Geschichten von untauschbaren Dingen

Angst und Eigentum

Heiko Werning, Knud Kohr, Vanessa Wieser, Elke Wittich, Thomas Blum und andere erzählen Geschichten von untauschbaren Dingen.

80 Mücken für einen Frosch
Ich will nicht verhehlen, dass ich ein wenig stolz darauf bin, dass das Lieblingskuscheltier meines älteren Sohnes ein Frosch ist. Ein kuschliger Handpuppenfrosch aus der Kuschelwuschelserie von Karstadt mit dem daher präzisen Namen: Kuschel. Aus irgendeinem Grund erwählte unser Sohn ihn zielsicher unter einer Armada diverser Stoffhunde, -bären und anderer Kuschelsäuger. So wurde er zum treusten Begleiter eines kleinen Kinderlebens.
Die entscheidenden Dinge sagt einem ja keiner vorher, und so gingen wir anfangs an die Kuschelproblematik recht unbedarft heran und versäumten die wichtige Technik, die uns Elternveteranen hinterher als ganz selbstverständlich erläuterten, nämlich diverse Klone des Lieblingskuscheltiers regelmäßig hinter dem Rücken des Kindes auszutauschen, damit sie alle gleichermaßen altern und somit austauschbar bleiben. Das haben wir verpasst, und so ist Kuschel ein unersetzliches Unikat geworden.
Entsprechend risikoreich ist der Umgang. Während einer Recherchereise durch den amerikanischen Südwesten achteten wir streng darauf, dass Kuschel das Auto nicht verlassen durfte. Zu groß die Gefahr, ihn in einer Felsspalte in einem gottverdammten Wüstencanyon zu vergessen.
Und dann passierte es doch. Am letzten Tag. Bei der Abgabe des Wagens in Mesa. Es fiel uns erst nachts im Flughafenhotel von Phoenix auf: »Wo ist Kuschel?« Lähmend stand die Frage im Raum, wir sahen uns erst kurz ratlos, dann zunehmend entsetzt an. Das Flugzeug startete am nächsten Morgen. Wir setzten auf den Autoverleiher und hofften, er könnte ihn nachschicken, obwohl der Sohn ankündigte, er würde das Land ohne Frosch auf keinen Fall verlassen. Am Flughafen am nächsten Morgen bekamen wir den Verleiher ans Telefon. Er war hörbar irritiert, versprach aber, nach dem Frosch zu suchen. Uns war klar: Genauso gut könnten wir darauf hoffen, er käme von selbst zurück. Anderthalb Stunden noch bis zum Abflug, das Gepäck eingecheckt, Mesa ist 20 Autominuten entfernt – das müsste reichen.
Der Taxifahrer war erfreut über den Auftrag. Klar, Mesa hin und zurück und zwischendurch warten, das mache er gerne. Sehr gerne. Er stellte sich unterwegs als Bulgare vor. Amerika sei ein großartiges Land zum Geldmachen, verkündete er. Natürlich wolle er zurück nach Bulgarien, es sei ihm hier viel zu heiß, aber in keinem anderen Land der Welt könne man als Einwanderer so gut Geld machen wie in Amerika. Besorgt starrte ich auf das Taxameter. Als Bul­gare habe man im Leben im Grunde nur eine Chance, wenn man nach Amerika gehe. Ein paar Jahre noch, dann habe er genug Geld, um zurückzukehren. Das Taxameter glühte.
Beim Verleiher begann ich mit der systematischen Kuschelerhebung. Zuerst beim Mann von der Autorückgabe, ein Mexikaner.
»Did you find yesterday … äh … a green frog?«
»A frog?«
»A frog. For kids. A Kuschelfrog. Äh, a frog for petting? You understand?«
»A frog for petting?« Er starrte mich an. Vielleicht auf Spanisch?
»Una ranita? De textilo? Para … äh, para los niños?«
»Kermit?«
»No, no Kermit, otra ranita.«
Nein, er habe weder Kermit noch einen anderen Frosch gefunden. Daheim, in Guadalajara, gebe es viele Frösche, jeden Abend könne man sie an den Wänden des Patio sehen, aber hier sei Arizona, hier gebe es keine Frösche. Er wolle ja bald zurück nach Mexiko, sobald er genug Geld gemacht habe. Da sei es nicht so trocken, das gefalle den Fröschen besser, und seiner Familie auch. Er verwies mich an die Dame vom Empfang, die sei aus Mérida, da gebe es auch viele Frösche, und die würde mitbekommen, wenn etwas von den Reinigungskräften gefunden würde. Aber die reinigten äußerst schlecht, weil sie aus Osteuropa seien, und wenn sie den Frosch gefunden hätten, hätten sie ihn bestimmt weggeworfen. Besorgt schaute ich auf die Uhr und eilte in die Eingangshalle.
Die Frau aus Mérida sah mich verständnislos an: »A frog? For petting?«
Ich erzählte die Geschichte: dreijähriger Sohn, Lieblingstier, Rückflug. Sie war alarmiert. Eine ihrer Töchter, die habe eine Lieblingskuh, eine ganz kleine aus Stoff. Dann verlor sie keine Zeit und rief per Handy die Leute der Reinigungstruppe an, ich sollte mir aber keine großen Hoffnungen machen, die seien aus Osteuropa.
In der Zwischenzeit begann ich selbst mit der Suche, in der Halle waren zur Dekoration einige Zelte aufgestellt, und da, unter der Isomatte – tatsächlich: Kuschel! Glücklich streifte ich ihn über die Hand, ließ ihn der Empfangsfrau fröhlich zum Abschied winken und eilte zum Taxi. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel und lachte auf: »A frog? You came here for a frog?«
»Yes, exactly. My son forgot it here, yesterday!«
Er deutete auf das Taxameter: »80 bucks! You will come out at 80 bucks. 80 bucks for a frog! You could buy a dozen frogs for 80 bucks!«
»Yes, but not this particular frog.« Freudestrahlend hielt ich das Gesicht mit den ergrauten Augen und dem verschlissenen Fell in den Rückspiegel. Er nickte zufrieden, während er Gas gab und sich in aberwitzigen Manövern durch die acht Autobahnspuren Richtung Tempe schlängelte. »You can’t buy everything for money«, sagte er nachdenklich.
»Yes, that’s true.«
»There is no easier place to make bucks than here, but you can’t buy everything for bucks. One day I go back to Bulgaria. When I’ve made enough bucks.«
Vorher aber nahm er noch 80 Bucks von mir. Wir nickten uns zum Abschied freundlich zu. Ich solle Europa grüßen, trug er mir noch auf.
Was hiermit erledigt sei.
Heiko Werning

Leihgabe von Benny
Der Gegenstand, den ich auf keinen Fall verschenken, tauschen oder auch nur verleihen würde, habe ich gerade eben aus einem Bücherregal in meinem Büro gezogen und für die Zeit des Schreibens neben meinen Computer gelegt. Es handelt sich um den historischen Roman »Leonardo da Vinci« von Dimitri Mereschkowski, genauer gesagt, um dessen 19., ins Deutsche übersetzte Auflage von 1911. Gelesen habe ich ihn nie. Aber wie er in meinen Besitz gekommen ist, daran kann ich mich noch genau erinnern.
Im Jahr 2000 war ich im Auftrag eines Reisemagazins mit einem Fotografen namens Edgar unterwegs, ein Stadtportrait von Washington zu recherchieren. Dafür hatten wir sechs Tage Zeit. Keine Zeit also, den Jetlag auszukurieren. Am zweiten Tag schlug die Müdigkeit zu.
Als ich zum zweiten Mal auf dem Beifahrersitz einschlief, während Edgar uns auf der Suche nach empfehlenswerten Cafés und Restaurants mit dem Mietwagen durch die Innenstadt kutschierte, bremste er scharf. »Wenn du schnarchen willst, Knud, dann mach das in dem Laden da. Ich hole dich in einer Stunde oder so wieder ab.«
An der Fassade von »dem Laden da« stand »Café Riche«.
Jenseits der Fassade war ein mäßig gepflegter Schankraum mit wenigen Tischen. Die Wände waren vollgestellt mit Bücherregalen. Über dem Durchgang zur Küche hatte jemand mit Kreide in schwungvollen Lettern »Fuck off« geschrieben. Der mutmaßliche Verfasser dieser Botschaft saß hinter dem Tresen und beobachtete mich misstrauisch. Ein kleinerer, nicht mehr ganz junger Mann mit dunklen Haaren und auf den ersten Blick unbestimmbarer Herkunft. »Beer? Wine? A shot?« fragte er. »Diet Coke. No ice, please«, antwortete ich. Sein Blick verfinsterte sich. Er stellte das Gewünschte auf den Tresen und sprach kein weiteres Wort.
Es hatte schon entspanntere Situationen gegeben als die, in der ich mich gerade befand. Allein und todmüde in einem unbekannten Ca­fé, 8 000 Kilometer von zu Hause entfernt, finster beobachtet und gezwungen, auf den Fotografen zu warten.
Um irgendetwas zu tun, wandte ich mich dem Bücherregal hinter mir zu und zog den Roman von Mereschkowski hervor.
»Deutsch«, dachte ich erstaunt. »German«, sagte ich erstaunt. »Do you speak German?«
»Only a few words«, sagte der Mann hinter dem Tresen und sah plötzlich weniger mürrisch aus. »And you like books?«
»I own some thousand«, antwortete ich, aus taktischen Gründen ein wenig übertreibend. Plötzlich stand ungefragt eine neue Cola neben mir. »On the house.«
Zwei Stunden später wusste ich, dass der Wirt Benny hieß und aus Marokko stammte. Neben Arabisch und Englisch sprach er Russisch, Spanisch und Italienisch. Auf einmal sah ich mich 8 000 Kilometer von zu Hause in eine Debatte darüber verwickelt, warum ich es wagen konnte, E. T. A. Hoffmann lieber zu lesen als den jungen Goethe. Währenddessen tauchten ein paar Angestellte der finnischen Botschaft im Café auf. »Nehmt euch was zu trinken und zahlt so viel ihr wollt«. Offenbar wollte Benny sich nicht durch so etwas Banales wie den Erwerb des eigenen Lebensunterhalts aus dem Gespräch reißen lassen.
Als Edgar erschien, saßen ein Nachbar und zwei junge Algerier mit an unserem Tisch. Letztere schickte Benny allerdings von Zeit zu Zeit in die Küche. Irgendjemand musste sich ja schließlich um die Zubereitung des Couscous kümmern, das er an diesem Abend verkaufen wollte.
Mich und Edgar ließ er erst gehen, nachdem wir versprochen hatten, am kommenden Tag noch einmal vorbeizuschauen.
Mittags saß Benny an einem Tisch auf dem Bürgersteig und war damit beschäftigt, seine Hosenbeine oberhalb der Knie mit einer Geflügelschere abzuschneiden.
»You forgot your book«, überreichte er mir den da-Vinci-Roman. »Bring back next time.«
Seit 13 Jahren liegt das Buch nun in meinem Büroregal. Von Zeit zu Zeit recherchiere ich im Internet, ob es Neues aus dem Café Riche gibt.
»I hope, Benny is ok. Does anyone know what happened to him?« Diese Nachricht von 2012 war die letzte, die ich finden konnte. Sein Buch werde ich trotzdem nie aus der Hand geben.
Knud Kohr

Kommt mit seinen Garben
Es kommt nicht alle Tage vor, dass Getreide zu einem spricht. Doch direkt vor mir auf meinem Schreibtisch stehen vier Cerealienvertreter und flehen: »Liebe Marit, bitte benutze uns Ähren, die Opa Pulpo am 30. Juli 2010 mit der Nagelschere schnitt, als Vergleich mit jenen Ähren, die der O’pa (das Höh’re Wesen geebs) im Sommer 2011 (wieder vor Ribbeck) schneiden wird. Wir Ähren dankens Dir im V.A.Bereich.« So steht’s (mit Olympia Carrera de luxe) geschrieben auf einem Papierwimpel, der um einen Haferhalm gewickelt und per Heftklammer befes­tigt ist.
Verehrte Ähren, seit Sommer 2010 resp. Sommer 2011 steht Ihr nun also an meinem Arbeitsplatz, und – so viel sei schon im Vorabbereich gesagt – ich möchte Euch nicht mehr missen. Einmal im Jahr stach den Dichter Horst Tomayer, der sich selbst seit ein paar Jahren gern Opa Pulpo nannte, der Hafer, und er musste auf große Fahrt gehen. Auf seiner berühmten tour de force von Hamburg nach Berlin pflegte der Turboradler in der Gemeinde Ribbeck im Havelland, nein, keine Birnen, sondern Halme wie Euch zu pflücken. Nicht mich allein bedachte er mit seinen Garben, auch Arzthelferinnen, Buchhändlerinnen und Supermarktkassiererinnen durften sich Eurer glücklich schätzen. Einen Blumenladen hat Horst Tomayer zeitlebens nie betreten. Warum auch? Da muss ich mich dem Dichter anschließen, so ein Getreideensemble »sieht gut aus! Mal was andres als das Zeuch von Blume Zwotausend oder aus der Tanke.«
Der rasende Reporter ließ uns darbende Großstadtkinder an seinen Abenteuern teilhaben und brachte die Jahreszeiten in meine karge Redaktionsstube: aus öffentlichen Rabatten befreite Narzissen und Weidenkätzchen zu Ostern, im Spätsommer die ersten Pilze, im Herbst von seinem eigenen Patenbaum gepflückte Äpfel und pralles Korn wie Euch im Julei. Und ich habe Euer Flüstern erhört und Euch verglichen: Da wäre der liebreizende glockenblumenartige Hafer und der schnörkellos geradlinige Weizen von 2010, denen im Sommer drauf extravagante Gerste mit ihren langen Grannen den Rang streitig zu machen suchte.
In diesem Jahr blieben die Lieferungen krankheitsbedingt aus. »Ich befinde mich im neunten Monat gesättigter Apathie«, schrieb der Dichter im September in seinem »Ehrlichen Tagebuch« in Konkret, »entbehre des Saftes und der Kraft, um es einmal umgangssprachlich zu sagen, und weiß bei bestem Willen und Wollen nicht, wo der Tank für den Treibstoff steht.«
Auch Ihr lasst mittlerweile die Köpfe etwas hängen. Doch während für Horst Tomayer vor allem sein Fahrrad »unters Verleihtabu« fiel, würde ich Euch Ähren niemals weggeben. Ob der den meisten der Tomayerschen Gaben innewohnenden Vergänglichkeit stellt sich allerdings das Problem der Konservierung. Blumen verblühten, Stinkmorchelarrangements mussten wegen Geruchsentwicklung und Schrumplungseffekten irgendwann dem Müll übergeben werden oder fielen Putzteufeln zum Opfer. Die zuckernen Buchstaben eines mit »Garten der Frauen« beschrifteten Lebkuchenherzes, das Opa Pulpo einem Landfrauenverein abschwatzte, bröckeln. Doch Platten- und Uhrensammeln kann jeder, und sei er dumm wie Bohnenstroh – Ährenhochhalten ist eine wahre Herausforderung. Ob ich Euch aus der Wasserflasche, in der Ihr steht, eines Tages in ein eigens angelegtes Herbarium werde evakuieren müssen? Sicher bleibt: Ich werde Euch Ähren in Ehren halten.
Marit Hofmann
Die Autorin hatte gehofft, daß Horst Tomayer das Erscheinen dieses Textes, dessen frühe Fassung er wenige Tage vor seinem Tod las, noch erleben würde.

Ode an meine Wohnung
Ich hänge an Menschen, an Dingen nicht so sehr. Da gibt es nichts, was ich nicht weggeben könnte. Doch: meine Wohnung!
Denn ich liebe meine Wohnung. Sie hat 60 Quadratmeter, sie liegt in Wien, in einer Gegend, wo sonst nicht viel los ist, was mir mittlerweile wurscht ist, weil ich eh schon für zwei Menschenleben in Lokalen gesessen bin, und immer wenn ich nach Hause komme, begrüße ich sie. »Hallo, Wohnung!« »Hallo, Vanessa!« Ich mag ihren Grundriss, ich mag, dass sie im Winter so schnell warm wird, ich mag das Schlafzimmer so gern, weil es ein Eckzimmer ist, und dass das Klo ein eigenes Räumchen hat, fand ich immer schon gediegen. Sie ist hell, meine Wohnung, und obwohl vorm Haus zwei Straßenbahnlinien sind, dichten die Fenster doch so gut ab, dass es drinnen leise ist.
Ich bewohne sie jetzt schon so lang – nie, nie hätte ich beim Einzug gedacht, dass ich so lang drin wohnen würde. Alles begann damit, dass meine Mutter mir eröffnete, sie wolle eine Wohnung in Wien kaufen, um ihr Erspartes gut anzulegen. Ich war baff, denn Mutter spricht sonst ungern über ihre Kohle (über Geld im Allgemeinen aber dauernd), und ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so viel locker hat, dass es für so was Großes reicht. Die Aussicht, in einer Eigentumswohnung zu leben und keine Miete zahlen zu müssen: wie ein Lottogewinn. Flugs schaute ich mir einige Objekte an und schnell war die Geeignete gefunden. Das ist jetzt 16 Jahre her –
Beim Einziehen wollte ich alles eher sporadisch halten, weil ich doch dachte, dass ich da sicher nicht länger als … einige Jahre drin wäre, weil das Leben doch so unvorhersehbar ist und nur nicht die Zukunft planen etc. Mutter wollte teure Außenjalousien anbringen lassen, weil es im Sommer doch ziemlich auf die Außenmauern heizt, aber ich war dagegen, denn wer weiß, wie lange … Wie wäre ich heutzutage froh über diese Jalousien! Nur: Jetzt kann ich mir keine leisten, und der Kontakt zu Mutter ist mittlerweile abgebrochen, sie spendiert mir also auch keine mehr.
Ja, der Kontakt zu Mutter ist seit vier Jahren mehr als sporadisch, Großmutters Tod konnte die Beziehung zwischen ihr und mir auch nicht entspannen. Ein Drama, diese Familie.
Und weil Mutter mir noch immer nicht traut und unheimlich auf ihrem Geld sitzt, gehört die Wohnung immer noch ihr, und nicht mir. Keine Ahnung, ob sie mir jemals gehören wird, ich hoffe es, denn im Gegensatz zu Mutter kann ich nur wenig Geld ansparen. In den Goldenen Siebzigern und Achtzigern konnte man in der richtigen Firma noch richtig abcashen, auch ohne Ausbildung, das geht so heute nicht. Meine Zukunft ist ungewiss und das setzt mir auch oft sehr zu. Existenzangst, quasi.
Aber es wird schon gutgehen. Ich bin sowieso der ängstliche Typ. Und auch deshalb ist meine Wohnung mir so wahnsinnig wichtig, weil ich mir doch als Verlegerin niemals die Miete für eine andere Wohnung leisten könnte. Denn die Mieten in Wien sind gigantisch. Was kein Wunder ist, legen doch alle, die Geld haben, dieses in Immobilienfonds an und freuen sich einen Haxen aus, wenn es mehr wird. Kein Wunder also, dass die Mieten immer astronomischer werden. Hängen wir ja alle drin, in dem Scheiß.
Fazit: Eigenheim ist schön, Eigentum noch mehr. Liebet eure Wohnungen wie euch selbst.
Vanessa Wieser

Chinesische Erfahrungen in Amerika
In meinem Portemonnaie habe ich eine Klarsichthülle, in der ich meinen sogenannten Personalausweis aufbewahre, zudem noch zwei kleine Fotos, gegebenenfalls Briefmarken, ein Liebesbriefchen, ein Klebebildchen (»Igel«), einen 10-Yuan-Schein mit Mao Tse-tung (man kann sein Gesicht so knicken, dass er bei einer Kippbewegung anfängt zu lachen), ein Papierschnipsel mit dem Satz »Tikkun olam« auf He­bräisch und eine Sammlung von 16 Glückskekssprüchen. Halbwegs Sinn machen diese Dinge freilich nur in der Konstellation von biographischen Stationen, die sie in diese Klarsichthülle brachten. Klar ist freilich: An sich machen irgendwelche Bildchen und Zettelchen keinen Sinn, die Glückskekssprüche sowieso nicht. Ohnehin kann ich von den 16 Sprüchen nur noch drei eindeutig zuordnen, die ich nämlich vor etwa 20 Jahren auf Papier geklebt und mit Folie überzogen habe: Sie sind aus Amerika, Kalifornien, aus China-Restaurants in San Francisco, arbiträre Erinnerungen an ein Auslandsstudienjahr Anfang der Neun­ziger. Ich habe sie aufbewahrt; noch nie dachte ich daran, sie wegzuwerfen (wo ich eigentlich sehr ordentlich bin und regelmäßig das Portemonnaie von alten Kassenbons, Fahrscheinen, Quittungen säubere). Niemals würde ich die Glückskekssprüche verschenken oder tauschen. Vielleicht trage ich sie bei mir nach Regeln einer geheimen Privatmagie; sie ist aber so geheim, dass ich die Regeln selbst nicht kenne. Die Fotos, das Liebesbriefchen – ja, das sind Fetische, solchen Bildern und Schriftstücken kommt eine Kraft zu, die sich nur dem zeigt, der um ihre Bedeutung weiß – die wiederum nur dem Eingeweihten zugänglich ist.
Bei den Glückskekssprüchen ist es etwas anders: Sie versprechen das von jeder Metaphysik befreite Glück – ein chinesisches Glück, das nach der hohen Kunst chinesischer Ästhetik sich soweit als Fake erweist, dass es nicht einmal chinesisch ist: Glückskekse kommen nicht aus China, waren dort sogar bis Ende der achtziger Jahre weitgehend unbekannt, sondern haben sich – über Ursprünge in Japan und eingeführt von japanischen Immigranten – in Kalifornien durch die beliebte amerikanisierte chinesische Küche als Beigabe eben in China-Restaurants durchgesetzt. Noch in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts wurde das Gebäck zur japanischen Teezeremonie gereicht. Wahrscheinlich sind Glückskekse dann aber zumal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch beliebt geworden durch die Esoterikwelle, auf der auch der Glaube an fernöstliche und irgendwie in China-Restaurants präsente Weisheit schwamm: Das Gesamtpaket dieser invented tradition, bestehend aus allem zwischen exotischen Schriftzeichen, goldenen Drachen, Goldfisch- und Guppy-Aquarien, sphärischen Tempelklängen als Hintergrundmusik und eben Glückskeksen, funktioniert nach westlicher Ideologie viel besser in der imaginären Verbindung mit China als mit Dänemark oder Brasi­lien. Zur Ideologie der Glückskekse gehört nämlich auch, passend zu den Vorstellungen von Taoismus, Ying und Yang oder Konfuzius, dass die Extreme sich berühren: Ein Satz wie »You have an unusual magnetic personality« lässt sich entweder als unheimlich weise deuten oder als unheimlicher Quatsch. Überhaupt sind Glückskekssprüche Nonsens, bestenfalls ein kryptischer Witz, der sich erst in der Deutung erklärt – und zwar mit umso größeren Sinngehalt, je mehr der Spruch von der unmittelbaren Empirie widerlegt wird: »You will have a large family.« Da frage ich mich zwei Jahrzehnte später, was da wohl »Familie« meinen könnte, oder »groß«.
Dennoch: Meistens fragt man sich ja gar nichts, liest den Spruch nach dem Essen, vielleicht zur Erheiterung oder aus Langeweile, allen am Tisch vor und schmeißt ihn dann weg – oder bewahrt ihn auf. Merken tut man sich solche Sätze kaum. Warum auch? Eben das ist das Versprechen eines von jeder Metaphysik befreiten Glücks – dass die Illusion solcher chinesischen Weisheiten nur verpackt in fortune cookies funktioniert, also eher auf eine spielerische Überraschung abzielt, die das uramerikanische pursuit of happiness aber unangetastet lässt. Zwar gibt es Glückskekse für unterschiedliche, auch traurige Anlässe, doch wird es in den Sprüchen nie wirklich ernst. Wenn es doch Wahrheiten gibt, dann sind es Bagatellen: »To think too long about doing a thing often becomes its undoing.« Das ist meine chinesische Erfahrung in Amerika, die für mich ihre Bedeutung erst Jahre später offenbarte: eine Konstellation, die sich jenseits der Klarsichthülle in meinem Portemonnaie zeigt, in einem Nachthimmel, der schon damals in Amerika derselbe war wie heute in Europa. Dazu gehört der Wunsch, auf der Rückseite jedes Glückskekszettels Hegels Sätze zu drucken: »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.«
Gregor Katzenberg

Alles Schrott
In einem Moment, in dem ich wohl nicht ganz bei mir war, gab ich meine Zusage, zu der Beantwortung der Frage, was man nicht verschenken solle, etwas beizutragen. Eine Frage, der man sich nicht einmal mit der standardisierten Auslegung des Aphorismus 21 aus Adornos »Minima Moralia« entziehen kann, weil es da bekanntlich ums Schenken und nicht ums Nicht­schenken geht. Nachdem ich also 15 Minuten vor der leeren Seite mit dem blinkenden Cursor saß und mit mir rang, ob ich mir die Blöße geben solle, Google zu starten und die Suchbegriffe Geschenk, schenken, Adorno oder auch Nietzsche (der, wie Adorno, zu allem etwas mehr oder minder Kluges, vor allem aber sehr viel geschrieben hat) einzutippen und zu hoffen, dass mir eines der Suchergebnisse das Denken abnehme, mich letztlich aber doch dagegen entschied, ließ ich den Blick durch meine luxuriöse Neuköllner Acht-Quadratmeter-Schlaf-, Arbeits- und Wohnzelle schweifen, wobei es mit dem Schweifen nicht weit her ist. Was in diesem Raum würde ich nicht verschenken wollen? Meinen Schreibtisch, Kiefer lackiert, der mich seit dem 14. Lebensjahr begleitet und nur um ein paar Kerben, Resultate der psychischen Bearbeitungen der monatlichen Kontoauszüge, und Rotweinflecke reicher geworden ist, ansonsten aber immer noch so schäbig ist, wie es allein Kiefer lackiert sein kann? Meine Bücher, unter denen sich nicht einmal eine besonders schöne oder seltene Ausgabe befindet, sondern die in der Regel schlecht gebundene Taschenbücher mit einem Mängelexemplarstempel am Schnitt sind? Meine Kleider, eine Auswahl der H & M-Kollektionen der vergangenen Jahre, in jenem grauen Farbton, den schwarze H & M-Kleidungsstücke nach der dritten Wäsche anzunehmen pflegen? Irgendwie ist das alles austauschbarer Schrott und noch nicht mal der beste. Alles in diesem Raum würde ich sofort weggeben. Ich hänge nicht an den Dingen, die ich so gehortet habe. Aber jedes Einzelne wäre eine ausgesprochene Beleidigung der beschenkten Person. Nicht unbedingt das beste Argument fürs Nichtschenken. – Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht, ist der Schluss der Betrachtung. Als denkendes Subjekt habe ich die Nichtigkeit der physischen Welt erkannt und fühle mich auch recht erhaben dabei. Anderseits wäre es mir ohne das nichtige Gebrauchswertensemble – denn tauschen kann man den Kram nun wirklich nicht mehr – in meinem Zimmer furchtbar elend, und die Vorstellung, völlig mit mir allein zu sein, löst nicht unbedingt die freudigsten Empfindungen aus. Dazu kommt die schmerzhafte Erkenntnis, dass auch ich, als denkendes Subjekt, Teil der physischen Welt bin, auch ich vergehe, mal schneller, mal langsamer, und einmal endgültig. Vom ersten Zweifel geht nur der »Weg der Verzweiflung« (Hegel) aus.
Wenn also die gegenständliche Welt nicht wesentlich im Sinne von unvergänglich ist, ich als denkendes Subjekt aber auch nicht, sieht es wohl mit Wesen und Erscheinung etwas anders aus, als das Alltagsbewusstsein behauptet. Falsch ist, dass wesentlich nur ist, was immer währt, und unwesentlich, was vergeht. Mit den Nichtigkeiten scheint es mehr auf sich zu haben. Walter Benjamin verwendet in »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« einmal das Bild der Muschel, des Weichtiers, das an der gegenständlichen Welt seine Form gewinnt. Die Muschel, weder wesentlich Weichtier noch wesentlich Gehäuse, aber wesentlich in der Vermittlung beider, ist das Bild der sich an der gegenständlichen Welt bildenden Individualität. So betrachtet, sind die Dinge, die mein Zimmer bevölkern, nicht zu verschenken, weil ihnen in ihrer Schäbigkeit doch auch ein Moment des Auratischen zukommt. An dieser Stelle ist die Nähe zum privatsprachlichen Solipsismus besonders stark, denn die Erklärung, was nun die eine, ganz bestimmte Anstreichung in dem einen, ganz bestimmten Buch bedeutet, kann kaum Allgemeingültigkeit beanspruchen. Die Treue zu den Gegenständen weiß um deren Defizienz und Bedeutung zugleich. Wer sich der gegenständlichen Welt öffnet, wird auch ihre volle Reichhaltigkeit haben wollen. Die volle Reichhaltigkeit ist noch Utopie, die Treue zu den Gegenständen ihr Vorschein.
Jakob Hayner

Kein Punkrock mehr fürs Dorf
»The KKK t … k my baby a … y, they t … k her away, a … y from me.« Kratzer, Sprünge. Erschütternd. »Sheena is a p … rocker.«
Bei meinem letzten Umzug ist mir ein kleines, grünes Büchlein in die Hände geraten, in das ich zwischen 1991 und 1998 all meine Schallplattenneuerwerbungen eingetragen habe, völlig verdrängt über die Jahre, aber rückblickend der Briefmarkensammlerseele meiner Kindheit entsprechend. Schallplatten als Briefmarkenersatz, als neue, bunte Fahrkarten aus der Dorfwelt heraus, jedes Ticket datiert und registriert. Am 14. 3. 1992: The Ramones: Mania. Eine Best-of-Doppel-LP der New Yorker, die Songs zum Großteil vor meiner Geburt aufgenommen, gekauft im Plattenladen Rockpile in Mainz, vom spärlichen Taschengeld. Erste Punkrockplatte und, klar, Erleuchtung kurz vor Ostern, life changing, Erschütterung der kleinen Dorfwelt und Ausgangspunkt für so vieles Folgende. Eine Erfahrung, zu gut, um sie für mich zu behalten. So wandert das Album durch die Klasse 7b meines Kleinstadtgymnasiums am Fuß der Loreley, von Sebastian über Jens zu Lena, von Daniel zu Florian, danach zu Natalie, Nellie und Nina, dazwischen durch unzählige weitere Jugendzimmer, um auf Kassetten überspielt zu werden und den Eltern ein »Judy is a Punk« entgegenzuschreien. Wochen später kommt der Punkrockbumerang zurück zu mir, Knicke und Risse im Cover. Egal, denke ich, Punkrock ist ja was anderes – das hatte ich gelernt –, und lege sofort nach der Schule das lange vermisste Popkulturgut auf meinen Plattenspieler. Und wieder eine life changing experience: »First rule is: The … of Germany/Second rule is: be … to mommy/Third rule is: … to commies/Fourth rule is: eat kosher ...« (wohl auch deswegen brauchte ich weitere 20 Jahre, um die Genialität von Ramones-Texten wertschätzen zu können). Ins grüne Büchlein kommt der Vermerk »zerkratzt« zum Kaufeintrag, verbunden mit der Entscheidung: kein Punkrock mehr fürs Dorf. Zumindest nicht mehr mein eigener. Meine Alben gehören mir, und Kratzer sind noch schlimmer als das Hauptproblem meines Kinderhobbys: eine beschädigte Zähnung der Briefmarken.
Seitdem habe ich, soweit ich mich erinnere, keine Schallplatten mehr aus der Hand gegeben, die immer größere Sammlung weiterhin im grünen Büchlein dokumentiert – der Buchhalter ist der wahre Punkrocker. Auch nachdem der Absprung aus dem Dorf vollzogen war, die Einträge nachließen und schließlich ganz erstarben, blieb es bei der einmal getroffenen Entscheidung. Heute stehen die Ramones noch immer im Wohnzimmer, das jedoch nunmehr von Büchern dominiert ist – und die teile ich jederzeit und gerne mit der Welt, die Gefahr von Knicken, Kritzeleien und anderem in Kauf nehmend (stimmt natürlich auch nicht ganz, Schernikaus »Legende« zum Beispiel würde ich niemals, nie verleihen).
Platten nerven bei Umzügen am meisten, und kurz vor meinem letzten saß zufällig ein Freund meines Sohnes im Ramones-T-Shirt im Wohnzimmer. Ich witterte die Gelegenheit zur Überwindung meines Schallplattentraumas inkl. Gewichterleichterung für die Umzugshelfer. Die Band kannte er nicht, das T-Shirt gibt’s bei H & M, und er wollte die Platte, meine erste lebensverändernde Kaufentscheidung, noch nicht mal geschenkt. Dann behalte ich sie eben für weitere 20 Jahre. Vermutlich hätte ich das Geschenk an die nachwachsende Generation ohnehin spätestens eine Stunde später bereut. Es gibt Schlimmeres als solche seltsamen Ticks. Und Wichtigeres als Schallplatten. Und zum Glück immer noch und wieder Schallplatten, die das Leben, zumindest für eine halbe Stunde, verändern. Das kann ich mittlerweile auch ohne Eintrag ins Bestandsbuch genießen, vielleicht hat ja der Punkrock über die Jahre meine Buchhalterseele zermürbt. Trotzdem: Ich müsste mal wieder schauen, ob mit meiner Briefmarkensammlung alles in Ordnung ist.
Jonas Engelmann

Der verschenkte Spiegel
Einer Freundin, von der ich gerne glauben wollte, sie könne meine Freundin sein, obwohl ich nach einer Weile schon spürte und wusste, dass es nicht möglich sei, schenkte ich einmal einen quadratischen Spiegel. Er war von der Größe eines Rahmens, der gut einen Menschenkopf umfassen könnte, und ich fertigte ihn selbst an, indem ich auf eine Glasscheibe schwarze Ölfarbe dick auftrug. Die Farbschicht war aber nicht geschlossen, sondern wies feine Lücken auf, die ich mit einem tiefem Blau und selbst gemischtem dunklen Grün ausfüllte, nachdem das Schwarz getrocknet war. Die schwarze Farbe wiederum übermalte ich auf der Farbseite ganz mit den kräftigen Blau- und Grüntönen. Diese Seite wirkte wie ein tiefes, ruhiges Meer, die andere, gläserne Seite aber wie verfinstert, obwohl die Meeresfarben vom Hintergrund durchschimmerten. Im Glas spiegelte sich vage das Gesicht, wenn man hineinblickte. In die rechte untere Ecke der Rückseite hatte ich auf die Öl­farben ein kleines Blatt Papier geklebt, darauf stand: »A mirror only reflects/what you show to it./What you show to it/can only be reflected.«
Die Freundin hatte mir zuvor erzählt, wie ihre Eltern sich oft gestritten hätten, als sie noch ein Kind war, und wie sie oft an ihrem Schreibtisch gelernt und sich die Ohren zugehalten oder über Kopfhörer laute Musik gehört habe, um das Streiten und Schreien nicht zu hören. Auch dass sie unsäglich viel Wut in sich trage, das ängstige sie manchmal selbst. Als ich sie kennenlernte, fiel mir eine Tätowierung in ihrem Nacken auf, und ich fragte, ob ich sie mir ansehen könne und was sie bedeute. Die Tätowierung ist ein gerader, schwarzer Strich, nicht einmal so breit wie ein kleiner Finger, der vom Hals beinahe bis zum Gesäß reicht, und sie sagte, das sei eine Erinnerung an die vielen Tränen, die sie im vergangenen Jahr geweint habe nach dem dramatischen Ende einer Beziehung.
Eines Abends viel später saßen wir zusammen in einer Bar und sie erklärte mir, dass sie nur dann jemanden attraktiv finden könne, wenn derjenige ihr das Gefühl gebe, selbst anziehend zu sein; indem sie spiegele, was der andere ihr vermittle, könne sie erst Leidenschaft empfinden, von sich aus fühle sie das nicht. Sie saß beim Reden ganz dicht neben mir und ich blickte sie erstaunt und befremdet an, und während ich ihre angenehme Wärme spürte, wusste ich zugleich, dass ich sie nie berühren könnte. Und dass ich das in Wahrheit auch nicht wollte – in Wirklichkeit schon. In dem Moment war ich über den Abstand, der damit festgeschrieben wurde, sehr traurig, über meine Klarheit darüber aber seltsam erleichtert. Danach irgendwann schenkte ich ihr den Spiegel und sie freute sich darüber. Er landete wenig später in einer Tasche mit anderen Sachen unter dem Bett, danach habe ich ihn nie mehr gesehen und sie hat nie ein Wort darüber verloren.
Vor einer Weile hat sie beschlossen, normal zu werden: Was ihr begegne, wolle sie erst einmal offen und positiv betrachten, das ganze Leben als ein Spiel ansehen und nicht mehr darüber urteilen. Und sie wolle auch nicht mehr mit negativen Menschen zu tun haben, sondern mit einfachen. Das zu hören und ein paar der Menschen zu erleben, die sie als ihre Freunde bezeichnet, erfüllte mich mit Unbehagen und tiefem Unverständnis. Nun empfinde sie mir gegenüber aber ähnlich, teilte sie mir mit, als ich von meinem Befinden erzählte, denn ich hätte ein gar engstirniges Weltverständnis, von dem aus ich zu hochmütigen Urteilen käme – gleichwohl doch Urteilen überhaupt falsch sei und den mannigfaltigen Erfahrungen und Entscheidungen der Menschen, die ja stets nur von sich ausgehen könnten, nicht gerecht werde. Sie verabschiedete sich nach dem darauf folgenden kurzen Wortgefecht mit dem Vorwurf, ich sei nicht besser als die Diktatoren, die ich kritisieren würde. Nach diesen Worten blickte ich ihr in einer Mischung aus Ernüchterung und Gekränktheit schweigend nach. Es gibt sehr vieles, was ich ihr gern verständlich machen würde, aber in Wahrheit hat sie daran kein Interesse; so wenig wie daran, die Bedeutung meines Geschenks zu ergründen. Wenn sie gerade das, was an Wahrheit, Glück und Erfüllung gemahnt, als Bedroh­ung und Anmaßung empfindet, erschreckt sie mich mit dieser Haltung nicht minder. Vielleicht wird sie später den Spiegel noch einmal hervorkramen, in der Hoffnung, etwas Vertrautes darin zu entdecken, das sich doch nicht enthüllt. Vielleicht liegt aber auch darin zu viel Hoffnung.
Bettina Fellmann

Riecht nach Liebeskummertränen
So ein bisschen albern ist dieses »würde ich nie im Leben hergeben« ja schon, denn ganz oft braucht es nur veränderte Lebensumstände, technische Fortschritte oder auch nur neue Moden, und schon wird aus dem geliebten Dingens etwas unerhört Rückständiges, Unbrauchbares, Scheußliches – und so sind die Müllkippen voll mit Sachen, die einst für unverzichtbar gehalten und dann ganz einfach fortgeworfen wurden. Natürlich gibt es Ausnahmen, meinen Teddy zum Beispiel. Daran, wie er in mein Leben getreten ist, kann ich mich nicht erinnern, weil ich erst einen Tag alt war, aber wie die Familie übereinstimmend berichtete, war es damals, als mein Onkel ihn mir beim ersten Besuch ins Babybettchen legte, Abneigung auf den ersten Blick. Wobei Abneigung wohl ein Euphemismus ist: Ich konnte das blöde Scheißvieh nicht ausstehen, und das ungefähr zweieinhalb Jahre lang. Und dann kam der Tag, der alles änderte: Afrah, Omas ansonsten bemerkenswert gutmütiger Airdale-Terrier, schnappte sich den Teddy und verbuddelte ihn im Garten. Zwischen zwei Tannen, wo er vielleicht heute noch liegen würde, wenn ich nicht plötzlich entschieden hätte, dass ein weiteres Leben ohne ihn zwar möglich, aber nicht erstrebenswert wäre, und energisch Teddys Wiederbeschaffung verlangte. Der umgehend losgeschickte familiäre Suchtrupp grub das nunmehr geliebte Viech wieder aus und seither sind wir unzertrennlich, Teddy und ich. Naja, so ganz stimmt das nicht. Er darf nicht überallhin mit, weil er schon ziemlich kaputtgeliebt ist. Netterweise fanden sich im Laufe seines bisherigen Lebens zwar immer wieder Leute, die ihn geflickt haben (sogar mein Bruder hat einige sehr hübsche Frotteeflicken auf ihm hinterlassen, sozusagen als tätige Reue, nachdem er eine meiner Barbies geköpft hatte), aber jede weitere Reparaturarbeit würde die historischen Näharbeiten zerstören, und das geht natürlich nicht. Außerdem hat Teddy ein gebrochenes Bein, weshalb er ein geruhsames Leben im Regal neben dem Bett führen muss. Nur ganz manchmal darf er allerdings doch mit. Damals zum Beispiel, als von der IG Medien irgendwie nochmal versucht wurde, zwischen der Jungen Welt und uns doch noch eine Schlichtung hinzubekommen, kam er mit, nach der Gesamtlage gucken. Was nicht jeden der Kollegen freute, weil das alles ja so unglaublich wichtig war, und wie sieht das denn aus, wenn ein Teddy dabei ist, so einen kindischen Quatsch meinst du doch nicht ernst, oder? Oh wohl. Tat Teddy nämlich echt mal gut, zu sehen, dass er es besitzertechnisch viel schlimmer hätte treffen können als mit mir. Und nein, er muss auch jetzt nicht immer bloß im Regal sitzen. Manchmal wird er ein bisschen geknuddelt. Und es wird an ihm gerochen, er riecht nämlich nach Kindheit und Liebeskummertränen und nach allem, wonach viel beanspruchte Teddys so riechen. Und ganz manchmal bekommt er neue Anziehsachen. Früher trug Teddy wahlweise das Blümchenkleid einer sehr verhassten Puppe (die nicht lachte, weshalb ich praktisch sofort nach dem Auspacken ihren Mund mit einer Nagelschere beidseitig zu einem Lächeln verbreitern wollte, mit dem Erfolg, dass ich danach eine nichtlachende Puppe mit Schmissen im Gesicht hatte) oder einen von Oma gestrickten Overall, aber die Sachen sind schon lange kaputt. Da man ja nie so genau weiß, ob Teddy nicht doch friert, bekam er letztens einen Pullover gehäkelt, genauer: Es wurde so lange um ihn herum gehäkelt, bis etwas Pulloverähnliches entstand. Eine Hose hat er allerdings nicht gehandarbeitet bekommen – aber das ist auch nicht so schlimm, denn Teddy hat mittlerweile einen eigenen Twitteraccount (@ElqueesTeddy) und dadurch Kontakt zu anderen Teddys, die zwar schicke Oberbekleidung wie Lederjacken, aber auch alle keine Hosen haben. Ach ja, Teddy heißt natürlich im wirklichen Leben nicht Teddy, sondern anders, aber wie, das geht niemanden was an, denn auch Kuscheltiere haben das Recht auf ihre Privatsphäre. Und ich würde ihn niemals hergeben. Für nichts in der Welt.
Elke Wittich

Concert of the Moment
Ich habe eine schöne Kindheit gehabt, und eine schöne Jugend. Ich weiß nicht zu sagen, ob es eine wirklich glückliche Zeit war, aber sie war so erfüllt und, wie mir immer wieder schien, in einem philosophischen Sinne von Kairos auch gelungen, dass es mir, trotz einiger schmerz­licher Unglücks- und Todesfälle plus kleinbürgerlicher Enge und kleinfamiliärer Zwänge, doch möglich ist, von meiner Kindheit und Jugend ein für mich noch heute gültiges Bild zu gewinnen. Dazu gehören ein erst spät erworbener Plattenspieler (VEB Bruns, kompakt mit Verstärker und Boxen) und die ersten beiden Schallplatten, selbst gekauft: Grobschnitt, »Razzia« (eigentlich sollte es »Illegal« sein, das Album gab es aber gerade nicht) und The Clash, »London Calling«. Ich weiß nicht, wo diese Platten geblieben sind, aber ich hätte sie gerne wieder. Vermutlich habe ich sie in einem Gesamtpaket aus Geldnot in späteren Jahren, aber noch in den Achtzigern, verkauft. Zu diesem Paket gehörten auch folgende Platten, die ich ebenfalls gerne wiederhätte: zwei Platten von Ton Steine Scherben, drei Platten von Checkpoint Charlie, eine Platte von Betoncombo, »Penis Envy« von Crass, »Fresh Fruit for Rotting Vegetables« von Dead Kennedys und vor allem die dänische 3-LP-Compilation »Concert of the Moment« mit dem wunderhübschen Grölpunk-Song »Øllllll« (also »Biiiiiier«) von Usch.
Vielleicht hat aber auch gerade das Verschwinden dieser Schallplatten aus meinem Leben zum später in der Kindheit und Jugend erkannten Glück beigetragen; vielleicht musste das bisschen Punk aus meinem Leben zumindest in Form von Schallplatten raus. Gerade dann möchte ich aber, einmal mehr, diese Platten gerne wiederhaben. Ich sage übrigens weder wiederbesitzen noch wiederkaufen – vielleicht geht es mir darum, sie einfach nur mal wieder in meinen Händen zu halten.  So wie ich heute Platten in den Händen halte, die ich auch vor fast drei Jahrzehnten schon in den Händen hielt. Zum Beispiel die Live-Doppel-LP »Made in Japan« von Deep Purple. Auf dem Cover steht mit Kugelschreiber in Schreibschrift »Klaus Ramcke«. Wer wirklich Punk war, brauchte in den Achtzigern selbstverständlich Deep Purple nicht mehr. Ich hingegen freue mich über die Platte und die Musik, damals wie heute. Ramcke spielte schon 1985 in der Mod-Band Chocolate Factory, später bei Les Robespierres, dann bei den 3 Normal Beatles. Mittlerweile hat er den Nachnamen seiner Frau angenommen, lebt in Berkeley, lehrt an der Universität Philosophie und ist Aristoteles-Spezialist.
Übrigens habe ich seit dem Verlust der Platten nie wieder eine weggegeben; im Gegenteil: Fast jedes Album, das sonst niemand mehr haben will, findet in meiner Sammlung seinen Platz. Die Lücken, die der Punk hinterlassen hat, sind mittlerweile mit Aufnahmen barocker Kammer- und Tafelmusik gefüllt. Telemann und Buxtehude spielen jetzt in der Adventszeit; und diese Musik ist es, die mich überhaupt an meine Kindheit und Jugend denken ließ, an dänisches Bier, ein bisschen Punk und ein »Smoke on the Water«, schließlich Berkeley und die linksaristotelische Kategorie der Möglichkeit. Hätte ich meine alten Platten noch, wäre ich nicht darauf gekommen.
Coco Kleinohr
Das geb’ ich nicht her
Wenn ich eine Flaschenuhr besäße, würde ich mich gewiss eher heute als morgen von ihr trennen. »Flaschenuhren« werden derzeit in einem Geschäft in Berlin-Charlottenburg, das für sich in Anspruch nimmt, hochwertige Kunstgegenstände zu verkaufen, zu etwa 40 Euro das Stück angeboten.
Bei einer Flaschenuhr handelt es sich um ein sogenanntes Designerstück, genauer gesagt um eine leere Jägermeister-, Likör- oder Whiskyflasche, die mittels eines mir unbekannten handwerklich-technischen Verfahrens so bearbeitet wurde, dass sie wie geplättet aussieht, ihre einstige Flaschenförmigkeit vom Betrachter aber noch zu erahnen ist. Auf ihrer Vorderseite, über dem Flaschenetikett, wurde ein Zifferblatt aus Vollplastik appliziert.
Der Berliner liebt derlei Kunst. Er weiß es nicht besser. Und man kann ihm das auch nicht vorwerfen. Denn der Berliner ist ein schlichtes Gemüt. Seit Jahrhunderten lebt der Berliner in einem Brandenburger Regenloch und ernährt sich genügsam und stolz von Erzeugnissen von klärschlammartiger Konsistenz, und bis heute ist ihm daran nichts aufgefallen. Vermutlich hält er die »Flaschenuhr« für die erstaunlichste Errungenschaft der modernen Zivilisation oder für ein Kunstwerk, wie es seit der Erfindung der preußischen Pickelhaube keines mehr gab.
Dass von den »Flaschenuhren« Stücker zwanzig im Schaufenster liegen und im Lager des Geschäfts vermutlich noch weitere 200, lässt mich jedenfalls annehmen, dass eine nicht unerhebliche Zahl erwachsener, offiziell zurechnungsfähiger, wahlberechtigter Menschen bereit ist, ohne zu murren oder schreiend davonzulaufen (was außerhalb Berlins die natürliche Reaktion eines zum Denken befähigten Menschen wäre) 40 Euro für eine leere, kaputtgeschmolzene Glasflasche mit Plastikziffernblatt auszugeben.
Es ist und bleibt eine seltsame, fremde Welt da draußen, die, so ist zu befürchten, auch die uns nachfolgenden Generationen nie vollständig zu enträtseln in der Lage sein werden, zumal dann diese Pisa-Opfer sowieso dumm wie Brot sein werden.
Neben der Flaschenuhr wurde in unserem Testbezirk Berlin-Charlottenburg auch allerlei anderer Plunder zur Vorweihnachtszeit stapelweise zu drolligen Phantasiepreisen angeboten. In einem Kaufhaus entdeckte ich dort neulich unter dem allem Anschein nach tatsächlich ernst gemeinten Schild »Geschenke für IHN« eine Art Gabentisch, der regelrecht überhäuft war mit Hunderten kleinen Schachteln, die jeweils wahlweise eine abgeschmackte Krawatte, eine neonfarbene Armbanduhr, drei Paar hässlich gemusterte Socken, einen mit silbernem Tand versehenen, scheußlichen Kunstledergürtel oder ein übelriechendes Parfüm enthielten, dessen Name dem Anwender das Gefühl geben soll, er sei der potenteste Stier in Europas größter Rinderbesamungsanlage. Homme Wild! Absolute Man! Minotaure! Only the Brave! Offenbar ist man in Kreisen der warenproduzierenden Industrie der Ansicht, dass es sich beim durchschnittlichen mitteleuropäischen Mann um eine Art brünftigen Kleiderständer handelt, dem nichts wichtiger sein könne als ein schäbiger, geknoteter Stofflappen um den Hals und die Uhrzeit. Und das Beste daran ist: Das stimmt ja auch!
Unter keinen Umständen würde ich derlei Gegenstände, befänden sie sich jemals in meinem Besitz, an Freundinnen oder Freunde hergeben. Seien es nun Flaschenuhren, Krawatten, Armbanduhren, Sockensortimente, Kunstledergürtel oder Parfüms. Die Beschenkten könnten schlimmstenfalls denken, ich wolle sie für etwas Unverzeihliches, das sie mir angetan hätten, bestrafen. Daher gilt: Alles anzünden. Braucht kein Mensch, den Scheiß.
Thomas Blum