer Unverdaulichkeit zum Trotz drollig zu ergötzen pflegten. Dazu gab es literweise selbstgebrannten Schnaps – ein Getränk, gegen dessen Wirkungen die Osttiere dank jahrzehntelanger Selbsttherapie fast völlig immun geworden waren, so dass wir verzärtelten Westler, die nach dem dritten Glas an Wahrnehmungsstörungen zu leiden begannen, ihnen neidische Bewunderung zollten.

Nur an Auslauf hat es unseren Lieblingen immer gefehlt, und wenn sie einmal in den Genuss kamen, uns für ein paar Tage besuchen zu dürfen, mussten wir sie an sehr kurzer Leine halten, damit sie nicht unschuldigen Konsumenten die Currywurst vom Teller schnappten. Die irre Wildheit ihres Blicks, ihr Lechzen beim Anblick einfachster Milkaschokolade und das Knurren, mit dem sie ihre Wärter bedachten, sobald diese außer Reichweite waren, hätten mir schon damals zu denken geben müssen. Irgendwann musste es zum Ausbruch kommen.

Heimlich gefördert durch die westliche Animal Liberation Front und unterstützt durch mitleidvolle Pfleger, konnten selbst unsere kleinen Lieblinge, obwohl von der Natur nicht mit einem Übermaß an Intelligenz gesegnet, sich eines Tages befreien. Danach ging alles ganz schnell. Die Tierparkdirektion dankte feige ab, das Freigehege wurde aufgelöst, und die Westler erklärten sich voreilig zur Adoption der orientierungslos durch die Konsumtempel streunenden Osttiere bereit, von welchen sie zum Dank mit der gleichen Aggressivität angekläfft wurden, mit der die Osttiere vorher ihren Pflegern begegnet waren. Auch unsere kleinen Lieblinge wollen seither von ihrer ehemaligen Anhänglichkeit nichts mehr wissen. Wie die meisten ihrer Artgenossen siedeln sie, nachdem sie überall bei uns ihre Duftmarken gesetzt haben, nun freiwillig wieder in ihrem angestammten Terrain zwischen Elbe und Oder und schützen es brutaler gegen Eindringlinge, als die Tierparkdirektion es je vermocht hätte. Ich vermisse sie nicht, aber den Zaun, der uns früher von ihnen trennte und dadurch einen freundlichen Umgang ermöglichte, wünsche ich mir oft zurück.

Magnus Klaue

 

Im Glanze dieses Glückes

Meine Mutter, die in den fünfziger Jahren aus Erfurt in den Westen türmte, hat sich über den Fall des antifaschistischen Schutzwalls sehr gefreut. Das durfte sie auch, denn sie ist meine Mutter und ihre Familie fehlte ihr sehr. Ich habe mich nicht gefreut, nicht einmal für meine Mutter, doch zum Glück hat sie das nie gemerkt. Ich habe vor meinem Fernsehkasten gehockt, zwischen den Sondersendungen von ARD und ZDF hin- und hergeschaltet und zum ersten Mal in meinem Leben – ich war 26 Jahre alt – keine Lust mehr auf die Zukunft gehabt. Denn die Zukunft, die mir bevorstand, würde gewiss nicht die sein, die ich wollte, die eines globalen Sozialismus. Der Zug war gegen die Wand gefahren, und durch das große Loch, das er beim Crash gerissen hatte, strömten Menschen, die als einzigen Begriff für ihre Stimmungslage nur das Wort »Wahnsinn« kannten.

Wie Wahnsinnige kamen sie mir auch vor, und ich hätte sie alle schütteln und anschreien mögen, aber weil man die Leute, die im Fernsehkasten gezeigt werden, nicht schütteln und anschreien kann, lernte ich in jenen Tagen auch, was Ohnmacht bedeutet. Mir war klar, dass all diese Nationalbesoffenen und Kadewe-Entdeckungsfahrer auf einen wie mich gerade noch gewartet hatten. Also blieb ich lieber in Hamburg vor meinem Fernsehkasten hocken, statt in Berlin die Massen zu agitieren. Obwohl die Zukunft mir vergällt war – 27 wollte ich schon werden und eben nicht als das erste Todesopfer der geöffneten Mauer in die Geschichte eingehen. Außerdem war ich neugierig, ob all das, was ich mir ausmalte, tatsächlich geschehen würde. Um dann, bei allem Entsetzen, wenigstens die Befriedigung empfinden zu können, es immer schon gewusst zu haben.

Das war äußerst bescheuert, denke ich heute. Überhaupt kommt mir der Bursche, der ich vor zwei Jahrzehnten gewesen bin, partiell sehr dämlich vor, wehleidig und dünkelhaft. Er hätte mich allerdings auch nicht gemocht, mich und mein seit ’89 stark gewachsenes Bedürfnis, lieber nicht Recht zu behalten, wenn es um die Prophezeiung von Katastrophen geht. Mit solchen Voraussagen richtig zu liegen, verschafft nämlich keine Genugtuung. Desaster sind keine Freudenspender. Und ich hatte leider mit allem Recht, was ich mir vorstellte angesichts dieser Wiedervereinigung von Wahnsinnigen, die möglichst in Einzelzellen oder wenigstens in zwei scharf bewachte Staaten weggeschlossen gehörten. Der Chauvinismus, Rassismus, Militarismus, die Anmaßung, das Kulturgeschwätz, die Selbstgerechtigkeit – diese Explosion von Deutschtum und Niedertracht nach der Implosion der DDR hat mich wirklich nicht überrascht. Nur das Tempo, in dem dieser einzigartige Menschenschlag sich von der Scham befreit hat, die er über seine einzigartigen Verbrechen sowieso nie fühlte: Das hat meine dunkelsten Ahnungen überstiegen.

Wenn sie wenigstens ein paar Tage lang den Rand gehalten hätten! Wenn ich nicht in meinem Fernsehkasten hätte beobachten müssen, wie die Mitglieder des Bundestags sofort das verdorbenste Lied der Erde grölten, nachdem Schabowski seinen welthistorischen Lapsus begangen hatte. Wenn diese Deutschen nicht im Nu die Deutschen hätten heraushängen lassen – ich hätte mich eventuell doch mit meiner Mutter freuen können. Einen Abend lang. Möglicherweise.

Kay Sokolowsky

 

Gesamtkunstwerk

Es ist heute ein Ding der Unmöglichkeit, ein Minimum an historischer und politischer Bildung, einen funktionsfähigen Restverstand und ein Mindestmaß an menschlichem Anstand miteinander zu verbinden, ohne dabei zum Antinationalisten zu werden. Diese basale Wahrheit zu verleugnen, steht freilich niemandem schlechter zu Gesicht als denjenigen, die sich durch ererbtes Bürgerrecht Angehörige der deutschen Nation schimpfen dürfen. Allein, der Mensch ist dumm und schlecht, und die Deutschen bauen traditionell ihren Stolz darauf, in der »Gemeinschaft der Völker« den Klassenprimus oder Schlimmeres zu geben. Wenn er sämtlichen Gesetzen der Logik und Faktentreue feierlich Hohn sprechen kann, ist er ganz bei sich, der deutsche Geist, und bildet sich etwas darauf ein, dem kollektiven Wahn wieder einmal zum Triumph über alles Gute, Wahre, Schöne oder sonstwie Undeutsche verholfen zu haben. »Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzendes Übel und nichts weiter«, so Hölderlin in einem seiner helleren Momente.

Die meisten Deutschen sind fest davon überzeugt, dass »ihr Volk« an mangelndem Nationalstolz leide. Es ist das große Mysterium des Nachkriegs-Deutschtums, wie jeder einzelne über eben den Nationalstolz verfügen kann, der allen gemeinsam angeblich abgeht. Und mit der Überzeugung, Nationalstolz sei etwas Gutes, ja sogar ein unverzichtbares Element eines gesunden Seelenlebens, beweisen die Deutschen auch gleich, wie viel sie aus der Geschichte tatsächlich gelernt haben.

Zum Glück »entkrampft« sich das Verhältnis der Deutschen zum Patriotismus seit einiger Zeit. Sie setzen sich zu entsprechenden Anlässen Hüte oder Perücken in den Nationalfarben auf, bilden Horden und brechen in unkontrollierte Jubelattacken oder Heulkrämpfe aus, wenn irgendeine Fußballmannschaft gewinnt oder verliert – kurz: Sie kleiden und verhalten sich so bescheuert, wie sie wirklich sind, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Geschmack, Stil, Vernunft, Würde und Zurechnungsfähigkeit dem deutschen Volkscharakter wesensfremd sind. Die Deutschen haben auch allen Grund, stolz zu sein, denn durch ihre unermüdlichen Bemühungen wurde Deutschland zu dem, was es ist: ein verstörendes, von verquerer Harmonie durchherrschtes Gesamtkunstwerk. Denn, so erschütternd es klingen mag: Diese Nation hat die Politiker, die Intellektuellen, das Fernsehprogramm, die Presse und die Jugend, die sie verdient. »Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur«, notierte Nietzsche, kurz bevor er verrückt wurde.

Nun feiern die Deutschen also 20 Jahre einig Vaterland, 60 Jahre Aushöhlung des provisorischen Verfassungssurrogats und, als wäre das nicht genug, auch gleich noch 2 000 Jahre Geschichtsrevisionismus. Man muss leider feststellen, dass ein Deutschland keineswegs weniger schlimm ist als zwei. Aber immerhin wurde die DDR mit ihrem wohlverdienten Untergang zu dem, was sie immer sein wollte: das bessere Deutschland, nämlich jenes, das nicht mehr exis­tiert. Der Traum vom Überholen ohne einzuholen – er wurde letztlich doch noch Wirklichkeit.

Oliver Schott

 

Kunsthistorisch unbedeutend

Kunstgeschichte kann der angestaubteste aller nur denkbaren Studiengänge sein. Ich habe Kunstgeschichte in Mainz studiert, an dem mit Sicherheit muffigsten Institut der ganzen Republik. Sämtliche Professoren und Dozenten sind dort fachlich dermaßen im 19. Jahrhundert hängengeblieben, dass sie zwar einen Beckmann als Talkmaster kennen, nichts aber über einen Max Beckmann wissen. Sie kennen Francis Bacon als Philosophen und Staatsmann aus dem 16. Jahrhundert. Das ehrt sie. Doch von dem gleichnamigen Maler haben sie nie gehört. Ein ästhetisch wie weltanschaulich reaktionäreres Milieu ist an europäischen Universitäten schlicht­weg nicht anzutreffen. Zu meiner Studienzeit in den neunziger Jahren hat es im Institut nicht einmal einen Fotokopierer gegeben, so dass wir Studenten, da das Ausleihen von Büchern nur in Ausnahmefällen an Wochenenden erlaubt war, Tag für Tag in der Bibliothek verbracht haben, um Skulpturen von Michelangelo oder Gemälde von Raffael, Giotto und Rubens abzuzeichnen. Wie mittelalterliche Mönche kauerten wir stundenlang über dem Zeichenblock, um uns durch Nachzeichnen einzuprägen, was in der kommenden Prüfung abgefragt werden konnte.

Doch es gab auch noch eine Welt außerhalb der Bibliotheksmauern. Und die war ebenfalls alles andere als rosig. Nach den rassistischen Brandanschlägen von Rostock, Solingen und Mölln warb das Zap, damals Deutschlands bekanntestes Hardcorepunk-Fanzine, für einen schwarzen Kapuzenpulli mit dem Aufdruck »Deutschland verrecke!« Mit dieser schlichten Botschaft auf dem Rücken saß ich eines Nachmittags in der Bibliothek zwischen muffigen Büchern, fast alle noch mit Lederrücken – es gab kaum mehr Nachkäufe nach 1890 –, meine Kluft ganz der Atmosphäre angepasst, ein Bild wie aus »Der Name der Rose«. Als plötzlich eine dieser Töchter aus reichem Hause – und fast nur Töchter aus reichem Hause studieren Kunst­geschichte in Mainz – in die Stille hinein fauchte: »›Deutschland verrecke‹? – Schämst du dich nicht?! Du studierst doch auf Staatskosten!«

Verdutzt von diesem für eine Tochter aus reichem Hause ganz schön kessen Frontalangriff, rang ich noch nach Worten, als einer der Professoren im Skriptorium auftauchte. Im angeregten Gespräch mit seinem Assistenten, uns Nachzeichner völlig ignorierend, platzte es laut aus ihm heraus: »Ach, wissen Sie, die Frauenkirche in Dresden ist kunsthistorisch völlig unbedeutend.«

Ich habe nachgeforscht. Der Professor hat völlig Recht. Falls Sie sich für Architektur interessieren, besuchen Sie lieber das Straßburger Münster, den Dom zu Worms oder den zu Hildesheim. Aber meiden Sie diesen ebenso protzigen wie klobigen Steinhaufen in Dresden. Alles in allem bin ich dem ödesten Universitätsinstitut dieses Landes nachträglich also doch zu Dank verpflichtet. In ihrer radikalen Fixierung auf kunsthistorische Relevanz hat die Wissenschaft klar gestellt, dass der deutsche Wiederaufbau-Wahn mit allem Erdenklichen zu tun hat, nur nicht mit Stil. Und die Frage, warum ich diesen Kapuzenpulli trug, hatte der Professor im Grunde ebenfalls beantwortet, so dass ich selbst gar nichts mehr erwidern musste.

Martin Büsser

 

191 – 1 = 190

Was wäre denn passiert, wenn die Mauer bis heute noch stünde?

Sicher: Ein beachtlicher Teil der deutschen Nazis säße jetzt schön hinter Schloss und Riegel. Und ja: Es wäre schon lustig gewesen zu beobachten, wie all die Stasi-Offiziere und IMs nach und nach erst die Nerven und dann den Job verloren hätten, weil ihre Opfer inzwischen alle Informationen freiwillig auf StudiVZ, Facebook und Twitter weltweit für jeden verfügbar machten. Natürlich: Tokio Hotel hätte es nie gegeben, es war ja nicht alles schlecht damals. Auch nicht zu bestreiten: Das ganze sinnlose Gefasel von Berlin als der Mega-Trend-Vibe-Sonstwas-Stadt wäre uns erspart geblieben, denn von Bonn hätte das niemand behauptet und von der »Hauptstadt der DDR« erst recht nicht. Ganz zu schweigen vom Potsdamer Platz, der wäre ja nun auch nicht nötig gewesen. Und, ja doch: Uwe Tellkamps Roman »Der Turm« hätte gar nicht erst erscheinen können. Eine »Abwrackprämie« wäre etwas ganz und gar Absurdes gewesen. Und sogenannte Hotlines, bei denen man selbst bei banalsten Anlässen anrufen und anschließend sein Anliegen, seine Adresse und seinen Lebenslauf über die Tastatur des Telefons eingeben muss, nur um dann nach ca. zehn Minuten leiernder Warteschleifenmusik an einen Mitarbeiter zu geraten, der als erstes nach dem Anliegen, der Adresse und dem Lebenslauf fragt, wären den Menschen im Osten erspart geblieben. Aber andererseits: Eine slowakische Ski-Fahrerin könnte heute noch leben, so dagegen muss sie als das letzte Maueropfer gelten. Dafür wiederum: Die Super-Illu gäbe es nicht. Und die Sportler aus dem Osten wären wenigstens noch erfolgreich, und die Menschen im Osten hätten vielleicht auch heute noch Sex. Thomas Brussig hätte seine hochnotpeinlichen Puffbesuchserinnerungen nie veröffentlichen können. Und Vera Lengsfeld (CDU) dürfte sich vermutlich schon längst überhaupt nicht mehr öffentlich äußern, es war wirklich nicht alles schlecht damals. Und auch Wolfgang Kenntemich – ach nee, der ist ja Wessi, da hätte das überhaupt nichts gebracht. Außerdem kommen solche Reaktionär-Opportunisten in jedem System nach oben. Und die Puhdys hätten wir auch noch genau so am Hals, in allen Punkten war auf die DDR eben auch kein Verlass. Dafür jedoch: Es gäbe heute nicht diesen ganzen grauenhaften Ostalgie-Quatsch, dieses Gewese um Ampelmännchen und grüne Pfeile und Sandmännchen und Rotkäppchen und Club-Cola, dieses Gejammer über den angeblich besseren Zusammenhalt und die größere menschliche Wärme, diese unendlichen Ost-West-Diskussionen, Tausende und Abertausende langweiliger Sonntagsreden und Essays und Dossiers wären nie entstanden, keine Bücher, die Titel tragen wie »So lachte die DDR« oder »So kochte der Osten« oder »So nackich und glücklich waren wir alle«. Aber, vor allem und ganz sicher: Wir müssten diesen ganzen unsäglichen 20-Jahre-Mauerfall-Quatsch nicht ertragen. Es hätte also, zusammengefasst, viel Gutes, stünde die Mauer noch so, wie sie stand.

Andererseits: Dank des Mauerfalls gibt es einen Staat weniger auf der Welt, und zwar einen besonders unangenehmen. Und das ist doch immerhin was. Jetzt müsste uns nur noch was für die ca. 190 anderen einfallen.

Heiko Werning

 

Das Leben der anderen

Es begab sich aber im Jahre 15 nach dem Ereignis, das als »Wiedervereinigung« in die deutsche Geschichte eingehen sollte, dass mir ein Autor aus der Zone das Lektorat seines Buches antrug. Die Schwierigkeit bestand dabei weniger im Lektorieren als solchem als darin, den Autor zur Herausgabe des Manuskripts resp. überhaupt erst mal zum Schreiben zu bewegen. (Geregelte Arbeitszeiten, Disziplin und Fleiß waren in der DDR bekanntlich Fremdworte.) Zu diesem Zweck ließ ich mir einige mehr oder weniger legale Mahntechniken und Antiprokrastinierpraktiken einfallen, in denen ich in den folgenden gefühlten Jahren der »Zusammenarbeit« eine Meisterschaft entwickelte. Gern entsandte ich den Autor auch zu dubiosen Veranstaltungen oder setzte ihn auf mir im Zusammenhang mit dem Buchthema verdächtig erscheinende Personen (Bürgerrechtler, Feuilletonisten) an. Womit ich mir im – zu meinem größten Erstaunen – tatsächlich irgendwann erschienenen Buch die Danksagung einhandelte: »An meine Lektorin und langjährige Führungsoffizierin«.

Als ich dann das Produkt einer potentiellen Lesungsveranstalterin aus Dresden zueignete, kam die Antwort postwendend: »Liebe Frau Hofmann, heute kam das Buch an, vielen Dank. Da ich beim Blättern gestolpert bin: Was bedeutet Führungsoffizierin in Bezug auf Sie, wie ist das zu verstehen?«

Ich versicherte daraufhin, dass es sich bei der Formulierung um einen (mir selbst völlig unverständlichen) Scherz des Autors handeln müsse. Im Übrigen sei, da ich zur Zeit der Wende noch eine westdeutsche Schule besuchte, eine Führungstätigkeit bei der Stasi für mich schwerlich in Betracht gekommen.

Woraufhin meine vorlaute Freundin Bea sofort einwandte: »Wieso? Die Merkel hat schließlich auch schon als Schülerin die DDR christlich unterwandert.« Aus der Lesung wurde dann jedenfalls nichts. Aber die Idee vom Leben der anderen, der IM in mir, ließ mich nicht mehr los. Wäre die Mauer nicht gefallen, was hätte ich in der DDR aus meinem Leben und den neuentdeckten Fähigkeiten machen können?

Ein Hoffnungsschimmer kam ausgerechnet aus Plön am See, ebenjenem westdeutschen Kaff, das unter Admiral Dönitz kurz vor Kriegsende Reichshauptstadt gewesen war und in dem ich, statt im Osten angeworben zu werden, zur Schule gehen musste. Dort sollte nun an der Umgehungsstraße eine Lärmschutzwand gebaut werden. Wogegen sich der Ex-Bürgermeister, unterstützt von aufgebrachten Einwohnern, mit dem Argument wehrte, die Stadt dürfe »nicht nach Art der Berliner Mauer geteilt werden«.

Dabei stellte ich mir das zu schön vor: In der Deutschdemokratischen Republik Plön würden wir Seegrundstücksbesitzer enteignen und den Anglerverein verstaatlichen, während im Westteil der Stadt jedem Nörgler ein »Geh doch rüber!« entgegenschmettert würde. Doch auch daraus wurde dann nichts, die Wand wurde bis heute nicht gebaut, und Verstaatlichungspläne gibt’s nur für die Hypo Real Estate. Ehemalige Führungsoffz. sucht neue Herausforderungen.

Marit Hofmann

 

Stadt ohne Reiz

Als die Mauerspechte am Werk waren, war zufällig Marc Dachy bei mir zu Besuch. In Frankreich ist er ein bedeutender Dada-Spezialist. Er hat schon zahlreiche Bücher über dieses Thema herausgegeben und geschrieben. Natürlich pilgerten auch wir zur Mauer und guckten uns die bekloppten Heinis an, die emsig wie Baumarkt­heimwerker auf den Beton einhämmerten. Viel besser als an dieses Bild erinnere ich mich an den einteiligen Schlafanzug von Marc Dachy, mit dem er aussah, als sei er direkt einem Buch von Wilhelm Busch entsprungen. Über ihn konnte ich mich viel mehr amüsieren als über die johlende Menge, von der ich damals nicht so recht wusste, was ich von ihr halten sollte, die mir aber unheimlich war und die ich deshalb mit dem Blick eines Ethnologen betrachtete. Mit Marc Dachy und viel gutem Willen einigte ich mich darauf, das Ganze als eine Art Happening zu betrachten. Unter einer Revolution stellte ich mir jedenfalls etwas anderes vor, als mit staatlicher Duldung auf einem Bauwerk herumzuklopfen, das sowieso zum Abriss freigegeben worden war, dem man in Wirklichkeit aber viel verdankte. Es hatte einem nämlich die Zonis vom Leib gehalten, die man ja dann auch prompt am Hals hatte, die auf dem Ku’damm einfielen, das Begrüßungsgeld abgriffen und Beate Uhse belagerten. Ich will das nicht verurteilen, Menschen sind gierig auf Konsum, jeder kann das an sich selbst nachvollziehen, aber deshalb muss man es noch lange nicht gut finden. Die Zonis waren mir seit je her als unan­genehme Zeitgenossen in Erinnerung, als ästhetische Zumutung und als zuverlässige Volks­genossen in einer immer etwas zu engen, über dem Schwabbelbauch spannenden und auf Hochwasser stehenden Uniform in dezentem Mausgrau. Unvergesslich auch der von nagendem Neid säuerliche und miesepetrige Befehlston an der ehemaligen Grenze, dieses unnachahmliche, in der SED-Eintopfsprache geblaffte »Gänsefleisch den Goffärraum aufmach’n«, mit dem sie mich als Berlin-Reisenden drangsalierten. Und auch meine Tagesausflüge nach Ostberlin waren unglaublich deprimierend. Wie konnte man scharf darauf sein, sich mit diesen komischen Leuten zu vereinigen, die ja in einer harmonischen Symbiose mit dem »Cordhütchen-Sozialismus« (Wiglaf Droste) lebten? Was, bitteschön, ist so großartig daran, dass die Mauer eingerissen wurde? Ohne nostalgisch zu werden und sich die alten Zustände zurückzuwünschen: Berlin hat viel an Reiz verloren. Westberlin hatte einen ganz besonderen Status. Es war ein echtes Biotop, eine Insel der Glückseligkeit. Abgeschirmt von der sonstigen Unbill der Welt, hielten die Alliierten ihre schützende Hand über die Stadt, die durch eine einzigartige historische Konstellation zustandegekommen war, und sie hatte eine echte Attraktion zu bieten. Heute unterscheidet sie sich durch nichts mehr von irgendeiner anderen Metropole. Hätte man ein Dach auf die Mauer gesetzt, wäre Westberlin eine geschlossene Anstalt gewesen. Heute ist die Anstalt offen. Ein schöner Anblick ist es nicht. Überall laufen einem Politiker, Touristen, Muttis und Journalisten über den Weg, und die Zonis sind auch nicht zivilisierter geworden. Früher wurde wenigstens noch jede Menge Geld in die Stadt gepumpt. Und heute? Eine Stadt, die pleite ist, und ein Senat, der der lächerlichen Vorstellung anhängt, mit dem Suhrkamp-Verlag ließe sich Kultur nach Berlin importieren.

Klaus Bittermann

 

Papas Berufsehre

Opa war Fliesenleger auf der Stalinallee. Papa war Maurer. Unter seinen Sachen fand ich mal ein Buch von Viktor Gladkow mit dem Titel »Zement«.

Seine Vorliebe für den Baustoff dauert bis heute an – Blumenkübel, Wände, Fensterbretter, nicht zu vergessen die große Mauer um den Hof. Was soll man sagen, Papa und der Zement sind für die Ewigkeit gemacht. Passt, wackelt und hat Luft. War es ein Wunder, dass mir die Tränen in die Augen traten, als ein Bauwerk namens Mauer abgerissen wurde?

Als die Mauer fiel, dachten wir nicht allzu viel. Wir studierten Germanistik in Bonn und saßen für die LUST, die »Liste Undogmatischer StudentInnen«, im Studierendenparlament. Es gab da Gruppen, die begrüßten, dass die chinesische Armee mit dem Panzer über den Platz des himm­lischen Friedens fuhr. Das hat dem Sozialismus nicht unbedingt credits eingebracht. Im Gegensatz zu wohl beinahe jeder anderen Führung der Welt ließ diejenige der DDR nicht auf ihre Bürger schießen. Arbeiter schießen auf Arbeiter, nein, nicht im Arbeiterstaat. Obwohl, die Organe, sie hatten durchaus zuvor bewiesen, dass sie dazu imstande gewesen wären. Die Frage, ob die Mauer nicht besser stehen geblieben wäre, war schnell beantwortet: Unter den Händen der Mauerspechte mit ihren großen und kleinen Hämmern siechte, oder besser: sichelte sie schnell dahin und flog als Staub in alle Windrichtungen. Da staunte nicht nur der Westen, sondern auch der Osten. Dass das so einfach gewesen war. Wir wissen, was daraus wurde: Von deutschem Boden ist seitdem wieder Krieg ausgegangen, vorher waren von dort nur die dafür benötigten Waffen geliefert worden. Es ist zu erwarten, dass in den in diesem Jahr vom Generalangriffsfeuilleton posthum vorgetragenen Angriffen auf das Bauwerk auch diesmal von der gewesenen deutschen Teilung lamentiert wird, die den für das Nationalstaatsterritorium Deutschland historisch einzigartigen Vorteil hatte, dass die Fanatiker hüben und drüben aufeinander losgehen konnten. Ein angenehmes Leben jedenfalls sah wohl anders aus.

Vielleicht hätten meine Vorfahren, wenn sie nicht auch aus dem Osten geflohen wären, die Mauer gemauert. Dann wäre, bei der Berufsehre von Opa und Papa geschworen, das Ding vielleicht nicht so schnell zusammengefallen. Die Wand, die die beiden einst um den Hof gezogen haben, steht jedenfalls immer noch.

Das muss man sich mal vorstellen: Die Arbeitermacht baut eine Mauer, die nach nicht einmal 28 Jahren auseinanderfällt. Der Tower steht heute noch – genau wie Stuttgart-Stammheim. Offensichtlich ist es so, dass der Kapitalismus eindeutig die besseren Gefängnisse und Schutzwälle baut.

Was von den Resten der Mauer noch steht, wird übrigens derzeit grundsaniert. Die Leute die vor 20 Jahren diese nun »East Side Gallery« geheißene Backstein-Barrikade bemalt haben, können nun noch mal anrücken, etwa jener russische Künstler, der den zwischen Honecker und Breschnew ausgetauschten Bruderkuss verewigte. Denn das Bauwerk wird sandgestrahlt und mit Tiefgrund zum Halten gebracht. Nun dürfen sie die Bilder erneut draufmalen. Auf dass sich Honecker und Breschnew weitere 20 Jahre küssen.

Jürgen Kiontke