Die politische und soziale Lage in Mali

Regierung ohne Strategie

In Mali häufen sich die politischen und sozialen Probleme. Der Süden wurde von einem Generalstreik erschüttert, die Verhandlungen mit Tuareg-Organisationen und jihadistischen Milizen, die den Norden unsicher machen, kommen kaum voran.

Einen Geschwindigkeitsrekord dürfte der Zug in naher Zukunft nicht aufstellen, auf der Strecke ist das Tempo derzeit auf 39 Stundenkilometer beschränkt. Aber die Bahnlinie von Bamako nach Kayes, in die 600 Kilometer entfernte Regionalhauptstadt im Westen Malis in der Nähe der senegalesischen und mauretanischen Grenze, ist ein unverzichtbarer Verkehrsweg. Viele Dörfer und Siedlungen wären ohne den Zug von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Und dabei geht es nicht nur um Transportmöglichkeiten für Passagiere und Frachtgut wie Hirsesäcke und andere Güter, die man in den Städten zu verkaufen sucht. An jedem Halt kommen Leute aus den Dörfern, meist Frauen und Heranwachsende, zu Dutzenden an den Zug und versuchen, ihre Produkte feilzubieten: Eier, Maniokwurzeln, Bananen, Früchte vom Karitébaum oder Schnitzhandwerk, aber auch Wasserflaschen finden Absatz. Auch morgens früh um drei Uhr ziehen die Dorfbewohner im Licht der Taschenlampen an den einfahrenden Zug. Für viele von ihnen ist es die wichtige Bargeldquelle, ansonsten bauen sie vorwiegend für die Selbstversorgung oder den Tausch an.
Der erste Zug auf der Bahnlinie »von Dakar an den Nigerfluss« verkehrte 1903. Fertiggestellt wurde die Strecke zwischen Dakar und Bamako, den heutigen Hauptstädten von Senegal und Mali, im damaligen »Französisch-Westafrika« (AOF) im Jahr 1928. Später wurde sie um rund 60 Kilometer nach Osten verlängert, bis nach Koulikoro am Fluss Niger, nordöstlich der Hauptstadt von Mali. Dort war eine der Fabriken angesiedelt, mit denen das Land unter seinem staatssozialistisch-antikolonial orientierten ersten Präsidenten Modibo Keita – er regierte von der Unabhängigkeit 1960 bis zu einem Armeeputsch im November 1968 – versuchte, eine eigene Industrie aufzubauen. In acht Sektoren wurden unter Modibo Keita Schlüsselindustrien errichtet, die dem Land tatsächlich eine wirtschaftliche Grundlage verliehen. Und einige darüber hinausweisende, zum Teil utopische Planungen sahen sogar die Errichtung von Atomkraftwerken mit sowjetischer Hilfe in Nioro und Gao vor, woraus zum Glück nichts wurde.

Privatisierungen
In Koulikoro siedelte sich die »Huileries et cottonneries du Mali« (Öl- und Baumwollverarbeitung von Mali), kurz Huicoma, an, eine Staatsfirma, in der Speiseöl sowie die Ausgangsprodukte für Seifen aus Baumwollkernen gewonnen wurden. Die Huicoma ist heute geschlossen, wie viele frühere Staatsbetriebe, die das Land aus der strukturellen Unterentwicklung befreien sollten, in der Frankreich es lange gehalten hatte. Die frühere Kolonialmacht nutzte Mali vor allem als Standort für Monokulturen von Baumwolle und Erdnüssen. Die Huicoma wurde zum Opfer der Privatisierungen der vergangenen 20 Jahre, die oft vom Internationalen Währungsfonds (IWF) angeregt wurden. Die Firma wurde nicht von internationalen Investoren aufgekauft, sondern von einem einheimischen Geschäftsmann, der über mafiöse Verbindungen zum Staat verfügte. Er schlachtete den Betrieb aus, bereicherte sich am Verkauf der ihm kostenlos überlassenen Reserven an Waren und Rohstoffen und führte das Unternehmen in den Ruin. Die dort beschäftigten Arbeiter führten allerdings ab 2008 einen jahrelangen Kampf, bei dem sie zumindest substantielle Abfindungszahlungen erstreiten konnten und der in der Region im Gedächtnis blieb. Jüngst kündigte die Regierung an, mit Staatsgeldern den Betrieb der Huicoma sogar wieder aufnehmen zu wollen.
Dem Bahnunternehmen erging es nicht viel besser. Die berühmte Bahnlinie kann von Passagieren vom Osten her heute nur noch bis Kayes genutzt werden. Danach verkehrt der Zug, der ins senegalesische Tambacounda und weiter nach Dakar führt, nur noch für den Gütertransport. Die Linie wurde im vorigen Jahrzehnt ebenfalls privatisiert. Der Übernehmer, der neue Betreiber Transrail, wies zeitweise französische, belgische und kanadische Kapitaleigner auf, die heutigen Eigentümer gehören zum Umfeld des früheren wirtschaftsliberalen senegalesischen Präsidenten Abdoulaye Wade.
Einer, der sich dieser Entwicklung vehement widersetzt hat, ist der frühere Eisenbahningenieur Tiécoura Traoré. Seit 2003 prangerte der 60jährige, der 1991 im damaligen Leningrad über das Eisenbahnwesen promovierte, die bevorstehende Privatisierung der Eisenbahn an. In seinen Augen nimmt es die Staatsmacht in Kauf, dieses wichtige Verkehrsmittel in Mali ganz zu liquidieren: Viele Berater des damaligen Präsidenten Ahmadou Toumani Touré hätten wirtschaftliche Interessen an privaten Busunternehmen, sagt er, und der Ruin eines früher als wesentlich für die Entwicklung des Landes betrachteten Verkehrsmittels störe sie daher nicht. Mangels Investitionen werde, »wenn in den nächsten Jahren nichts passiert«, die Bahn in Mali mittelfristig vor dem Ende stehen, ruiniert von den sukzessiven Regierungen. »Ein Widerspruch in dem Moment, wo offiziell eine neue Bahnlinie von der guineischen Hauptstadt Conakry nach Bamako geplant wird«, um weitere Teile Westafrikas anzubinden.

Vor der Staatspleite?
Von der Regierung und generell von der Politik erwarten die meisten Menschen in Mali keinerlei Verbesserung ihrer sozialen Lage. Der vor einem Jahr gewählte Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keita hat die anfänglichen Hoffnungen der allermeisten Menschen auf einen Neuanfang enttäuscht. Im Alltag trifft man kaum einen Menschen, der sich positiv über ihn äußern würde. »Versager« und »Lügner« sind häufig wiederkehrende Titulierungen. In den vergangenen Monaten erregte Keite einen Skandal, indem er ein zweites Präsidentenflugzeug von Airbus kaufte, weil er mit der bisherigen Präsidentenmaschine unzufrieden war. Die beim Kauf eingeschalteten Mittelsmänner waren korrupt, Kommissionszahlungen wurden abgezweigt. Deshalb erklärten der IWF, die Europäischen Union und die US-Regierung ihre Verärgerung. Die Unterstützungszahlungen für den malischen Staatshaushalt wurden eingestellt, dem Staat droht daher noch im September die Zahlungsunfähigkeit. Die Löhne und Gehälter sind vorerst nur noch bis zum Jahresende gesichert. Mali ist nach wie vor von Kreditgebern und ihren Konditionen abhängig, und diesee Abhängigkeit hat sich in jüngster Zeit noch versärkt. Im Zusammenhang mit der französischen militärischen Intervention im vergangenen Jahr hatten die »Freunde Malis« im Mai 2013 in Brüssel Unterstützungszahlungen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Damals waren sie der malischen Bevölkerung allgemein als einseitige Hilfszahlungen angekündigt worden, doch hinterher stellte sich heraus, dass ein Teil davon konditionierte Kredite sind. Eine der Hauptkonditionen ist, dass Mali die Zahlung der bisherigen Auslandsschulden zur Priorität erhebt, auf Kosten von Haushaltsposten auch etwa für das Bildungs- oder das Gesundheitswesen.

Zwei Tage Generalstreik
Vor diesem Hintergrund ist auch der Generalstreik zu sehen, den der Gewerkschaftsdachverband UNTM am 21. und 22. August abhielt. Unter den Staatsbediensteten, aber auch in anderen Berufsgruppen in formalisierten Beschäftigungsverhältnissen und mit regulären Arbeitsverträgen – die neben der großen Gruppe der Prekären sowie informell Beschäftigten existieren – soll er angeblich zu 99 Prozent befolgt worden sein. Vor allem die Ministerien wurden lahmgelegt, teilweise auch der Fleischgroßhandel, die Züge verkehrten nicht. Zwar ist die UNTM eine bürokratische und jedenfalls an der Spitze mit der Staatsmacht verbundene Organisation und auf keinen Fall eine radikale Opposition; die Bahnprivatisierung hat sie etwa umstandslos begleitet. Doch der Druck der Basis veranlasste den neuen Vorstand, der erst seit wenigen Monaten im Amt ist, zu diesem demonstrativen Schritt. Gefordert wurden höhere Löhne für die der Staatsbediensteten, aber auch andere soziale Maßnahmen, die neben den Gehaltsempfängern auch die übrige Bevölkerung betreffen, etwa eine Senkung der Wasser- sowie Strompreise. Letztere stiegen jüngst um rund 20 Prozent, weil der IWF die Staatsmacht aufforderte, die Subventionierung der Energiepreise für die überwiegend arme Bevölkerung einzustellen. Es wurde keine Einigung über die Forderungen erzielt.

Zwischen Sezession und Jihad
Neben der sozialen Frage ist eines der heikelsten Themen für die Regierung derzeit der Umgang mit dem Norden, aus dem die Jihadisten durch die französische Intervention vom vergangenen Jahr mehrheitlich vertrieben wurden. Aber immer noch halten sich dort bewaffnete Gruppen, die zwischen Jihadismus und überwiegend ökonomisch motivierter Bandenkriminalität oszillieren. Nach wie vor sind die drei nördlichen Regionen Timbuktu, Gao und vor allem Kidal hochgradig instabil. Am Mittwoch voriger Woche etwa zerstörten mutmaßliche Jihadisten ein Camp der UN-Truppe für Mali (Minusma) in Aguelhok im Bezirk Kidal. Die malischen Streitkräfte zogen sich aus der Gegend vorerst zurück.
Am Montag wurden die Verhandlungen in Algier wiederaufgenommen, bei denen 40 Delegierte der malischen Staatsmacht sowie »Organisationen der Zivilgesellschaft« – etwa Zusammenschlüsse von NGOs – einerseits, die bewaffneten Gruppen andererseits vertreten sind. Dabei handelt es sich um die Bewegungen von nordmalischen Tuareg (MNLA) und Arabern (MAA) sowie die »Bewegung für die Einheit von Azawad« (HCUA), die eher die Islamisten vor allem der malischen Bewegung Ansar Dine – »Anhänger der Religion« – als zivile Vorfeldorganisation repräsentiert. Diese vertritt auch die Interessen jener Jihadisten, etwa von al-Qaida in Nordafrika (AQMI), die formal nicht teilnehmen.
Nach einer ersten Verhandlungsrunde, die Anfang August abgeschlossen wurde, soll nunmehr die zweite von insgesamt drei Runden eröffnet werden. Vertreter des malischen Staates haben dazu erklärt, zwei Dinge seien »unverhandelbar«: die politische Einheit der Republik sowie deren laizistischer Charakter. Am Donnerstag voriger Woche stritten sich die bewaffneten Gruppen bei einem gemeinsamen Treffen in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou darüber, ob diese Rahmenbedingungen akzeptabel seien. Während Tuareg-Gruppen eher auf der Forderung nach einer Regionalisierung Malis insistieren, erklärte ein Teil der Islamisten die Bedingung einer Aufrechterhaltung der Laizität für inakzeptabel. Dennoch einigten die sieben in Ouagadougou vertreteten Gruppen – unter ihnen HCUA, MAA und MNLA – sich am Ende darauf, sie wollten bei den Verhandlungen in Algier »mit nur einer Stimme sprechen«.
Die Tuareg-Sezessionisten des MNLA als stärkste bewaffnete Formation fordern insbesondere die Eingliederung von 3 000 Mann ihrer Truppen in die malische Armee sowie 100 Generalsposten, was eine Verdoppelung der Generalität bedeuten würde. Zudem soll die Einrichtung von Militärzonen verhandelt werden, wobei den aus dem MNLA rekrutierten Armeeeinheiten bestimmte Zonen reserviert würden. Ein ähnlicher Zustand bestand seit dem letzten, 2006 in Algier geschlossenen Abkommen mit bewaffneten Gruppen aus Nordmali und bis zum akuten Ausbruch der Krise im Winter 2011/12, als der MNLA mit aus dem libyschen Bürgerkrieg importiertem Militärgerät den bewaffneten Kampf aufnahm.
Gegenüber der Bevölkerung in Südmali, die die hellhäutigeren Bewohner Nordmalis aus historischen Gründen als »Sklavenhalter« wahrnimmt – was sie zum Teil noch sind – , forderte eine NGO von Schwarzen aus Nordmali namens Temedt erst bei einer Pressekonferenz im Internationalen Konferenzzentrum von Bamako am 14. August dieses Jahres die definitive Abschaffung der Sklaverei in Mali. Dies wird jedoch nur schwer durchzusetzen sein. Bereits die jüngst als Gegenleistung an die bewaffneten Gruppen erfolgte Freilassung von Gefangenen, etwa des ehemaligen islamistischen Polizeichefs von Gao und später des islamistischen Scharfrichters von Timbuktu, Houka Houka Ag Alfousseyni, wurde von vielen als Provokation gesehen. Alfousseyni zeichnete für Amputationsstrafen verantwortlich und kam am 15. Juli zusammen mit 41 weiteren Häftlingen frei. 20 Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen wandten sich Ende vergangener Woche daher in einer Presseerklärung gegen die »Straflosigkeit« für solche Kriminelle.
Der Versuch der Regierung, unter Druck und Vermittlung der Nachbarländer Algerien und Burkina Faso sowie Frankreichs zu einem Abschluss zu gelangen und zugleich für die Bevölkerung akzeptable Ergebnisse zu erzielen, ähnelt derzeit einer Quadratur des Kreises. Die Regierung hofft, dem Dilemma zu entkommen, weil die bewaffneten Gruppen durch Konflikte mit »Dissidenten« geschwächt werden könnten. Der MNLA und der MAA erlebten je eine Abspaltung und mit der »Selbstverteidigungsgruppe der Tuareg« (GATA) tauchte eine neue Gruppierung auf. Die älteren bewaffneten Gruppen wehren sich jedoch gegen diesen neuen Konkurrenten und erklären, wer 2012 nicht beim bewaffneten Kampf dabei gewesen sei, dürfe nicht an den Verhandlungen teilnehmen. Der jüngst in Ouagadougou geschlossene Kompromiss dürfte jedoch dafür sorgen, dass die bewaffneten Gruppierungen zusammenarbeiten. Die Staatsmacht verfüge hingegen, wie Professor Issa Ndiaye vom zivilgesellschaftlichen »Bürgerforum« der Jungle World sagte, über »keine Strategie bei den Verhandlungen«.
Die Suche nach einer Lösung dürfte sich also noch schwierig gestalten, auch wenn die malische Regierung plant, bis zum Jahresende ein Abkommen in ihrer Hauptstadt Bamako zu unterzeichnen. Neben der sozialen Situation dürfte auch die Frage nach dem Umgang mit dem Norden noch zu Protesten, auch auf der Straße, Anlass geben. Als Bauernopfer könnte Präsident Keita den amtierenden Premierminister Moussa Mara – der zweite Regierungschef seit der Präsidentschaftswahl vor einem Jahr –, in nächster Zukunft austauschen. Die Bevölkerung dürfte dies kaum beruhigen.